Kapitel 3

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Astrid

Während ich auspackte, konnte ich es immer noch nicht glauben. Mein Mahagonischrank war so groß, dass es ziemlich erbärmlich aussah, als all meine Sachen dort verstaut waren. Vielleicht konnte ich mir jetzt mal etwas schöneres leisten. Bald sollte mein Lohn diesen Monats auf meinem Konto sein.
In der Kommode hatte ich all meine Unterwäsche verstaut und in dem Regal standen ein paar Bücher, die ich mir mal gekauft hatte oder noch von früher waren. Die Bilder standen auf meinem Schreibtisch, ebenfalls im Regal und eines stand auf meinem Nachttisch. Das Album lag auf meinem Schreibtisch, wie auch meine Schulsachen. Eine weitere Tür hatte ich ebenfalls entdeckt und zu meiner Überraschung war es ein eigenes Badezimmer gewesen.
Als ich so durch das Album blätterte, erinnerte ich mich immer wieder an damals. Zum Beispiel war dort ein Bild, wo wir in Italien im Urlaub waren. Sie hatten ein Fest gefeiert und ich saß auf den Schultern meines Vaters, als meine Mutter das Foto geschossen hatte.
»Man merkt, dass ihr Vater und Tochter seid«, hatte sie gesagt. »Das blonde Haar, derselbe Charakter und dieser große Dickkopf.« Dann hatten wir alle gelacht, mein Vater hatte ihr einen Kuss gegeben und ich hatte Würgelaute gemacht.
Ich klappte es zu und setzte mich auf mein Bett. Auf dem Nachttisch stand mein Lieblingsbild. Ich war damals dreizehn Jahre alt gewesen und wir waren in San Francisco. Dieses Bild hatte mein Vater geschossen. Meine Mutter und ich waren zu sehen, wir hielten uns seitlich im Arm und lächelten mit einem Eis in der Hand. Ihre hellbraunen Haare hatte sie zu einem Zopf gebunden und rosarote Wangen lächelten mich an, genau wie ihre ozeanblauen Augen, die ich von ihr hatte. Damals war sie noch gesund gewesen.
Ein Klopfen riss mich zurück in die Realität. Die Tür ging vorsichtig auf und Hicks stand im Türspalt. Er trug nicht mehr seinen Anzug, sondern eine normale schwarze Jeans und sein Hemd hatte er zu einem einfachen grünen T-Shirt gewechselt. Die Converse trug er weiterhin.
»Ich -«, sagte er, doch stockte. »Wieso weinst du?«
Ich sah ihn verwundert an und fühlte meine Wange. Sie war ein wenig nass. Ich hatte gar nicht bemerkt, dass ich weinte.
Er sah mich immer noch an. »Ich hab nur alte Bilder durchgesehen, ist nicht weiter schlimm.« Mit meinen Händen strich ich über meine Wangen und wischte somit alle anderen Tränen weg. »Du, was?«
Er blinzelte und schien aus seiner Verfassung herauszukommen. »Ich wollte nur fragen, ob du die anderen kennenlernen möchtest.«
»Wolltest du mich nicht erst zum Essen abholen?«
»Ja, eigentlich, aber das dauert noch. Möchtest du, oder doch lieber erst später?«
Viel konnte ich nicht alleine tun und weiterhin weinen wollte ich auch nicht. Immerhin hatte er mich sozusagen gerettet, also ging ich mit.
Der Fahrstuhl hielt eine Ebene tiefer. Zusammen liefen wir in einen kleinen, runden Flur, der vor einer breiteren Eichentür war. Jetzt bekam ich Muffensausen; Was war, wenn sie mich nicht mochten? Oder mich seltsam fanden? Oder mein Handeln gegenüber meinem Vater diskriminierten? Meine Hand schnellte vor und klammerte sich an Hicks' Arm - mal wieder. Er aber tat so, als wäre nichts passiert und ging normal in den Raum; ich an ihm geklammert und hinterher trottend.
Ein großer runder Buntholztisch stand weiter hinten an der Wand, an dem mehrere Stühle standen. Links waren drei weiße Sofas und zwei beige Sessel aufgestellt, die alle um einen hölzernen Kaffeetisch standen; an der Wand hing ein Flachbildfernseher. Rechts im Raum stand ein Regal mit Gemeinschaftsspielen, Filmen und solchen Dingen in den Fächern. Dann fielen mir die beiden Türen auf; die links war ebenfalls weiß, wie die Sofas, rechts die war ebenfalls schwarz oder eher schokoladenbraun, wie das Regal.
Als ich wieder zum Tisch sah, fielen mir erst die ganzen Menschen auf, die dort saßen. Jeder war still und versuchte mich zu erkennen, da ich halb hinter Hicks verschwunden war.
Sieben Leute saßen dort versammelt; vier Jungs und drei Mädchen. Ein Junge hatte schwarze Haare, war ein wenig dicker und wahrscheinlich auch kleiner; er grinste mich an. Ein anderer hatte blondes Haar und sah recht groß und viel freundlicher aus. Der Nächste hatte braunes Haar und dieses schiefe Lächeln auf's Gesicht geklebt: Typischer Dieb. Der letzte hatte weiße Haare und hellblaue Augen, die einem sofort in die Augen stachen.
Eines der Mädchen hatte ziemlich kurze braune Haare, während die anderen beiden lange Haare hatten. Jedoch hatte die eine silbrig blonde und die andere braune, die langsam ins orange übergingen.
»Hey, Leute«, sagte Hicks. Mir fiel auf, dass das alles nur ungefähr zehn Sekunden gedauert hatte.
Jeder antwortete ihm anders, entweder »Hey.«
»Wieder da?«
Oder: »Sie ist süß. Wie heißt sie gleich nochmal?«
Beim Letzten sah ich verwirrt zu Hicks. Der verdrehte nur die Augen.
»Das ist Rotzbakke. Er flirtet mit allem, was nicht bei drei auf dem Baum ist«, sagte er und ich sah wieder zu ihm; Rotzbakke wackelte mit den Augenbrauen. Ab da wusste ich: Der ist ekelhaft, mit dem will ich nicht so viel zu tun haben.
»Die anderen sind Jack, Elsa, Anna, Rapunzel, Eugene und Kristoff«, teilte mir Hicks mit und zeigte jeweils auf die Personen, die mir zuwinkten. Ich ging sie noch mal im Kopf durch, dann hatte ich sie auf dem Kasten, einigermaßen.
»Und -«, setzte Rapunzel an, doch die weiße Tür links ging auf und ich zuckte zusammen, als ein pummeliger, kleinerer, blonder Junge herauskam.
»Endlich!«, rief er. »Jetzt kann die Schule beginnen!«
Manche verdrehten die Augen bei dieser Bemerkung, Jack knallte seinen Kopf auf den Tisch und Rotzbakke rief: »Streber!« und machte mit seinem Daumen und Zeigefinger ein L an seine Stirn.
Dann bemerkte der Junge Hicks und mich. »Oh, Hicks. Schon zurück? Du musst Astrid sein. Hallo, ich bin Fischbein«, sagte er und lächelte mich an. Er war mir sofort sympathisch und ich lächelte zurück. Sein Lächen sah aus, wie von einem Baby geklaut, so süß war es.
Irgendetwas explodierte aber in diesem Moment und ich drückte sehr wahrscheinlich Hicks' Blutzufuhr in seinen Unterarm und seine Hand ab. Mein Atem ging schneller und ich bekam fast eine Panikattacke, als unter der schwarzen Tür rechts grauer Qualm empor stieg.
»Habt ihr die Zwillinge in den Chemieraum gelassen?«, fragte Hicks mit einem scharfen Unterton.
Eugene zuckte mit den Schultern. »Die beiden haben eine eins in dem Fach, sie werden schon nicht die Bude hochfliegen lassen.«
Skeptische Blicke von jeder Seite.
Die Tür ging auf und zwei Menschen kamen hinaus. Sie waren mit Rauch übersät und ihre eigentlich weißen Mäntel waren nun grau. Sie sahen sich sehr ähnlich und ich hatte so meine Probleme zu erkennen, dass es unterschiedlich geschlechtliche Zwillinge waren. Ihre langen hellen Haare waren zusammengebunden und sie hatten einen verstörten Blick auf dem Gesicht.
Dann sahen sie sich an und klatschten ihre Hände zusammen.
»Der Hammer!«, riefen sie im Chor und sahen uns alle an.
Hicks knallte seine Hand an seine Stirn, Rotzbakke verdrehte seine Augen, Jack stöhnte auf.
»Seid ihr beiden eigentlich total irre?«, sagte Kristoff.
»Nein, nur ziemlich dumm«, antwortete Fischbein.
»Hey, pass du mal lieber auf, was du sagst, Schwabbelpaket«, sagte einer der Zwillinge, vielleicht das Mädchen?
Ich sah wieder Hicks an. Er sah meinen verstörten und leicht verängstigten Blick und flüsterte: »Keine Sorge, du gewöhnst dich daran. Brauchst aber keine Angst zu haben, die sind immer so. Die Zwillinge heißen übrigens Raffnuss und Taffnuss. Sind zwar nicht gerade die hellsten Leuchten auf'm Weihnachtsbaum, aber in Chemie sind sie Genies.«
Ich sah kurz die anderen an, die sich stritten und dann wieder Hicks.
»Und dieser Rotzbakke?«, flüsterte ich ganz leise zurück.
»Ach, den kannst du ruhig ignorieren. Mache ich seitdem ich klein bin - wenn er mich nicht gerade ertränken oder in den Schwitzkasten nehmen wollte.«
»Und ihr seid noch befreundet?«
»Er ist mein Cousin, leider.«
Oh, das erklärte es ein wenig. Die Streiterei wurde von einem Piepsen zur Ruhe gebracht. Ich sah Hicks - schon wieder - verwirrt an.
»Essen ist fertig, komm«, antwortete er auf meine stumme Frage.
Erst im Fahrstuhl fiel mir auf, dass ich mich immer noch an Hicks klammerte. Schnell ließ ich seinen Arm los und versuchte die Röte zu vertuschen. Von der Seite konnte ich ihn grinsen sehen.
Eine weitere Ebene tiefer, sah es genauso aus wie eine über uns. Doch als Hicks die Tür öffnete, war es nicht derselbe Raum, sondern eine riesengroße Cafeteria. Die roten Wände gingen weit nach hinten und mehrere runde Tische und Stühle hatten hier ihren Platz.
»Riesig, nicht wahr?«, sagte Elsa und lächelte mich an.
»Allerdings«, sagte ich staunend.
Wir gingen an einen freien Tisch, der rechts von der Tür stand. Als jeder dort war, blieben drei Plätze leer.
»Wo ist eigentlich Merida?«, sagte Hicks dann.
Jeder hatte von der einen auf die andere Sekunde einen verstohlenen Blick drauf.
»Du kennst sie doch«, sagte Anna dann. »Sie ist nie da, wenn du jemand neues holst.«
Hicks nickte, als wäre das Alltag und nahm sich etwas zu Essen, was in der Mitte auf dem großen runden Tisch stand. Jeder am Tisch war am Essen, außer mir. Irgendwie hatte ich keinen Appetit.
»Also, Astrid«, begann Kristoff und ich sah ihn an. »Weshalb sitzt du heute bei uns?«
»Weil ich abgeholt worden bin?«, sagte ich, obwohl es eher nach einer Frage klang. Die anderen kicherten.
»Ich meinte, weshalb hat unsere Organisation dich retten müssen?«
»Oh«, sagte ich und sah wieder auf meinen leeren Teller. Jetzt fiel mir das Reden wieder schwerer. Es war viel einfacherer einer Person es zu erzählen, aber zehn?
»Mein, äh, Vater«, begann ich zögerlich, »er hat nach dem Tod meiner Mutter nicht mehr den richtigen Anschluss gefunden. Sein neuer Freund wurde der Alkohol und das ging so weit, dass sein Chef ihn vorübergehend gefeuert hatte und ich das Geld verdienen musste, neben dem Haushalt und der Schule.
Wie er auf die Idee mit dem Vermieten kam, weiß ich nicht, aber es war wahrscheinlich die schrecklichste Idee, die er seit fast drei Jahren hatte.«
Es war still am Tisch, während sie alle aßen. Ich jedoch starrte nur auf meinen leeren Teller und war in meinen Erinnerungen gefangen.
Mein Vater mochte zwar Tag und Nacht betrunken sein, aber er hatte sich dennoch beherrschen können. Nie ist er handgreiflich geworden, er hat mich nie zu etwas gezwungen. Trotz seiner anhaltenden Fahne, merkte ich, dass er mir gegenüber immer fast der Alte war.
Dann kam mir der Gedanke, dass er vielleicht einfach jemanden zum Reden bräuchte. Ich hatte nie das Thema Tod oder Mom angesprochen. Mir schnürte es die Kehle zu und mein Magen verkrampfte sich. Ich würde Freitag nicht zurückkehren und ich wusste nicht, was er sich antun würde. Vielleicht brachte er sich um? Vielleicht tut er sich extra weh, weil er bemerkt, was er angestellt hatte? Vielleicht würde er mit dem Trinken aufhören ...
Nein, nicht ohne Hilfe. Des öfteren hatte er es versucht, aber immer nachgegeben. Die Schmerzen waren für ihn zu groß.
Ich wollte nicht daran denken, wollte nicht an ihn denken, wollte nicht an das denken, was er tun wird. Vorallem, wird er dann die Polizei rufen? Doch was will er erzählen? Es war ja schließlich er, der mich vermieten wollte, damit wir mehr Geld haben.
Ich schüttelte diese Gedanken endlich ab und sah wieder hoch. Der Nachtisch war serviert worden, während ich an Freitag gedacht hatte.
»Was ist eigentlich mit euch? Weshalb seid ihr hier?«, kam es aus meinem Mund, bevor ich darüber nachgedacht hatte. Meine Wangen röteten sich; eigentlich hatte ich nicht so taktlos sein wollen, immerhin waren deren Vergangenheiten auch nicht besser. Ich war erleichtert, als mich niemand ansah, als hätte ich einen Sprung in der Schüssel.
»Anna und ich haben unsere Eltern vor vielen Jahren bei einem Schiffsunglück verloren. Wir, und ein paar andere, hatten damals überlebt. Danach kamen wir in ein Waisenhaus und erst als wir fünfzehn waren, wurden wir adoptiert. Der Mann, der uns mitgenommen hatte, war eigentlich nett, doch als wir bei ihm lebten, wurden uns nach und nach Regeln aufgestellt und wir lernten Dinge, die nicht jeder lernte; die man eigentlich nicht lernen sollte, wenn man mich fragt«, sagte Elsa und schob sich ihre Gabel in den Mund, wo ein Stück Schokokuchen aufgespießt war.
»Erst ein Jahr später, als er uns alles über Sex beigebracht hatte, was man nur wissen konnte, wollte er uns vermieten. Es war total ekelhaft und am liebsten würde ich mein Gehirn waschen«, ergänzte Anna mit einem angewiederten Gesichtsausdruck. Sie schüttelte sich, wie Elsa.
»Jack, wieso auf einmal so rot?«, stichelte Hicks und grinste.
»Bin ich gar nicht!«, konterte Jack und legte seine Hände an seine sich rötenden Wangen. Wir fingen an zu lachen.
Jack wandte sich an Elsa. »Das hast du mir nie erzählt«, sagte er wie ein Kleinkind.
»Du hast nicht gefragt«, antwortete Elsa und ein weiteres Lachen machte am Tisch die Runde. Ich sah, dass auch Kristoff rosa Wangen hatte.
»Auf jeden Fall wurden wir dann von Jack und Kristoff hierher gebracht«, beendete Elsa dann.
Rapunzel ergriff sofort das Wort: »Ich hatte einen psychopathischen Vater. Er hatte meine Mutter erstochen, als er vollkommen betrunken an einem Abend zurückgekommen war. Es war bei uns im Flur gewesen und ich hatte es mit angesehen, aber mein Vater hatte mich nicht gesehen, weil ich mich hinter dem Geländer versteckt hatte.
Erst am nächsten Morgen war er zu mir gekommen; meine Mutter hatte er im Garten vergraben und das Blut weggewischt. Da ich panische Angst vor ihm hatte, war ich nicht zur Polizei gegangen. Kurz nach meinem fünfzehnten Geburtstag hatte er plötzlich die Idee mit der Prostitution - keine Ahnung woher. Am liebsten wäre ich gestorben, hätte Eugene mich nicht geholt. Ich sollte mich an die Straße stellen. Als ob ich mich freiwillig in ein fremdes Auto setzen würde und für zehn verdammte Euro, in einer Zeitlinie von dreißig Minuten, alles für den Typen tun würde! Der hatte sie wohl nicht mehr alle.«
Sie klang mehr wütend als traumatisiert oder verängstigt und ihre Erdbeertorte war nun Erdbeermatsch.
»Was ist mit deinem Vater passiert? Sitzt er im Gefängnis?«, fragte ich kurios.
»Nee, der hat sich erschossen, als das mit dem Mord an meiner Mutter und meine Rettung von der AMVO ans Licht gekommen ist.«
Meine Augen rissen automatisch weiter auf und ich sah sie verwundert an. Sie hatte das in einem Ton gesagt, wie man jemandem das morgige Wetter sagte. Ich hätte Albträume bis zum Ende meines Lebens.
Ich blinzelte ein paar Mal, sah auf meinen Teller und dann wieder hoch.
»Und der Rest?«, versuchte ich in einem ruhigen Ton zu sagen.
»Der Rest von uns kannte Hicks aus der Schule oder dem Kindergarten. Als Hicks mit zwölf von der AMVO erfuhr, hatte Haudrauf, sein Vater, uns gefragt, ob wir auch helfen möchten. Seitdem sind wir dabei, suchen Mädchen wie dich heraus, finden alle nötigen Informationen und so Zeugs über euch heraus und holen sie dann aus aller Welt«, sagte Jack.
»Aus aller Welt?«, fragte ich verwundert darüber, dass die AMVO so groß war.
»Allerdings«, ertönte eine tiefe Stimme hinter mir, die einen leichten nördlichen Akzent hatte. Ich zuckte zusammen und drehte mich dann um. Ein großer Mann mit einem längeren Bart, der fast dieselbe Farbe wie Annas Haare hatte, stand dort. Er war ziemlich breit gebaut, was zur Hälfte Muskeln waren; seine grünen Augen stachen aus seinem etwas kleinerem Kopf hervor und die paar grauen Strähnen waren fast zu übersehen.
Er sah mich an. »Unsere Organisation befindet sich heutzutage in aller Welt. Ich bin Haudrauf, Hicks' Vater und Leiter der Anti Menschen Verkauf Organisation. Wie ich sehe, hast du bereits alle kennengelernt.«
Er setzte sich auf den freien Stuhl links von mir.
»Wo ist Mom?«, fragte Hicks und sah seinen Vater an. Ich saß zwischen den beiden und war dadurch ziemlich fehl am Platz.
»Bei Ohnezahn«, bekam er als Antwort.
»Welches Gesicht hat er jetzt schon wieder zerstört?«, fragte Eugene und gab dieses diebische Grinsen zum Vorschein.
»Niemandes, seine Prothese war nur wieder locker«, antwortete Haudrauf und trank einen Schluck Kaffee.
»Aber jetzt müsste sie halten.«
Wieder zuckte ich zusammen, als hinter mir eine sanfte weibliche Stimme zu hören war. Machten die das immer bei den Neuen so? Da bekommt man ja Herzinfarkte oder Panikattacken oder Paranoia, weil man sich immer von hinten beobachtet fühlt.
Eine brünette Frau trug einen Kater mit schwarzem Fell auf dem Arm, als sie zu uns kam. Ihre Haare waren lang, sehr lang, aber in einem Zopf zusammengeflochten. Genau wie Hicks und Haudrauf hatte sie diese grünen Augen; ihr Gesicht hatte ein paar Falten hier und da, aber ansonsten sah sie ziemlich jung aus.
Der Kater wurde an Hicks weitergereicht, der es sich auf seinem Schoß gemütlich machte, während er gekrault wurde. Dann drehte sie sich lächelnd zu mir.
»Hallo, ich bin Valka, Hicks' Mutter, und anscheinend auch die Krankenschwester für seinen schwerbehinderten Kater.«
Ich sah sie verdutzt an, während die anderen in Gelächter ausbrachen. Sie setzte sich an Hicks' rechte Seite.
»Hast du denn nichts gegessen?«, fragte sie und nahm sich ein wenig vom Mittagessen, was noch da war. Ich schüttelte den Kopf und sie fragte nicht weiter danach.
Etwas Leichtes landete auf meinen Beinen und als ich hinunter sah, starrten mich grüne Augen an: Hicks' schwarzfelliger Kater, Ohnezahn, starrte mich an. Langsam hob ich meine Hand und lies ihn schnüffeln. Als er seinen Kopf hinein schmiegte, fing ich an ihn zu kraulen.
»Ein hübsches Gesicht weniger zu verarzten«, sagte Valka.
»Allerdings«, sagte Fischbein und ich sah ihn verwirrt an. »Bisher hat Ohnezahn jedes Mädchen gehasst, das Hicks geholt hatte. Du bist die Erste, deren Gesicht er nicht zerkratzt und -beißt.«
Ich war mir nicht so sicher, ob ich lächeln sollte und ob das jetzt ein Kompliment gewesen war.
»Dieser Kater ist echt seltsam«, fügte Hicks hinzu und beobachtete ihn, während ich seine Ohren kraulte, was er anscheinend liebte, denn sein rechtes Hinterbein kickte immer wieder in die Luft.
»Du musst etwas besonderes sein, Schönheit«, sagte Rotzbakke.
Valka bewarf ihn mit ihrer Serviette, die mitten in seinem Gesicht landete. »Lass das arme Mädchen in Ruhe, Rotzbakke!«, meckerte sie.
Ich musste lächeln bei seinem verdutzten Gesicht und konzentrierte mich wieder auf's Kraulen.
Nachdem alle ihren Nachtisch verputzt hatten, begannen sie zu reden. Mir fiel dabei der leere Platz neben Haudrauf auf und ich erinnerte mich, dass Hicks vorhin ein Mädchen erwähnt hatte. Michaela? Nein, das war es nicht. Meridelle? Nee, aber doch so ähnlich ... Oder war es Merida? Ja, ich glaube, das war es.
»Wer ist eigentlich diese Merida?«, fragte ich nebenbei, obwohl es mich schon interessierte.
»Ein Mädchen«, sagte Hicks und sah mich an. »Sie ist ebenfalls in der Organisation, doch immer wenn ich jemanden hole, sieht man sie den ganzen Tag lang nicht.«
»Weshalb?« Ich runzelte die Stirn.
»Sie mag ihn ein wenig zu sehr«, sagte Rapunzel, was mir nicht viel half. Rotzbakke sagte dann sichtlich genervt: »Sie ist eifersüchtig auf jedes hübsche Mädchen, dass er holt, weil sie in ihn verknallt ist. Oder eher, weil sie durchgeknallt ist.« Letzteres hörte nur noch ich.
Das würde ja spaßig werden, dachte ich und sah auf den laut schlafenden Kater, der in meinem Schoß lag. Mir fiel etwas ins Auge: Sein linkes Hinterbein wurde von dieser vorhin erwähnten Prothese ersetzt. Sie war zwar aus Metall, aber jemand hatte sie schwarz bemalt.
»Was ist eigentlich mit ihm passiert?«
»Es war einigermaßen eine Fehlgeburt. Seine Mutter hatte zu wenig Platz in ihrer Gebärmutter und er hatte das Pech, dass sein Bein eingeklemmt worden war und so nicht wachsen konnte. Er war sofort verstoßen worden. Wir haben ihn bekommen, da war er gerade mal zwei Wochen alt gewesen«, sagte Hicks und sah mit einem Blick voller Liebe zu seinem Kater.
»Zur Abkürzung: Er ist eine Missgeburt«, sagte Rotzbakke.
»Du bist eine Missgeburt«, kam es aus Hicks' Mund geschossen und er warf ihm einen mörderischen Blick zu.
»Hey«, warf Valka ein, »fangt nicht schon wieder an.«
Hicks sah ihn weiterhin mordlustig an und Rotzbakke erwiederte seinen Blick mit reinster Belustigung.
»Da hinten ist Merida«, sagte Anna leise. Ich drehte meinen Kopf und sah ein Mädchen, dass die wildesten roten Locken auf dem Kopf hatte, die ich je gesehen hatte, während sie in einen Apfel biss. Sie sah zu unserem Tisch und ihr Blick änderte sich schlagartig; sie sah aus, als würde sie den Apfel am liebsten wieder ausspucken. Natürlich war es wegen meinem Anblick gewesen und sie verließ die Cafeteria wieder. Ja, das würde noch richtig witzig werden.

Meine Rettung, bevor ich zur Sexsklavin wurdeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt