𝚑𝚎𝚕𝚍𝚎𝚗𝚝𝚘𝚍

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𝚔𝚊𝚙𝚒𝚝𝚎𝚕 𝟽: 𝚑𝚎𝚕𝚍𝚎𝚗𝚝𝚘𝚍



𝐌𝐈𝐓 𝐉𝐄𝐃𝐄𝐌 𝐒𝐂𝐇𝐑𝐈𝐓𝐓 𝐖𝐔𝐑𝐃𝐄 𝐈𝐂𝐇 𝐖𝐀𝐂𝐊𝐄𝐋𝐈𝐆𝐄𝐑 𝐀𝐔𝐅 𝐃𝐄𝐍 𝐁𝐄𝐈𝐍𝐄𝐍, bis schließlich das alleinige Anheben meiner Fußsohle und -spitze zu einem Gleichgewichtsakt wurde.
Obwohl mich vielleicht gerade einmal zwanzig Meter vom Trailer der Munsons trennten, fühlte sich der Weg unendlich an.
So musste sich ein zu Tode verurteilter auf dem Weg zum Galgen fühlen.

Mein Atem ging nur stoßweiße, in mir eine lähmende Angst, die von meinem Körper Besitz ergriff.
Ich war froh, dass es keine Klingel gab, denn ich war mir zu hundert Prozent sicher, dass der schrille Ton mir den Rest gegeben hätte.
Also klopfte ich nur zaghaft an die Tür und trotz dessen, dass ich dieses Gespräch führen wollte, es führen musste, wünschte sich ein kleiner Teil von mir, dass niemand da war.

Meiner Stille bitte wurde nicht nachgekommen, denn nur einen Atemzug später tauchte die bärenartigen Statur eines Mannes vor mir auf.
Sein Anblick war so allgegenwärtig und plötzlich - was in Anbetracht der Tatsache, dass ich bei ihm zu Hause auftauchte eigentlich lächerlich war - dass ich japsend einatmete.

Das hier war also Eddie's Onkel.
Meine einzige Verbindung zu meinem verschollenen besten Freund aus Kindheitstagen.
Die einzige Person, die mir Antworten über die Vergangenheit geben konnte.
Über all das, was den heutigen Edward Munson ausmachte.
Über die Änderung seines Geistes, seines Charakters und seines ganze Seins.
Er konnte mir erzählen, was der Eddie von heute mochte. Was ihm wichtig war. Und ob er vielleicht doch zwischenzeitlich an mich gedacht hatte.

Er würde mir erzählen können, ob es ihm genauso schwer gefallen war loszulassen, wie es bei mir der Fall gewesen war.
Schwerfallen war nicht einmal der richtige Ausdruck. Denn ich hatte es nie. Er spukte immer noch gleichbedeutend stark in meinem Kopf wie seit seinem Wegzug.
Hatte er weitermachen können? Einfach so?
Sich den Gegebenheiten angepasst, wie sie ihm präsentiert wurden? Hatte er mich einfach vergessen?

Auf dem ewiglangen Marsch zu Mr. Munson hatte ich mir immer wieder passende Worte zurechtgelegt, aber keines davon verließ meinen Mund.
Ich wusste nichts zu sagen.
Ihn vor mir stehen zu sehen reichte vollkommen aus, um mir die Sprache zu nehmen.
Stattdessen war er es, der das Wort ergriff.
»Ich spreche nicht mit Reportern.«, sagte er nüchtern und war schon wieder dabei die Tür zu schließen, als ich geistesgegenwärtig meinen Fuß dagegenhielt.
»Ich bin keine Reporterin."«, antworte ich stumpf und verstummte wieder.

Sein Blick sang von Misstrauen und Zweifeln, dieser Mann war einfach müde vom Leben geworden.
Ich hatte ihn fragen wollen, ob ihm der Name Rebekah Watkins etwas sagen würde.
Vielleicht hatte Eddie in der Vergangenheit von mir gesprochen?
Und wenn nicht zuletzt, dann vielleicht direkt nach seiner Abreise aus unserer Heimatstadt.
Das Antlitz seines Mienenspiels erlaubte es mir jedoch nicht ihn auch nur eine Sekunde lang weiter zu belästigen.
»Mr. Munson, entschuldigen Sie bitte die Störung. Alles Gute Ihnen.«, pflichtete ich ihm bei.

Meine Stimme war dabei nicht mehr als ein Flüstern und ehe er mir eine Antwort geben konnte, hob ich meinen Rucksack vom Boden auf und suchte das Weite.
So sehr ich auch nach Antworten suchte, bei ihm würde ich keine finden.
Dieser Mann war zerbrochen.
Das Verschwinden seines Neffen und die damit verbundene Hetzjagd auf ihn, hatte ihm alles abverlangt.

Meine Schritte trugen mich nur schwerfällig durch die Ortschaft.
Ich hatte kein Ziel und ich wusste auch nicht, wohin ich gerne gegangen wäre, hätte ich dir Wahl gehabt.
Irgendwo wo es ruhig war vielleicht.
Wo ich mich meinem Kummer hingeben konnte, ohne jemanden damit auf die Nerven zu gehen.
Robin und Steve kannte ich ohnehin nicht genug, als, dass ich mich vor ihnen so hätte öffnen können.

Nur eine Viertelstunde später war ich vom tiefsten Dickicht umgeben und die melodischen Klänge einiger Trauerschnäpper ertönten in dem Nichts aus Bäumen und Büschen.
Wie passend diese Vogelgattung doch war, denn dieser Ort hatte mich mit nichts als Trauer und Niedergeschlagenheit empfangen.

𝐈𝐂𝐇 𝐆𝐈𝐍𝐆 𝐍𝐎𝐂𝐇 𝐄𝐈𝐍𝐄 𝐇𝐀𝐋𝐁𝐄 𝐄𝐖𝐈𝐆𝐊𝐄𝐈𝐓 𝐖𝐄𝐈𝐓𝐄𝐑, bis sich der Wald minimal lichtete, umrahmt von einem Drahtzaun, der zur Hawkin's Highschool gehörte.
Das wusste ich zu diesem Zeitpunkt aber noch nicht.
In geringer Entfernung machte ich zwischen einigen Laubbäumen einen Picknicktisch und die dazugehörigen Bänke aus.
Doch entgegen meiner Hoffnung ich könnte dort meine Ruhe finden, erkannte ich, dass dort schon besetzt war.
Ein Junge, nicht älter als 14, hatte sich dort niedergelassen.
Seine wilden Locken nur durch eine motivlose Cap gebändigt, sein Blick starr auf den Holztisch gerichtet.

Seine Hand bewegte sich in gleichmäßigen Bewegungen und als ich, von Neugierde getrieben, noch etwas näherkam, erkannte ich, dass er ein Taschenmesser in der Hand hielt.
Eigentlich war es nicht meine Art ungefragt zu stören, aber irgendetwas trieb mich immer weiter an.
Ich stand jetzt nur noch einen knappen Meter von ihm entfernt und selbst wenn er gehörlos gewesen wäre, meine Präsenz musste er bemerkt haben.
Mein Blick fiel auf den von der Verwitterung gepeinigten Tisch, auf dem er gerade mit der dumpfen Spitze seines Messers ein „D" einritze.

Mein Blick fiel auf den von der Verwitterung gepeinigten Tisch, auf dem er gerade mit der dumpfen Spitze seines Messers ein „D" einritze

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»Ich werde das nicht wieder wegmachen. Es stimmt. Eddie war ein Held.«, verteidigte er sich grundlos und mir entging nicht, dass seine Stimme neben seiner kindlichen Aufmüpfigkeit auch Kummer beinhielt.
»Ich wäre wütend würdest du es tun.«, antwortete ich ihm.
Eine Antwort die so schlicht und doch bedeutungsvoll war.

Ich wusste vielleicht nicht wirklich was geschehen war und ob Eddie wirklich der Held der Stadt gewesen war, wie es Robin mir weiszumachen versucht hatte.
Dafür wusste ich, dass Eddie mein Held gewesen war. So oft wie er mich vor den Rabauken unserer Grundschule gerettet hatte oder schlicht und ergreifend vor der Langeweile, die mich ständig umgeben hatte.
Meine gesprochenen Worte lockten eine erste Reaktion des Jungen hervor, er sah zu mir auf und betrachtete mich mit einem zahnarmen Lächeln.
»Du findest das auch? Das Eddie ein Held war, meine ich.«

Ich nickte nur.
»Er hätte diese Stadt retten können..«, schluchzte er.
»Ich glaube diese Stadt ist nicht mehr zu retten.«, gab ich zurück und ließ mich neben ihm auf die kahle Holzbank sinken.
Dieser Ort war verätzt von Trauer und Verwüstung und hatte weder für die Einwohner noch für Anreisende irgendetwas Gutes gebracht.
Nicht in den letzten drei Wochen.
Diese Erkenntnis traf mich hart, plötzlich und unnachgiebig und ich konnte nicht verhindern, dass mir kochend heiße Tränen die Wange herunterliefen.

Ich hatte so viel Zeit damit verbracht, Eddie zu finden und als ich meinem Ziel so nahe war, dass ich es schmecken konnte, brach das Kartenhaus über mir zusammen.
Ich hatte Eddie verloren, schon wieder.

𝐖𝐎 𝐃𝐀𝐒 𝐆𝐄𝐒𝐓𝐄𝐑𝐍 𝐍𝐈𝐂𝐇𝐓 𝐌𝐄𝐇𝐑 𝐒𝐄𝐈𝐍 𝐊𝐀𝐍𝐍【𝚔𝚊𝚜】Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt