Kapitel 11

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Astrid

Freitag kam schneller, als es mir lieb war. Der Tag zog an mir vorbei, wie die letzten sieben Minuten meines Lebens, in denen mein ganzes Leben widergespiegelt wird. In Spanisch nahm ich gerade noch so auf, dass wir neue Vokabeln bekommen hatten, Physik war ich total weg, in Englisch hörte ich zwischendurch mal hin, Mathe wäre ich fast eingeschlafen und in Musik hatte ich auf meinen Tisch gestarrt. Als es dann klingelte, war die Schule auch schon wieder vorbei.
Jack fuhr zusammen mit Hicks und mir. Zuerst machten wir bei einem Blumenladen halt, wo ich einen Strauß mit vielen bunten Blumen kaufte, die meiner Mutter sicher gefallen hätten. Jack wartete im Auto, während Hicks mit mir ging.
»Hatte sie eine Lieblingsblume?«, fragte er. Ich wusste, dass er mich nur ablenken wollte, aber es half nichts. Ich hatte einen Blumenstrauß in der Hand und war auf dem Friedhof, meine Stimmung war tiefer als im Keller.
»Nein«, antwortete ich trotzdem. »Sie liebte Mischungen.«
Ich wollte gerade die letzte Kurve gehen, als Hicks mich zurückzog.
»Hey, was so -« Weiter kam ich nicht, da er mir die Hand auf den Mund legte.
»Shh, sei still«, sagte er flüsternd, aber dennoch barsch. Er guckte über die Hecke leicht hinweg, bevor er die Hand weg nahm. Ich sah ihn nur fragend an. »Die Polizei ist dort. Anscheinend hat dein Vater ihnen von dem Todestag erzählt. Sie warten nur darauf, dass du auftauchst.«
Die Polizei? Also hatte er mich doch als vermisst gemeldet? Machte er sich wirklich sorgen? Oder hatten die Nachbarn und Arbeitskollegen nur nachgefragt? Wenn ich ehrlich war, wollte ich es in diesem Moment eigentlich gar nicht herausfinden.
»Gehen wir«, sagte Hicks. Immer noch mit dem Blumenstrauß in der Hand lief ich mit ihm. »Wir kommen morgen wieder.« Hicks legte eine Hand auf meine Schulter.
»Habt ihr die Polizeiautos gesehen? Mir sind die erst aufgefallen, als ihr schon weg wart«, sagte Jack, als wir einstiegen.
»Nein, aber die Polizisten. Sie warten am Grab«, antwortete Hicks, während ich still blieb. Jack fuhr ohne ein weiteres Wort los.
Irgendwie machte es mich wütend. Es war schön zu wissen, dass mein Vater sich doch um mich sorgte, aber mir deswegen den Todestag von Mom zu ruinieren fand ich echt beschissen. Er wusste ganz genau, dass ich dort hingehen würde und diese Information zu nutzen, um mich wiederzubekommen war so hinterhältig. Den ganzen Weg blieb ich ruhig, bemerkte aber dennoch, dass Hicks öfters nach hinten sah.
Essen tat ich nicht viel, nur ein paar Bissen, aber heute sprach mich niemand darauf an. Im Gemeinschaftsraum beteiligte ich mich auch nicht am Pokertisch oder Monopoly. Hicks blieb bei mir. Wir entschieden uns für Schach. Ich musste sagen, dass er ziemlich gut darin war. Raffnuss und Taffnuss hatten zum Glück das Nebenzimmer noch nicht ramponiert, also blieb es schön ruhig. Bis auf die Würfel, die auf das Brett flogen und die Karten, die ausgeteilt wurden, war es still im Raum.
»Schach matt«, sagte Hicks und grinste mich selbstgefällig an.
»Okay, das ist jetzt die dritte Runde, wie machst du das?«, sagte ich.
»Tja«, sagte er eingebildet und versuchte seine Haare nach hinten zu werfen, »ich kann's halt.«
Zuerst sah ich ihn nur an, aber dann konnte ich mir das Lachen nicht mehr verkneifen. Ich fing an lauthals zu lachen, Hicks stieg mit ein und die anderen sahen uns nur verwundert an.
»Das sah so scheiße aus«, sagte ich und lachte nochmal.
»Ja, ha ha ha, danke.« Er verdrehte die Augen, lächelte aber trotzdem.
An diesem Abend sah ich mir die Nachrichten ebenfalls nicht an. Ich hatte sie schon seit Tagen nicht mehr geguckt, aber Hicks versicherte mir immer, dass nichts über mich berichtet wurde. Wie ich schon gesagt hatte, ich war nur ein weiterer Vermisstenbrief. Obwohl, irgendwie kam es mir schon seltsam vor. Eigentlich wurde immer darüber berichtet, wenn jemand verschwand. Vielleicht aber ... ja, das könnte sein ... Mein Zimmer war wie leergefegt, ich hatte alles mitgenommen und mein Vater hatte ihnen bestimmt nichts über die Vermietung erzählt, weshalb die Polizei sehr wahrscheinlich dachte, dass ich einfach abgehauen wäre. In meinem Alter war es nicht neu, dass man so etwas tat.
Als ich hinterher im Bett lag, versuchte ich über etwas anderes nachzudenken. Nachdem ich duschen gewesen war, hatte ich mir ein Buch aus meinem Regal genommen und damit hingelegt. Es war Harry Potter und der Stein der Weisen. Schon lange hatte ich es nicht mehr gelesen, wann hatte ich denn die Zeit dazu? Jetzt, wo ich nichts mehr wirklich erledigen musste, konnte ich endlich mal wieder einfach im Bett liegen und in die Zaubererwelt eintauchen.

Wie versprochen, ging Hick am nächsten Morgen mit mir wieder zum Friedhof. Wir achteten darauf, dass auch keine Polizeiautos dort waren, bevor wir hineingingen. Der Kies quietschte unter meinen Schuhen und Hicks lief ruhig neben mir mit. Vor dem Grab meiner Mutter standen heute keine Polizisten. Mit hängendem Kopf legte ich die Blumen vor den Grabstein, nahm das Feuerzeug, welches unter der Kerze lag, und zündete sie an. Wenn ich mir die Daten von ihrer Geburt und ihrem Tod ansah, wurde ich noch trauriger. Sie war noch so jung gewesen, zu jung, um zu sterben. Gott holte sich immer zuerst die netten Menschen, wie wir immer zuerst die schönsten Blumen pflücken.
Ich spürte eine Hand auf meiner Schulter. »Da, wo sie jetzt ist, ist es bestimmt schöner.« Ich nickte. Es war schöner dort, es war wärmer und vor allem war es schmerzlos.
»Kennst du dieses Gefühl«, sagte ich leise, »bei dem du dir denkst, dass sie nicht weg sind. Die Toten, dass sie weiterhin da sind?«
   »Früher, nach dem Tod meiner Schwester hatte ich es geglaubt. Ich hatte geglaubt, dass sie dem Licht den Rücken gekehrt hätte, damit sie weiterhin auf mich aufpassen könnte. Manchmal glaube ich, dass ich ihre Anwesenheit spüren kann«, antwortete er und hockte sich neben mich. »Weißt du aber, woran das wirklich liegt?«
Ich sah ihn weinend an und schüttelte den Kopf.
»Es sind die Erinnerungen. Egal wo sie auch sind, sie bleiben bei uns, ob im Gedächtnis oder im Herzen, das spielt keine Rolle.«
Seine kleine Rede hatte mich noch mehr zum Weinen gebracht. Hicks küsste mich kurz auf die Stirn und nahm mich dann in den Arm. Es kam niemand vorbei, während wir dort saßen. Er hielt mich weiterhin im Arm und streichelte behutsam über meine Haare.
»Wir sollten langsam gehen«, flüsterte er irgendwann später, als die Tränen längst vergossen waren und ich nur noch die Umarmung genoss.
»Gehst du noch hin?«, fragte ich leise und bewegte mich keinen Zentimeter.
»Manchmal«, antwortete er ebenso leise.
»Wo ...?«, sagte ich, beendete es aber nicht.
»Nicht hier, woanders.«
Er half mir hoch. Auf dem Weg hinaus waren wir still. Ich wischte mir noch die restlichen Tränen weg, als er in die andere Richtung ging. Ohne ein Wort ging ich einfach mit. Wir redeten nicht, lange nicht. Ich starrte manchmal einfach auf den Boden, nicht wegen der miesen Stimmung, ein wenig war ich auch besorgt, dass mich vielleicht jemand erkennen könnte. Hicks bog wieder rechts ein und ich lief ohne Widerspruch mit, folgte ihm. Viele Menschen liefen an uns vorbei, aber niemand schien auf uns zu achten. Während unserem Rundgang sah ich mich um. Die Häuser waren mal bunt, mal mit Backsteinen versehen, mal einfach grau oder weiß. Die Stadt war sauber, die Menschen ordentlich gekleidet und nie sah ich jemanden betteln oder auf Bänken schlafen.
»Hier«, sagte Hicks nach einer gefühlten Stunde. Wir standen vor einem anderen Friedhof.
Ich sah ihn von der Seite an. »Das war vorhin -«
»Ich weiß.« Er sah mir wieder direkt mit seinen starken Augen in die Seele. »Aber es wird mal wieder Zeit.«
Ich ließ ihn vor. Auf diesem Friedhof sahen wir mehr Menschen, mal waren es ältere, mal noch sehr junge, mal Kinder mit einem Elternteil. Es war still, man hörte nur unsere Schritte auf dem Kies, die Vögel in den Bäumen, die Kaninchen auf der Wiese.
Vor einem Grabstein hielten wir an. Hicks sagte nichts, er sah nur auf den Stein und schien zu lesen, was dort stand.
Amber Haddock
Das war das erste Mal, das ich ihren Namen erfuhr.
»Es ist seltsam zu wissen, dass ich immer älter bleiben werde als sie«, sagte er leise. Kurz lächelte er. »Sie hatte mich immer damit aufgezogen. Sie hatte mich damit geärgert, dass sie größer war als ich.«
Zögerlich nahm ich seine Hand und drückte sie. Ich dachte zuerst, dass er sie wegziehen würde, aber stattdessen verschränkte er seine Finger mit meinen und zum ersten Mal, fing mein Bauch an zu kribbeln.

Meine Rettung, bevor ich zur Sexsklavin wurdeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt