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Sie lag lang ausgestreckt auf ihrem Lager, und konnte nicht schlafen. Das leise Rauschen des Meeres, verbunden mit den nächtlichen Geräuschen des Waldes drang an ihr Ohr, eigentlich beruhigend, aber dennoch warf sie sich unruhig hin und her. Nicht nur, dass sie den halben Tag verschlafen hatte - in der Hütte war es heiß und ihr Herz schlug unruhig und ungleichmäßig. Schließlich erhob sie sich und trat vorsichtig ans Fenster, nicht zu nahe, sondern so, dass sie im Schatten stehen blieb. Draußen brannte ein kleines Feuer auf dem Sand. Er schlief also auch nicht, sondern saß wie ein stiller, schwarzer Schatten davor. Hin und wieder legte er ein Stück Holz nach. Sie stand lange da, und beobachtete ihn. Äußerlich verharrte sie reglos, innen aber umtosten sie die Ereignisse des Tages. Dabei rang sie mit sich selbst. Sie wusste nicht, was sie tun sollte, was sie tun wollte. Schließlich hielt sie es nicht mehr aus.

Fast geräuschlos öffnete sie die Tür und trat in der Dunkelheit an das Feuer heran. Ihre nackten Fußsohlen verursachten kaum einen Laut.

„Was ist los? Fehlt euch etwas?" Er sprach sie an ohne aufzusehen. Seine Stimme klang ihr sehr fremd und seltsam vertraut zugleich.

„Ich kann nicht schlafen." Sie ließ sich neben ihm nieder und starrte ins Feuer, genau wie er.

„Wollt ihr noch etwas trinken? Einen Wein, ein Wasser vielleicht?" Er warf ihr einen kurzen Blick von der Seite zu.

Sie schüttelte den Kopf. „Nein, danke," ergänzte sie, da ihr auffiel, dass er das Kopfschütteln gar nicht bemerken würde. Forschend sah sie ihn von der Seite an. Sein Profil lag im Halbdunkel, das Feuer warf seltsame Schatten darauf.

„Ihr seht traurig aus."

„Ich? Traurig?" Er wandte ihr sein Gesicht zu. „Ihr täuscht euch."

„Ich wollte euch etwas fragen..."

„Was wolltet ihr fragen?"

Sie zögerte, und sagte dann: „Wie... wie hat man euch genannt, damals, als ihr noch Laute spielen konntet?"

„Wie meine Eltern mich genannt haben?" Seine Augen waren groß und dunkel.

„Ja."

„Warum wollt ihr das wissen?"

„Ich... ich weiß nicht..." der leichte Anflug eines Lachens kam über ihre Lippen. „Ich möchte einen Namen für euch haben."

Sie spürte das Zögern und ahnte mehr, als dass sie es wirklich erkennen konnte die Unsicherheit in seinem Gesicht. So war sie fast überrascht, als er nach einiger Zeit doch noch antwortete

„Arved... nach meinem Großvater..." Ein leicht verlegenes Lachen. „Aber der Name ist mir fremd geworden. Arved von Sturmhöhe. Er geht mir richtiggehend schwer über die Lippen. Das ist ein anderes Leben gewesen - und ich war ein anderer Mensch..."

„Wenn wir uns damals begegnet wären - als ihr noch Arved wart..." Ihre Stimme zitterte leicht.

Er schüttelte den Kopf. „Ich hätte euch nicht gefallen. Leichtsinnig und gefallssüchtig, eitel und verantwortungslos...Außerdem wart ihr noch ein Kind damals..."

„Arved von Sturmhöhe," flüsterte sie. „Das klingt wirklich fremdartig. Ihr habt einmal gesagt, dass eure Eltern noch leben. Warum seid ihr nicht mehr dort? Warum..." sie musste ihre trockenen Lippen befeuchten und hatte das Gefühl, jeden Augenblick zu weit zu gehen. Dennoch fragte sie weiter: „Warum seid ihr jetzt hier?"

Jetzt wandte er sich ihr voll zu. Sein Gesicht sah hart aus, Licht und Schatten betonten fast holzschnittartig seine Züge: „Warum ich Pirat geworden bin, meint ihr? Ich war auch damals schon kein guter Mensch. Nicht für meine Eltern. Ich habe ihnen nichts als Ärger und Verdruss bereitet. Ich hatte das schon fast zwanghafte Begehren, gegen ihre Regeln zu verstossen - schon als Kind. Und später... nun, irgendwann hatte ich den Bogen überspannt, wie man so sagt. Bitte, erspart es mir, euch alle Untaten meiner Jugend zu erzählen. Sie sind ohnehin lächerlich und unbedeutend gegen das, was später kam. Halten wir doch einfach fest, dass ich bereits ein Taugenichts war - wie man bei uns sagt - , bevor ich ein echter Schurke wurde. Aber ihr wolltet etwas über meine Eltern wissen, nicht wahr? Und keine Lebensbeichte. Nun, irgendwann war ihre Geduld endgültig erschöpft, ich kann's ihnen nicht verübeln. Vielleicht war das richtig so. Ich gehörte nicht dorthin, zu ihnen, in ihre Gesellschaft. Was dann kam...? Ich habe mich treiben lassen und... letztlich habe ich einfach oft Glück gehabt. Boron wollte mich wohl nicht..." Er brach in haltloses Lachen aus und legte einen neuen Ast aufs Feuer. Sie stimmte jedoch nicht in seine Heiterkeit ein, sondern saß weiter reglos, die Augen groß auf ihn gerichtet.

„Heute bin ich kein Kind mehr..." Es kostete sie ihre ganze Kraft, den Blick auf ihn gerichtet zu halten. Sie sah wie seine Augen sich weiteten bei ihren Worten. Er saß sehr nah neben ihr und sah sie voll an. Seine Stimme war leicht heiser als er ihr antwortete.

„Nein, ihr seid kein Kind mehr. Deshalb solltet ihr mich nicht so ansehen, Merhibam. Und nicht so mit mir sprechen. Ich weiß, ich habe euch etwas versprochen, aber ihr dürft meine Selbstbeherrschung nicht überstrapazieren..."

Er hörte sie flüstern: „Wie meint ihr das?" Dabei hob sie ihr Gesicht kaum merklich zu ihm empor.

Er wollte sich abwenden, war aber nicht mehr dazu in der Lage. Er fühlte eine Welle wilden, animalischen Begehrens in sich aufsteigen, die alle Dämme nieder riss.

„So!" entgegnete er heftig, und presste seinen Mund auf ihre frischen, warmen jungen Lippen, riss ihren weichen Leib an sich und küsste sie wild. Sie wehrte sich nicht, ließ ihn gewähren, sank mit ihm nach hinten in den weichen Sand, aber noch während er sie küsste, kämpfte sich ein Gedanke durch den Rausch seiner Leidenschaft. Was tust du hier?! Sie ist deine Gefangene! Ein Mädchen von Adel, für das du Geld erpressen willst. So ein Mädchen rührt man nicht an! Oder du bist auch nicht besser als die anderen!

Mit Aufbietung all seiner Willenskraft stemmte er sich hoch und ließ sich neben ihr in den Sand fallen. Schwer atmend und mit rauher Stimme stieß er hervor: „Es... es tut mir leid."

Sie stützte sich auf ihren Ellenbogen und sah ihn an: „Das ist nicht wahr," unterstellte sie ihm kühn. „Du lügst."

Er hatte einen Moment das Gefühl, verrückt zu werden und lachte halberstickt. „ja, vielleicht." Doch dann kamen ihm seine Gedanken wieder zu Bewusstsein: „Nein. Ich lüge nicht! Du... du bringst mich um den Verstand, weißt du das?"

„Ich weiß heute gar nichts mehr," flüsterte sie, und neigte sich leicht über ihn. Da packte er sie wiederum und küsste sie wie ein Verzweifelter, bevor er plötzlich ihre Schultern ergriff und sie heftig von sich schob. Er wusste nicht, wie oft er das noch fertigbringen würde.

„Geh' jetzt, bitte!" forderte er. „Geh' gleich, und geh' schnell, bevor es zu spät ist."

Und sie gehorchte ihm, erhob sich schweigend und ging ins Haus.

Aufstöhnend drehte er sich um und presste sein Gesicht in den Sand. Er hatte das Gefühl in Flammen zu stehen. Idiot! Idiot! Schrie die Stimme in seinem Kopf. Du hast dich benommen wie ein götterverdammter Dummkopf. Mit welchem Recht hatte er seine Männer verachtet? Er war nicht besser als irgendeiner von ihnen. Nein, sogar schlimmer, weil er sich ausgerechnet dieses Mädchen genommen hatte. Sie war in jeder Hinsicht etwas Besonderes, keine Hafendirne, an der man rasch im Vorübergehen seine Lust stillen konnte. Warum?! Warum hatte er sich nicht besser beherrschen können?

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Perlenmeer Teil 1: RahjaWo Geschichten leben. Entdecke jetzt