Als sie erwachte, dämmerte es bereits. Sie fuhr auf, und blickte sich um. Auf dem Tisch stand ein Becher, der vorher nicht dagewesen war. Sie trat an den Tisch, ergriff den Becher und roch misstrauisch daran. Er enthielt eine klare Flüssigkeit, die nach nichts roch: Wasser.
Dankbar trank sie ihn in einem Zug aus. Sie merkte erst jetzt, wie durstig sie gewesen war. Am liebsten würde sie noch mehr trinken, fand aber kein weiteres Wasser mehr. Zögernd trat sie an Fenster, und sah hinaus. Ein weiter Strand, Meer, wundervolles Licht. Aber kein Schiff, und auch kein Pirat.
Zögernd machte sie einen Schritt zur Türe hin, trat dann aber an ihr Gepäck, suchte und fand den Kamm, und löste ihr Haar. Während sie ihr langes Haar kämmte, überlegte sie ihr weiteres Vorgehen. Sie war jetzt wieder ganz ruhig. Dieser Mann war ein Pirat, aber er hatte offensichtlich Interesse daran, dass ihr nichts geschah. Er hatte sie bisher nicht angerührt und würde es vermutlich auch jetzt nicht tun. Er hatte sie an der Strickleiter entgegengenommen und durch das Wasser getragen. Na und? Er hatte mit seinen Männern respektlos über sie gesprochen, aber direkt unverschämt war er eigentlich nicht gewesen. Was hatte sie denn erwartet? Er war ein Pirat. Ein Verbrecher, und sie hatte sich benommen wie ein zimperliches Mädchen. Das sollte nicht wieder vorkommen. Sie ließ ihr Haar offen. Sie hatte keine Lust, nach Spiegel und Nadeln zu suchen, und die Schlichtheit ihrer Umgebung wirkte auf sie... es erschien ihr passender, sich auch einfach zu geben. Jetzt hatte sie Durst, und auch Hunger, wie sie bemerkte. Das zwang sie, sich auf die Suche nach ihrem Bewacher zu machen. Sie öffnete die Tür und blickte hinaus.
Er lag lang ausgestreckt im Schatten der Bäume, Hut und Tuch hatte er neben sich geworfen, die Jacke ausgezogen, die langen Beine übereinandergelegt, die Arme unter dem Nacken verschränkt. Ob er schlief? Nein, offen sichtlich nicht, denn er blickte jetzt zu ihr hinüber. Sie wartete auf eine seiner spöttischen Bemerkungen, aber es kam nichts, er sah sie nur an. Sie konnte sich seinen Blick nicht deuten.
Sie stieg die zwei Stufen herab und ging langsam auf ihn zu. Das duftige, frischgekämmte Haar fiel ihr über die Schultern nach vorne. Ein leichter, kühler Abendwind bewegte die schwarze Flut.
„Verzeiht," sprach sie ihn an, „aber ich bin durstig und hungrig. Wäre es nicht an der Zeit, etwas zu essen?" Es war merkwürdig, so auf ihn herab zu blicken.
Jetzt regte er sich endlich, richtete sich halb auf, seine Mundwinkel zuckten leicht, wie von verhaltenem Lachen.
„Oh, gewiss, verzeiht meine Nachlässigkeit, aber ich dachte, ihr schliefet noch. Habt ihr euch gut erholen können?"
„Aber ja, danke, sehr gut." Sie lächelte selbstsicher.
„In dem Fall gestattet ihr sicherlich, dass ich eure Hütte betrete? Wo wünscht ihr denn eigentlich, die Mahlzeit einzunehmen? Drinnen, am Tisch? Hier draußen, als Picknick auf einer Decke? Oder möchtet ihr vielleicht, dass wir getrennt essen? Ihr seht, ich lasse euch die größtmögliche Freiheit."
Sie lachte. „Oh danke, ihr ahnt nicht, wie sehr ich das zu schätzen weiß. Ich denke, ich würde gerne hier draußen essen, es ist wunderschön hier. Und an eure Gesellschaft habe ich mich in der letzten Woche ja notgedrungen gewöhnen müssen. Also brauchen wir im Namen der Zwölfe jetzt nichts mehr daran zu ändern!"
Jetzt lachte er auch. „Ich fühle mich geehrt, Madame!" Er erhob sich mit einer geschmeidigen Bewegung und holte das Nötigste aus der Hütte. Sie nahm indessen Platz und beobachtete in aller Ruhe, wie er eine Decke ausbreitete und darauf verschiedene Lebensmittel verteilte. Sie musste fast lachen über diese Situation. Jetzt fühlte sie sich zum ersten Mal seit ihrer Gefangennahme nicht mehr als willenloses Objekt, sondern hatte sogar plötzlich das Gefühl, die Kontrolle in den Händen zu halten.
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Perlenmeer Teil 1: Rahja
AdventureDas Schwarze Auge - eine Welt, die hunderttausend Geschichten schreibt. Manche ähneln einander, andere sind ganz eigen oder auch eigenartig. Einige Erzählungen sind phantastisch, einige komisch, alle jedoch sehr abenteuerlich. Das Besondere daran: E...