Der Unterschied zwischen dem Leben an Bord und den zwei zurückliegenden Tagen hätte nicht größer sein können. Aus purer Gewohnheit fand der Schwarze Korsar den richtigen Ton, sprach mit seinen Leuten, bestimmte den Kurs, brüllte zwei Männer zusammen, die einen Streit nicht beilegen wollten, lachte über rauhe Scherze. Aber er hatte das Gefühl, neben sich zu stehen, sich selbst dabei zuzusehen, wie er mechanisch lachte und redete. Und er verabscheute sich selbst. Zum ersten Mal überlegte er ernsthaft, ob es nicht wirklich die Option gab, all dies aufzugeben. Die Vorstellung mit seinem Leben weiterzumachen, als wäre nichts geschehen, erfüllte ihn mit nie gekannter Abscheu. Aber... selbst wenn er wirklich ausbrach aus diesem Leben, wenn er aufhörte mit dem Dasein als Pirat – so wäre es Wahnsinn, sie dabei mitzunehmen! Gewiss, es war eine heftige Verliebtheit gewesen, die ihn überkommen hatte. Rahjas Zauber, verstärkt durch die Umgebung, in der sie sich befunden hatte. Aber der Zauber würde der Realität niemals standhalten. Merhibam würde sich nie in ein Leben einfügen können, das er führen würde. Sie waren zu unterschiedlich. Ja - er musste verrückt gewesen sein, ihr solche Versprechungen zu machen!
Er würde ihr seinen Meinungswechsel allerdings nicht mitteilen, beschloss er. Solange, wie sie bei ihm war, würde er den Zauber aufrecht erhalten. Jetzt musste es sie furchtbar kränken, musste ihren Abschied vergiften. Später, wenn sie zurückgekehrt war in ihre gewohnte Umgebung, würde es ihr leichter fallen. Vermutlich würde sie ihn ohnehin ganz rasch vergessen.
Als abends endlich der Tisch gedeckt war, und als letztes der Kapitän die Kajüte betrat, stand sie am Fenster, wandte ihm den Rücken zu und wartete, bis sich die Tür hinter ihm geschlossen hatte. Dann erst wandte sie sich langsam um. Er sah ihre klaren Augen und den Ausdruck von Liebe darin und fragte sich, wie er es je hatte in Erwägung ziehen können, sie zu betrügen und sein Versprechen nicht zu halten. Natürlich würde er sein Leben aufgeben, und es ihr zu Füßen legen, ganz gleich, wie hoch das Risiko war und ganz gleich, wie sie sich dann entscheiden mochte.
Sie lächelte, denn sie las in seinen Augen, was sie wissen wollte. Keiner von beiden sprach ein Wort als er langsam auf sie zutrat, ihr Gesicht in beide Hände nahm und begann, sie sanft zu küssen. Das Essen auf dem Tisch wurde unbeachtet kalt und kälter, während sie sich stumm und fast geräuschlos liebten und schließlich leicht erschöpft eng aneinander gepresst auf dem Bett lagen, ihre Kleidungsstücke wild zerstreut.
„Morgen findet die Übergabe statt, Merhibam," flüsterte er.
„Ich hab Angst, Arved," entgegnete sie ebenso leise. „Was ist, wenn dir etwas zustößt?"
Er lachte leise, anscheinend sorglos. „Mir wird nichts passieren. Du kannst ganz unbesorgt sein."
Sie schwieg einen Moment. Beruhigt war sie nicht. „Kannst du nicht einen deiner Männer schicken?"
„Unmöglich, Merhibam. Noch bin ich der Kapitän, und es gibt Aufgaben, die kann kein anderer übernehmen, als ich selbst, wenn ich nicht allen Respekt meiner Leute verlieren will, und das, glaub mir, wäre sehr unklug."
„Aber... du wirst kein Risiko eingehen?"
Er sah sie ernsthaft an: „Ganz gewiss nicht. Glaubst du, ich weiß nicht, was auf dem Spiel steht, für dich?"
„Ich fürchte für dich, Arved!"
„Und ich für dich." Er grinste und fuhr fort: „Und deshalb habe ich etwas, das ich dir geben wollte. Warte mal..." Er erhob sich und suchte seine Jacke, fuhr in eine Seitentasche und zog einen Dolch heraus. „Nur für alle Fälle," ergänzte er und ließ sich zurück auf das Bett fallen. Den Dolch legte er zwischen sie auf das Kissen.
Sie betrachtet ihn zweifelnd und hob die Augenbrauen: „Kein Risiko, sagtest du?"
„Gar keines, Liebste." Er zog die Hand weg vom Dolch und lächelte mutwillig. „Los, nimm ihn schon. Nimm ihn in die Hand! Kannst du damit umgehen?"
Sie griff nach dem Dolch, dessen Griff schwer und kalt in ihrer Hand lag.
„Jetzt kannst du dich rächen," fuhr er fort, „wenn du willst. Mein Leben ist in deiner Hand." Er nahm ihre Hand mit dem Dolch und führte sie so, dass die Klinge sanft seinen Hals berührte. „Siehst du," flüsterte er. „Es ist ganz leicht..."
Sie ließ den Griff los, und entwand ihm ihre Hand. „Lass das!" wehrte sie unwillig ab. „Das ist kein Spaß! Ich habe das ernst gemeint, was ich auf der Insel zu dir gesagt habe."
Seine Miene wurde ernst, fast schmerzlich sah er sie an. „Ich doch auch, Liebste. Und auch alles, was ich nicht gesagt habe. Ich werde kommen, sobald ich kann. Ich werde versuchen, ein anderer zu werden, für dich, es sei denn, du willst es dann nicht mehr."
Ihren Protest erstickte er mit Küssen, aber zwischen ihnen lag das kalte Eisen und presste sich an ihre Haut.
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Perlenmeer Teil 1: Rahja
AdventureDas Schwarze Auge - eine Welt, die hunderttausend Geschichten schreibt. Manche ähneln einander, andere sind ganz eigen oder auch eigenartig. Einige Erzählungen sind phantastisch, einige komisch, alle jedoch sehr abenteuerlich. Das Besondere daran: E...