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Als sie im Morgengrauen aus der Hütte trat, war das Feuer heruntergebrannt.  Er stand barfuß unten am Strand und blickte über das Meer. Es war gut gewesen, gestern ins Haus zu gehen, dachte sie. Sie hatte lange Zeit gehabt, nachzudenken, sich darüber klar zu werden, was sie wollte. Und nun wusste sie es. Langsam ging sie den Strand hinunter auf ihn zu. Obwohl sie sicher war, dass er sie hörte, wandte er sich nicht zu ihr um. „Guten Morgen," begann sie vorsichtig.


Er starrte weiterhin auf die graue, glitzernde Wasserfläche. „Ich weiß nicht, ob dies ein guter Morgen ist...", entgegnete er düster.


„Lass uns ein paar Schritte gehen, ja?", schlug sie vor. Er nickte zustimmend und begann, neben ihr durch den Schaum der Brandung zu schlendern. Sie schwieg und wartete, dass er das Gespräch beginnen würde.


Endlich sagte er: „Wir haben einen Fehler begangen."


Sie sah kurz zu ihm auf. „Ja? Findest du?"


Er blieb stehen und ergriff ihre beiden Hände. „Merhibam! Wollt ihr mit einem Mal nicht mehr wissen, wer ihr seid? Und wer ich bin?!"


Sie trat näher an ihn heran und blickte ihn herausfordernd an: „Ich hab' Arved von Sturmhöhe geküsst, nicht den schwarzen Korsaren. Und es ist Arved, der hier neben mir geht und mit mir spricht..."


Wollte sie das Spiel immer noch weiter treiben? Wollte sie ihn quälen? Er war kein Jüngling mehr, der sich mit romantischem Geplänkel zufrieden geben konnte! Er starrte sie so zornig an, dass sie erbebte: „Du bist wie ein Kind, das mit dem Feuer spielt, dass einen gefährlichen Löwen freilässt und denkt, er sei nur ein Kätzchen! Verstehst du nicht, was du riskierst?! Dass das gefährlich ist?"


„Gefährlich?" Sie trat noch etwas näher, ihre Körper berührten sich fast. „Ich glaube fast, du fürchtest dich vor mir..." flüsterte sie.


„Ja!" stieß er hervor. „Ich fürchte mich. Ich fürchte mich vor mir selbst, davor, zu was ich fähig bin...." Er riss ihre Hände hoch und schob sie an den Handgelenken von sich weg.


Sie erschrak vor der Wildheit in seinem Blick und der rohen Kraft seiner Hände, aber sie bemühte sich zu lächeln.


Da riss er sie plötzlich fast brutal an sich, küsste ihren Mund, bis sie nach Luft ringen musste, zog sie mit sich hinunter zu Boden.


Hinterher ließ er sich neben sie in den Sand sinken, befreite sie von seinem Gewicht und ließ sie wieder Atem holen. Seine Hand lag ruhig auf ihrer Brust, und sie ließ ihre Fingerspitzen über die braune Haut seines Unterarms und die feinen Härchen darauf wandern.  Das es so etwas gab – dieses Zusammentreffen absoluter Nähe und absoluter Fremdheit. Seine Stimme flüsterte in ihr Ohr - „Oh Merhibam"  - mehr nicht, und sie war froh, dass er nicht wieder sagte, es tue ihm leid. Sie fühlte sich stark, viel stärker als er, obgleich sie seine körperliche Überlegenheit so deutlich hatte spüren müssen.


Sie nahm seine Hand, und drückte sie an ihre Lippen, fühlte sein leichtes Zusammenzucken. Dann entzog er ihr die Hand, fuhr ihr mit den Fingern sanft über die Konturen ihrer Lippen, zeichnete die Züge ihres Gesichtes nach, strich ihr eine Haarsträhne hinter das Ohr. „Oh Merhibam," sagte er erneut. Sie ahnte, was er ihr sagen wollte, aber nicht aussprechen konnte, und wandte ihm ihr Gesicht zu. Er sah sie an, und zum ersten Mal nahm sie keine Maske war, keine Verstellung, sondern nur Offenheit, Trauer und Zärtlichkeit. Sie berührte leicht mit ihren Lippen seinen Mund, und er küsste  sie zurück, ganz sanft, ohne die Gier, die vorher in seinen Küssen gelegen hatte. Seine Hand streichelte ihre Wange, fuhr über die zarte Haut ihres Halses. Mit den Fingerspitzen ertastete er die fragile Wölbung ihres Schlüsselbeins, die Rundung ihrer Schulter, während sein Kuss ganz langsam intensiver wurde, sehr vorsichtig, auf ihre Reaktion wartend. Sie öffnete die Lippen, schloss die Augen und ließ sich langsam, erst zögernd noch dann immer bereitwilliger sinken in die warme Flut seiner sanften, suchenden Berührungen, die den Schmerz in ihrer Erinnerung auslöschten, ihn umwandelten in eine bittersüße Erinnerung, in einen Abschied von etwas, dass es einmal gegeben hatte, einen Abschied von dem Mädchen, das an diesem Tag gestorben war und von einer Welt, die es so niemals mehr geben würde.


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Perlenmeer Teil 1: RahjaWo Geschichten leben. Entdecke jetzt