Schulterzuckend hatte ich ‚Berlins‘ Anordnung entgegengenommen.
Ich war es leid, jedes einzige Mal mit ihm auszudiskutieren, was ich nun tun und lassen sollte, und nebenbei hatte ich so vorerst meine Ruhe vor ihm.Außerdem war es mir nicht wichtig genug, für ein paar neue und vor allem abstoßende Masken einen riesigen Aufstand zu veranstalten, geschweige denn, um unsere Gäste gebührend zu verabschieden oder Arturo auf dem OP-Tisch zu verachten.
Da verfolgte ich lieber gemeinsam mit Rio und Tokio die Nachrichten – auf allen Sendern wurde von unserem Überfall berichtet, wir waren schon jetzt zum Zentrum der nationalen Aufmerksamkeit geworden… und bald wären wir die Helden der Bevölkerung, ihre Widerstandskämpfer, die endlich einmal ein Zeichen gegen den Staat, den Kapitalismus setzten.
Eigentlich überraschte es mich, dass sie nicht versuchten, über Freunde und Angehörige zu uns durchzudringen und uns zum Reden zu animieren, immerhin kannten sie die Identität meiner beiden Komplizen, die gebannt mit mir auf den Fernseher starrten.
Oder auch nicht – denn als hätte sie meine Gedanken gehört, blendete die Sprecherin in dieser Sekunde ein Interview mit Rios Eltern ein, der sich sofort ein Stück mehr aufrichtete und unfähig war, wegzusehen.Er wirkte, als wäre er in Hypnose versetzt worden: Als würde er seinen Blick nicht von dem Ding wenden können, sich nicht einmal dagegen wehren können, selbst wenn er es noch so sehr wollte.
„Das reicht“, entschlossen zog Tokio den Stecker und schleppte das Gerät aus dem Raum; damit wir bloß nicht mehr in Versuchung kämen.
Zurück blieben ihr Liebling und ich. Zusammen mit den Bildern, die sich wieder und wieder in unseren Köpfen abspielten – seine Mutter, die beinahe in Tränen ausbrach und ihn anflehte, endlich nachhause zu kommen, und im Gegensatz dazu der Vater, der ihn vor ganz Spanien enterbte.
Es erinnerte mich an manche Tragödien, die ich in den verschiedensten Opernhäusern der Welt aufgeführt hatte. An Tragödien, die vor allem zur Zeit des ‚Sturms und Drangs‘ entstanden waren und die die Übermacht des Hausherrn im Patriarchat im Fokus hatten; der Vater in einem ständigen Zwiespalt zwischen elterlicher Liebe und Strenge, der Rest der Familie unterdrückt und immer bestraft, sobald etwas nicht seinem Willen entsprach.Leer sah Rio an die Decke.
Ich fragte mich, wie ich ihm helfen könnte.
Empathie war noch nie meine große Stärke gewesen, wenn jemand aus meinem Umfeld verletzt wurde, dann unterstützte ich die Person meistens dabei, den Spieß umzudrehen, so einfach war das.Nur konnte ich die Situation immerhin insofern reflektieren, dass mir bewusst war, es würde nichts bringen, beleidigte ich jetzt seinen Papá.
Im Reflex wäre unser Jüngster vermutlich eher auf mich wütend, da er ihn spontan erst einmal verteidigen würde.Umständlich räusperte ich mich, bis er sich verwundert zu mir drehte.
„Hast du was im Hals?“, hakte er besorgt nach.Ich konnte verstehen, was Tokio an ihm fand. Er war so süß und unschuldig, kümmerte sich selbst in seiner größten Aufwühlung um andere.
„Ja, einen riesigen Brocken Hilflosigkeit. Ich weiß nicht, wie ich dir beistehen kann. Sollte ich dir irgendetwas Gutes tun können, sag Bescheid“, ich hasste es mir Schwächen einzugestehen.
Außerdem hasste ich es, dass ich gerade realisierte, dass man mir genau dieselben Probleme an den Kopf werfen könnte, die ich bei Andrés angeführt hatte… und ich hasste es, dass meine Gedanken auch jetzt zu ihm wanderten, obwohl ich eigentlich meine ganze Konzentration auf Rio und seinen Schmerz wenden wollte.„Du stehst mir doch bei. Du bist nicht aus dem Zimmer gerannt“, ein leicht bitterer Unterton schwang in seiner Stimme mit.
Offensichtlich verstand er nicht, dass seine Freundin – oder was auch immer die beiden offiziell waren – das genau für ihn getan hatte.„Hey“, schwach lächelte ich meinen Komplizen an, sprang auf und hielt ihm meine Hand hin.
„Was hältst du davon, wenn wir einfach die ganzen ‚bösen Geister‘ wegtanzen?“In unseren fünf Monaten, die wir uns in Toledo aufgehalten hatten, hatte ich an einem der Abende ihn und Tokio dabei beobachtet, wie sie ausgelassen sich unter dem freien Nachthimmel zu den Klängen eines alten Radios hin- und herbewegt hatten und so glücklich wie selten gewirkt hatten.
Und auch ich brauchte nur ein paar regelmäßige Rhythmen, meine Augen zu schließen und schon bekam ich nichts mehr von der Welt um mich herum mit, wurde eines mit der Musik und konnte einfach entspannen.
„Wie bitte?“, überrascht sah er zu mir auf, nahm aber kurz darauf mein Angebot an und grinste schief.
„Also?“„Ich dachte da an Samba“, vielsagend wackelte ich mit meinen Augenbrauen.
Ungewollt lachte Rio auf – er verstand die Anspielung auf die Herkünfte aus seiner Stadt und nickte schließlich.
„Warum nicht? Du bist doch echt verrückt“.„Nenn es, wie du willst“, gab ich schmunzelnd zurück, zählte vor und stimmte eines der ersten, bekannten Lieder dieser Stilrichtung an: Ary Borrosos Aquarela do Brasil.
Er war ein guter Tanzpartner, hielt fehlerfrei den Rhythmus ein und konnte sich ganz fallenlassen, es regelrecht genießen.
Nach all der Anstrengung in den letzten Stunden war dieses Erleben genau das, was wir beide offensichtlich gebraucht hatten: Kein Stress, keine Personen, die sich in unser Leben einmischten, keinerlei Verpflichtungen.
Wir waren keine Verbrecher, befanden uns nicht inmitten des größten Raubüberfalls der Geschichte, sondern waren nur zwei Menschen, die ihre Freizeit in vollen Zügen ausnutzten.Eine halbe Ewigkeit später saßen wir müde oder eher tiefenentspannt auf einem der Sofas und beobachteten gemeinsam die vielen kleinen bunten Fische im Aquarium, das unser liebster Don Arturo Román hier, in seinem Büro, unserem Besprechungsraum, aufgestellt hatte.
Schmunzelnd zeigte Rio auf ein paar der süßen Tierchen, die fröhlich umherschwammen und fast auch so aussahen, als würden sie tanzen.
„Sieh mal, die machen uns nach!“„Mhhh“, nachdenklich legte ich meinen Kopf schief. „Da müssen sie aber noch ein bisschen üben, bis sie uns das Wasser reichen können. Ein 2/4- oder zumindest 4/4-Takt ist das nicht ganz“.
Leise schnaubte mein Komplize auf und hob betont streng den ‚Lehrerfinger‘.
„Sollte Spaß nicht am wichtigsten sein? Außerdem kann ich dir sagen – Klugscheißer kann niemand ausstehen“.„Bitte?“, erwiderte ich gespielt entsetzt. „Mein armes Herz! Du tust ihm ziemlich weh“.
Stumm sahen wir uns an und prusteten im nächsten Moment lauthals darauf los. Ich hatte exakt Arturitos Tonfall getroffen!Plötzlich verschwand wieder die Leichtigkeit aus seiner Haltung und ein dunkler Schatten fiel über sein Gesicht.
„Der da“, schwerfällig stand Rio auf, lief bis vor zu dem Glaskasten und versuchte, mit seinem Finger den Weg eines kleinen rotgelborangenen Fisches in der Luft nachzufahren.
„Der erinnert mich an mein erstes Haustier, ich habe ihn zu meinem sechsten Geburtstag geschenkt bekommen. Ein Platy, immer in Bewegung und sehr harmoniebedürftig. Er hieß Iñigo, wie das Feuer“, gedankenverloren beobachtete er das süße Kerlchen.Sanft lächelnd stellte ich mich neben ihn.
„Iñigo“, wiederholte ich leise und nickte langsam. „Das ist schön“.„Iñigo war toll, er war sowas wie mein bester Freund. Bis ich irgendwann auf dem Spielplatz gestürzt bin und für eine Woche ins Krankenhaus musste. Mamá ist mir keine Minute von der Seite gewichen und mein Vater sollte währenddessen auf ihn aufpassen. Nur hat er es nicht richtig gemacht und als ich wieder zurückkam, da war er… einfach tot. Ich bin tagelang nicht mehr aus meinem Zimmer gekommen und habe Bilder gemalt, auf denen Papá von einem riesigen Fisch gefressen wurde“, auch jetzt noch wurde Rio emotional, wenn er an damals zurückdachte, und daher erzählte genauso ich ihm Geschichten aus meiner Vergangenheit, meinen Hamstern, die sich immer um die letzte Walnuss gestritten hatten oder meinen Papagei, der sich irgendwann einfach so durch das Fenster vom Acker gemacht hatte.
Dann war wieder er an der Reihe und so ging es weiter und weiter, bis uns tief in der Nacht die Augen zufielen…
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𝐕𝐄𝐍𝐄𝐂𝐈𝐀 | Lᴀ ᴄᴀsᴀ ᴅᴇ ᴘᴀᴘᴇʟ
FanfictionZwei Menschen, die die Aufmerksamkeit lieben. Zwei Menschen, jahrelang unzertrennlich. Zwei Menschen, auseinandergegangen wegen eines „Verrates". Und nun der größte Überfall, der jemals in die Geschichte eingehen und diese zwei Menschen wieder zuein...