𝟐𝟑 | 𝐃𝐢𝐞 𝒑𝒆𝒓𝒇𝒆𝒌𝒕𝒆 𝐈𝐧𝐬𝐳𝐞𝐧𝐢𝐞𝐫𝐮𝐧𝐠.

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´´´´´´´´´´ Madrid, Spanien. Staatliche Banknotendruckerei. ´´´´´´´´´´
´´´´´´´´´´ Dienstag, 17. Oktober 2017. 7.38 am ´´´´´´´´´´


Das Patriarchat war der Anfang vom Ende ‚Berlins‘ Herrschaft gewesen.

Zu unserem Ärger – nicht aber zu meiner Verwunderung – hatte es Rio nicht ausgereicht, meine Identität an die Polizei weiterzuleiten, viel zu sehr wurde er von seiner Liebe zu und seiner Angst um Tokio geleitet, viel zu groß war sein Hass auf Andrés, als dass ihm das annähernd Genugtuung verschafft hätte.

Daher hatte er sich etwas anderes überlegt, um uns zu schaden.
Oder vermutlich hatte er wenig darüber nachgedacht und es eher aus reiner Intuition getan – unseren gesamten Fluchtplan an die Geiseln verraten und sie gegen uns aufgestachelt.

Das Patriarchat hatte meinen Freund dazu gezwungen, diesen Fehltritt zu bestrafen.
Urplötzlich hatte er wieder das Verlangen gehabt, seine Übermacht zu demonstrieren und, wenn ich Nairobis Worten Glauben schenkte, reinen Psychoterror auf unseren Komplizen ausgeübt.

Ich war zu diesem Zeitpunkt mit meinen Lieblingsgeiseln, der Lehrerin und Arturito, beschäftigt gewesen, die doch immer noch glaubten, die Welt vor uns retten zu können… zu müssen.

Während ich also damit meinen Spaß hatte, ihren Aufstand zu zerschlagen [und leider nicht ihre Köpfe einzuschlagen], hatte sich etwas an der Spitze unserer Gruppe geändert: Nairobi hatte die Führung an sich gerissen und direkt den Professor darüber informiert.

Wie es ihr gelungen war, ihn zu erreichen, war mir völlig schleierhaft gewesen, bis er mich an das Telefon hatte holen lassen und mich dahingehend aufgeklärt hatte, dass er die Inspectora als Person ihres Vertrauens in Toledo abgesetzt hätte.
Ich konnte angesichts dieser Genialität nur ehrfürchtig nicken, sagte ihm aber gleichzeitig, dass ich Nairobi die Entscheidungen lassen und auch bei ihr nur als Backup fungieren würde.

Ich hatte in diesem Überfall bereits so viele Fehler gemacht, dass ich es niemandem zumuten wollte, selbst die wichtigen Anweisungen zu geben.

Eine meiner ersten Aufgaben war es gewesen, an diesem Morgen alle, Rio eingeschlossen, in unserem Besprechungsraum zu versammeln, meine Freundin wollte das weitere Vorgehen mit jedem offen klären.

„Wir starten Plan Kamerun“, fiel sie mit der Tür ins Haus.
Kein langes Gerede außenherum, einfach gleich das Wichtigste.
Gewissermaßen stellte sie eine deutlich bessere Anführerin dar, als es Andrés oder ich mit unserem Hang zum Überdramatisieren jemals gekonnt hätten.

Plan Kamerun war eines unserer sichersten und berechenbarsten Manöver.
Er beruhte auf Studien zur menschlichen Psyche und auch wenn man immer Ausnahmen finden könnte, würde er uns zu einem riesigen Teil dabei helfen, die Bevölkerung ganz auf unsere Seite zu ziehen.

Wir würden die volle Mitleidsschiene fahren, Schwächen und Fehler in aller Öffentlichkeit eingestehen und unser Leid teilen.

Und eigentlich wäre Rio perfekt für diesen Job geeignet, er mit seinem unschuldigen Gesicht, er, der von seinen Eltern vor laufenden Kameras gedemütigt worden war. Doch natürlich wollte er es nicht übernehmen, in seinem Trotz, und irgendwo konnte ich es sogar verstehen, immerhin musste er sich fühlen, als würde er zu jedem Moment die zweite Geige spielen und wir würden ihn nur für unsere Zwecke wieder von den ‚anderen‘ Geiseln zurückholen.

„Ich werde es machen“, schlug ich vor, nachdem Nairobi bei jedem einzelnen mehrere Gegenargumente gefunden hatte – zeitgleich mit Andrés.

Ein leises Seufzen entfuhr meiner Freundin, ehe sie uns beide musterte.
„Ich sage es ja nur ungern, aber ich glaube nicht, dass ihr dafür geeignet seid. Keiner im Team zeigt weniger Schmerz oder Leid als ihr“.

Langsam nickte ich, zuckte dann aber schmunzelnd mit den Schultern.
„Wir werden es gemeinsam tun. Es stimmt, wir wollen zu den meisten Zeitpunkten unsere Emotionen für uns behalten, weil alles andere sich nach Kontrollverlust anfühlen würde, aber wir beide können uns extrem überzeugend darstellen. Wenn wir wollen, dass man uns bemitleidet, dann bekommen wir das problemlos hin“.

„Außerdem, bitte entschuldige mich, Nairobi, kennt man deine Identität noch nicht und du müsstest mit deiner Maske vor die Kameras treten, was uns große Einbußen in der Glaubwürdigkeit machen lassen würde. Venecia und ich sind Zeremonienmeister, niemand würde es realistischer umsetzen als wir“, ergänzte Andrés meine Argumentation und wir wechselten einen kurzen, wissenden Blick miteinander.

„Vielen Dank, dass Sie gekommen sind“, leicht neigte die Reporterin ihren Kopf, nachdem wir sie begrüßt hatten und langsam durch die Eingangshalle führten.

„Es bedeutet uns unglaublich viel… wissen Sie, unser einziges Ziel ist, dass die Menschen da draußen die Wahrheit erfahren, das sind wir ihnen schuldig. Es ist nicht normal, dass neun bewaffnete Menschen in eine Bank stürmen und über 60 Unschuldige als Geiseln nehmen, eigentlich ist es für uns jeden Tag ein Gewissenskonflikt. Das, was wir hier tun, ist nicht ehrenwert, wir sind lediglich ein Haufen armseliger Verbrecher, die verzweifelt handeln. Die so verzweifelt sind, dass sie auf Polizisten schießen. Wir waren nicht darauf vorbereitet, dass man uns den Krieg erklärt, dass man auf der Seite der Regierung uns als Terroristen einstuft, dass man auf einen wehrlosen Zivilisten, Arturo Román, schießen würde, wenn wir einem von uns, der einen Schock erlitten hat, auf dem Dach an der frischen Luft etwas Gutes tun möchten. Uns war nicht bewusst, dass wir durch den Wunsch, unser eigenes Geld drucken zu wollen, einen von uns verlieren könnten. Wir wollten doch nur Frieden finden, wir wollten nicht einmal wirklich etwas stehlen, und nun…“, verzweifelt schniefte ich und räusperte mich umständlich, um meine Stimme wiederzufinden.

Andrés suchte den Augenkontakt zu mir, leicht hob ich mein Kinn an, sein Zeichen, dass er übernehmen sollte.

„Nun, da haben wir einen Verlust in unseren Reihen zu beweinen. Den Verlust eines Mannes, den Sie unter dem Namen ‚Oslo‘ kennen. Für Sie ist es nur die Bezeichnung einer Stadt, doch für uns – für uns war er so viel mehr. Ein Freund, ein Familienmitglied. Ich weiß nicht, ob Sie schon einmal einen Toten gesehen haben. Für ein paar von uns war es auch das erste Mal“, kurz machte er eine Pause, damit die Journalisten ihren Kamerafokus auf Oslos Leiche richten konnten.

„Sie sind hierhergekommen, um über die Wahrheit zu berichten. Hier ist sie, das ist die Wahrheit. Wir wurden geschlagen und haben verloren“, ein perfektes geschauspielertes Seufzen entwich ihm und ich nickte schwer, als die Reporterin bestätigte, dass unser Komplize keinen Puls mehr hätte.

„Wir sind keine Helden, nur ganz einfache Leute… ich… ähm… Entschuldigung, tut mir leid“, synchron zu Andrés‘ mentalem ‚Zusammenbruch‘ presste ich einige Tränen aus meinen Augen und wir entfernten uns voller Qual von dem Tisch.

Ein paar Minuten später fanden wir es angemessen, uns wieder gesammelt zu haben.
Es war Zeit, den nächsten Angriff auf die Polizei zu starten.

„Wir haben uns geschworen, mit Ihrem Bericht Licht in die Dunkelheit zu bringen und für Gerechtigkeit zu sorgen. Sie haben einiges über uns in den Nachrichten erfahren. Über Rio, über Tokio, über Berlin, über mich“, setzte ich mit brüchiger Stimme wieder an.

„Das, was Sie über mich gehört haben, das entspricht der Realität. Und ich bereue es zutiefst, deshalb möchte ich diese Chance nutzen, mich bei jemandem zu entschuldigen. Ich hätte das schon vor Ewigkeiten tun sollen, doch ich war zu feige“, innerlich ekelte ich mich vor mir selbst – ihn vor der gesamten Nation reinzuwaschen hätte ich niemals als Wohltat ansehen können, aber ich tat es für unser Team.

„Velasco, es tut mir so leid. Ich hätte… ich hätte damals nicht dich als Sündenbock verwenden sollen. Ich hätte nicht – ich hätte…“, verzweifelt blinzelte ich nach oben, nahm mir einen Augenblick zum Durchatmen.

„Ich hätte nicht zulassen dürfen, dass du an meiner statt jahrelang einsitzt“.
Ein kurzer Schatten huschte über das Gesicht meines Freundes, als ich für die Öffentlichkeit log.

Schnell hatte er sich allerdings wieder unter Kontrolle und übernahm den Rest. Nutzte die Möglichkeit, die Falschinformationen über sich aufzuklären und wickelte mit seinem Charme die Journalisten und definitiv auch die Bevölkerung um den Finger.

𝐕𝐄𝐍𝐄𝐂𝐈𝐀 | Lᴀ ᴄᴀsᴀ ᴅᴇ ᴘᴀᴘᴇʟ Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt