Kapitel 10

2.5K 136 8
                                    

Astrid

Dienstags hatten wir zuerst Mathe, wo wir Gleichungen wiederholten. Darauf hatten wir Hauswirtschaft, wo Herr Balu uns ein Rezept für Quarkbällchen gegeben hatte. Raffnuss, Anna, Elsa und ich waren zusammen in einer Gruppe. Es stellte sich heraus, dass Anna und Elsa ziemlich begabt waren was das Backen und Kochen anging, weshalb sie uns nur einfache Dinge zu tun gaben, wie ein Ei aufzuschlagen.
»Das sind wirklich vorzügliche Quarkbällchen, meine Lieben«, lobte Herr Balu uns hinterher. Die anderen Gruppen waren auch nicht schlecht. Hinterher mussten wir aufräumen und an mir blieb das Fegen hängen. Dabei summte ich die Melodie von einem Lied, welches mir ein wenig durch die schweren Zeiten geholfen hatte. Es hieß I'll be missing you von Faith Evans und Diddy. Damals, als meine Mutter gestorben war, hatte ich es ziemlich oft gehört. Der Text passte zu den Ereignissen und einigermaßen fand ich auch Hilfe davon.
Der Text schwirrte mir im Kopf herum, während ich leise summte. Ich wusste irgendwie, dass wenn ich sterbe, sie dort stehen wird und mir die Tore öffnen wird. Nach vielen vielen Jahren würde ich ihr Gesicht endlich wieder sehen. Jeden Schritt den ich noch auf Erden machte, machte ich für sie. Sie würde wollen, dass ich etwas aus meinem Leben mache und glücklich werde. Aber mit jeder Minute die vergeht, vermisse ich sie mehr. Oft denke ich an den Moment, wo sie von uns gegangen ist. Ich erinnerte mich an ihr Gesicht, sie sah aus, als würde sie einfach schlafen, aber ihre Brust hatte sich nicht bewegt. Trotzdem lebe ich weiter, weil es ihr Wunsch war.
»Wie hieß das Lied nochmal?«
Ich zuckte zusammen, als Hicks' Stimme plötzlich auftauchte. »Entschuldige«, sagte er daraufhin.
»Nicht schlimm. Was war deine Frage nochmal?«, sagte ich und kam mir vor wie ein Vollidiot.
Er lächelte. »Ich habe gefragt, wie das Lied nochmal hieß, welches du gesummt hast.«
»Oh, es heißt I'll be missing you«, antwortete ich und versuchte mich ebenfalls an einem Lächeln, was sehr wahrscheinlich gezwungen aussah.
»Genau, das war es. Ist es dein Lieblingslied?«
»Äh, nein, eigentlich nicht, aber ich mag es einfach.« Ich zuckte mit den Schultern. »Es ist mir gerade so in den Sinn gekommen und dann hab ich angefangen zu summen.«
Er nickte und half seiner Gruppe beim Abwasch. Den Besen stellte ich ein paar Minuten später wieder in die Kammer. Es klingelte zum Stundenwechsel, jeder schnappte sich seine Quarkbällchen und verließ den Raum mit einem »Bis nächste Woche!« an Herr Balu.
Ich lief zwar mit Hicks zusammen, war aber dabei total in Gedanken versunken und versäumte fast den ganzen Erdkundeunterricht. Erst als es zur Mittagspause klingelte, kam ich wieder zu mich und lief mit Hicks zu meinem Spind.
»Was ist heute mit dir los?«, fragte er, während er an den Spinden lehnte.
Ich sah ihn fragend an. »Was soll mit mir los sein?«
»Keine Ahnung, sag du es mir.«
Ich sah ihm in die Augen und er starrte volle Kraft zurück. Irgendetwas brachte mich dazu zu überlegen, ob ich es ihm sagen sollte. Sollte ich? Eigentlich war es nicht weiter schlimm. Und mittlerweile glaubte ich auch, dass er darüber nicht lachen würde.
»Freitag ist der Todestag meiner Mutter«, sagte ich dann. »Als ich heute morgen gesehen habe, welches Datum wir haben, dachte ich mir, dass nicht schon wieder ein Jahr vergangen sein kann. Das ging einfach zu schnell.«
»Zeit vergeht wie im Fluge«, sagte er leise, während ich in meinen Spind starrte.
»Es fühlt sich nicht an wie zwei Jahre«, hauchte ich und unterdrückte die Tränen.
»Hey«, hauchte er und nahm meine Hand in seine, »ich bin da, okay? Egal was ist, du kannst zu mir kommen.«
Ich nickte und schloss meinen Spind. Draußen im Garten ließ ich die Sonne auf mich strahlen, während die anderen aßen und redeten. Meine Mutter hatte die Sonne geliebt, jeden Sommer war sie bis abends in unserem Garten gewesen und hatte immer eine andere Ausrede parat gehabt, damit wir sie nicht rein holten. In San Francisco hatte sie sehr wahrscheinlich das breiteste Lächeln von allen gehabt.
»Astrid«, sagte Hicks' Stimme leise neben mir.
»Ja?«
»Was machst du an ihrem Todestag?«, fragte er zögerlich. Irgendwie war es niedlich, dass er versuchte es behutsam wie möglich zu sagen. Das er sich überhaupt dafür interessierte war süß.
»Letztes Jahr war ich an ihrem Grab, hatte ihr Blumen gebracht und erzählt, wie es mir so ging. Eigentlich machte ich das öfter. Ich bin auch diejenige, die sich um ihr Grab kümmern muss. Du weißt ja, mein Dad«, antwortete ich.
»Wenn du willst«, sagte er langsam, »können wir Freitag zum Friedhof gehen.«
Ich musste schmunzeln, er war nervös und schüchtern zugleich. Hicks konnte man nicht mit meinem Ex vergleichen, der war ein Arschloch, aber Hicks, Hicks war der perfekte Gentleman. »Gerne, dann lernst du sie auch kennen.«
Er lächelte.
»Weißt du«, sagte ich nach einer Weile, »sie war viel zu nett für diese Welt.«
»Ach ja?«
»Ja. Sie hat immer geholfen, wenn sie konnte. Wenn ältere Menschen über die Straße wollten hat sie ihnen geholfen und mir gesagt, dass ich mithelfen sollte. Wir hatten eine Zeit lang eine Patenschaft für einen Jungen in Afrika, dem es hinterher so gut ging, dass er unsere Hilfe nicht mehr brauchte und nicht mehr wollte. Auf ihrem Grabstein steht Caroline Hofferson, Helfende Hand, Geschätzte Frau, Liebevolle Mutter. Den Spruch hatte ich ausgesucht.«
»Der ist wirklich schön.«
»Danke.«
Am Abend saßen wir zusammen beim Essen. Raffnuss versuchte mit Haudrauf darüber zu reden, dass sie die Schule abbrechen dürfte, aber seine Antwort war nur, dass er seinen Burger gerne ohne Gurken isst. Zwischendurch aß ich auch etwas vom Rotkohl oder den Kartoffeln, aber ich war zu sehr in Gedanken vertieft, dass ich jetzt reinhauen könnte. Die Nachrichten sah ich mir nicht an, sondern ging in mein Zimmer und schmiss mich auf mein Bett. Es dauerte nicht lange bis ich einschlief.
Irgendwann ging die Tür leicht quietschend auf und Licht kam in mein Zimmer. Ich war aber viel zu müde, um mich noch zu bewegen. Derjenige, der die Tür aufgemacht hatte, kam in mein Zimmer, deckte mich zu und verließ es dann wieder. Vielleicht aber hatte ich das auch nur geträumt.

Meine Rettung, bevor ich zur Sexsklavin wurdeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt