Kapitel 9

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Astrid

Abends saßen wir alle zusammen im Gemeinschaftsraum, auf die Sofas und Sessel gequetscht. Der Fernseher lief und die Nachrichten schalteten gerade ein.
»Guten Abend und willkommen bei den heutigen News«, sagte die Frau direkt in die Kamera. »Der vor Monaten angeklagte Helmut Schröder hat heute seinen letzten Prozess bekommen. Er hat im Frühjahr seine Frau ermordet und dann im Garten vergraben. Nun ist sein Urteil endlich gefällt worden.«
Ein Bericht wurde darüber gezeigt; man sah ihn, wie er aus dem Gerichtshaus geführt worden war und währenddessen erklärte eine Frau im Hintergrund.
»Unglaublich«, sagte Elsa. »Er hat sie viermal getötet.«
»Wie kann man jemanden viermal töten?«, fragte Rotzbakke.
»Er hat sie zuerst die Treppe runter geschubst, dann versucht sie zu erwürgen, danach hat er auf sie eingestochen und zum Schluss nochmal erdrosselt.«
Okay, man könnte sich eigentlich auch scheiden lassen.
Die Nachrichten verliefen weiter, erzählten über ein Haus, das gebrannt hatte, über eine ermordete Joggerin und noch weiteres. Als der Sportbericht kam, war ich ehrlich erleichtert. Sie hatten nichts über ein vermisstes 17-jähriges Mädchen erzählt. Vielleicht aber war dies einfach nicht die Nachrichten wert, weil es viele Vermisste gab, die nach und nach wieder auftauchen? Oder mein Vater hatte doch seinen Mund gehalten, obwohl es jetzt schon drei Tage waren. Ich fragte mich, wie es ihm wohl ging. Hoffentlich hatte er sich nichts angetan. Aber, das wäre bestimmt in den Nachrichten gekommen.
»Und nun zum Wetter«, sagte wieder die Frau vom Anfang. Eine anderen Frau wurde gezeigt, hinter der eine Karte von Berk angezeigt wurde.
»Morgen wird es wieder ziemlich warm, die Höchstwerte liegen bei 30° Grad im Süden und 33° Grad in Richtung Norden.«
Sie redete noch weiter und erzählte vom tollen Badewetter, wie auch die Schwimmbäder und dergleichen. Außerdem würde es nächste Woche ein wenig kühler werden. Und nach den Nachrichten kam irgendeine Serie.
»Wieso gehen wir morgen nicht schwimmen?«, sagte Rapunzel in die Runde.
»Ja, vielleicht haben wir ja Glück und die letzten Stunden fallen aus«, sagte Raffnuss daraufhin.
Und, ich konnte es am nächsten Tag einfach nicht glauben: Die letzten vier Stunden fielen tatsächlich aus. Die siebte und achte Stunde wegen der Hitze und fünfte und sechste, weil unsere Lehrerin nicht da war. Das war einfach unbeschreiblich.
Raffnuss atmete vor dem Schulgebäude die Luft tief ein. »Diese frische Freiheit. Spürt ihr das? So fühlt sich ein chilliges Leben an.«
Zusammen fuhren wir zuerst zum Stützpunkt und dann zum Freibad, das noch relativ leer war, da es in der Woche und früh war. An unserem Shopping Tag hatten wir ebenfalls Bikinis für mich gekauft, die mir ehrlich gesagt ein wenig zu freizügig waren, da ich eigentlich immer Badeanzüge trug.
»Du musst deine Kurven präsentieren«, hatte Raffnuss zu mir gesagt.
Ich war mir da allerdings nicht so sicher, weshalb ich im Bikini bei den Spinden blieb, bis sie mich leider fand. Halb zog, halb schleifte sie mich hinaus zum Becken. Bis dahin kam es aber nicht, da ich mich festhielt.
»Bitte, lass mich etwas anderes anziehen«, sagte ich.
»Nein! Stell dich nicht so an, du siehst toll aus. Jetzt komm!« Sie zog weiter. Elsa kam dann leider von den Spinden und löste meine Hände von der Wand. Am liebsten hätte ich sie geschlagen. Mit dem Handtuch vor meinem Brustkorb ging ich dann widerwillig mit.
»Da seit ihr ja, was hat so lange gedauert?«, fragte Jack.
»Miss Badeanzug hier hat sich an der Wand festgehalten«, sagte Raffnuss. Hatte sie mich gerade wirklich »Miss Badeanzug« genannt?
»Wieso?«, fragte Eugene verwirrt.
»Weil sie ja so hässlich ist und ihr Bikinis zu freizügig sind«, ahmte sie mich nach.
»Das hab ich nie gesagt«, verteidigte ich mich.
»Ist das jetzt nicht egal?«, sagte Elsa dann. »Du bist draußen, das reicht uns.«
Ich hatte so ein Gefühl, dass das nicht stimmte. Mein Handtuch legte ich auf eine Liege, wo ich mich die nächste Zeit irgendwie beschäftigte.
   Die anderen Mädchen hatten vielleicht mittlerweile keine Probleme mehr damit sich so zu zeigen, ich aber schon. Ich mochte es nicht, es war mir unangenehm.
Hicks jedoch gesellte sich später zu mir. »Du weißt schon, dass wir hier nicht wegen der Liegen sind, oder?«
Ich verdrehte die Augen. »Ja, weiß ich.« Ich spielte weiter mit dem Faden in meiner Hand.
»Kannst du nicht schwimmen?«, fragte er neugierig.
»Doch«, antwortete ich verwirrt.
   »Wieso sitzt du dann hier und kommst nicht ins Wasser?«
»Wieso gehst du nicht ins Wasser?«, konterte ich. Er selbst hatte nämlich ein T-Shirt an und war noch trocken.
»Ich hab zuerst gefragt«, sagte er daraufhin.
Ich zuckte mit den Schultern. »Schlechte Erfahrungen. Und du?«
»Ich geh nicht mehr ins Wasser«, sagte er und starrte in den Pool, wo die anderen nur Blödsinn machten. Er beobachtete sie aber nicht, es sah eher aus, als wäre er gerade ganz woanders. Ich beobachtete ihn, bis er »Willst du was essen?« sagte.
»Klar«, antwortete ich zögerlich. Den Weg bis zum Café, welches auf einer Wiese weiter hinten stand, blieb er still und ich ebenfalls. Wir setzten uns draußen an einen Tisch. Ein Kellner kam und nahm unsere Bestellungen auf, die aus zwei Schokoshakes und zwei Stücke Kuchen bestand.
»Weißt du noch, was ich dir über meine Schwester erzählt habe?«, fragte er und stocherte mit der Gabel im Kuchen herum.
»Ja«, antwortete ich.
»Was ist mit ihr passiert?«, fragte er monoton, als wäre es nichts.
»Sie ist nicht nach Hause gekommen.«
»Wieso?«
»Jemand hat sie entführt.«
»Was hat er getan?«
Ich schluckte. Wieso sollte ich ihm diese Fragen beantworten? »Er hat sie vergewaltigt«, sagte ich kleinlaut.
»Und dann?«
»Dann hat er sie in einem Fluss ertränkt«, sagte ich noch leiser.
Erst jetzt sah er hoch. Seine smaragdgrünen Augen starrten in meine saphirblauen. »Jetzt weißt du, wieso ich nicht mehr ins Wasser gehe.«
Ich hielt seinem Blick weiter stand bis er wieder auf seinen Kuchen sah. Erleichtert atmete ich aus, obwohl ich nicht mal bemerkt hatte, dass ich ihn anhielt.
Als wir nach Hause fuhren, war Hicks weiterhin ruhig, was den anderen aber nicht derart auffiel wie mir. Wir saßen zusammen auf der hinteren Sitzbank, in tiefer Stille, während Elsa und Jack miteinander tratschten. Selbst im Fahrstuhl war er ruhig und öffnete seinen Mund nicht einmal. Als wir fast an meiner Tür waren unterbrach ich jedoch die Stille.
»Tut mir leid«, sagte ich und schaute weiterhin zu Boden.
»Was?«, sagte er verwundert.
»Das ich gefragt habe, das hätte ich nicht tun dürfen, deshalb entschuldige.« Vor meiner Tür blieb ich stehen, er ebenfalls.
Hicks schüttelte den Kopf. »Nein, du wusstest den Grund nicht und es war nicht verboten zu fragen. Es ist nur, dass ich immer dieses Bild in den Kopf bekomme, wenn ich daran denke.«
Ich wusste, dass diese Frage eigentlich total scheiße sein würde, aber meine Neugierde war eben ein Arschloch. »Welches Bild?«
Er holte tief Luft. »Ich«, fing er langsam an, »war derjenige gewesen, der sie gefunden hatte.« Hicks sah weiterhin zu Boden, aber ich sah, dass er fast weinte. Dann kam es, dieses Gefühl, es war nur ein kurzes durchzucken, aber ich konnte es nicht aufhalten: Meine Arme legten sich um seine Schultern und ich umarmte ihn. Er legte seinen Kopf auf meine Schulter und seine Arme behutsam um meine Hüfte.
»Das tut mir so leid«, flüsterte ich.
»Es ist nicht deine Schuld«, sagte er dumpf.
»Trotzdem, du warst erst zehn Jahre alt. Das seit so vielen Jahren mit sich zu tragen, verlangt eine gewisse Stärke.«
»Ich hasse es zu weinen«, sagte er.
»Weinen ist normal und manchmal muss es einfach sein«, sagte ich und strich ihm sanft durchs Haar. »Bei mir kommt es einfach, wenn es will, aber meine Mutter hatte mir einst gesagt, dass es vollkommen in Ordnung sei. Wir sind einfach nur Menschen.«
Ich strich ihm seine letzte Träne weg und er lächelte. »Hat deine Mutter oft Weissagungen von sich gegeben?«
Bei der Frage musste ich ebenfalls lächeln. »Sie hatte manchmal diese Momente, an denen sie herausgesprudelt sind.«
Hicks ging dann zu seinem Zimmer. Als ich mich umdrehte konnte ich gerade noch ein paar rote Locken sehen, die schnell um die Ecke verschwanden.

Meine Rettung, bevor ich zur Sexsklavin wurdeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt