15 | Der Traum

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Eigentlich wollte ich Michas Wunsch respektieren und ihn in Ruhe lassen. Allerdings konnte ich mich gegen meinen Wunsch, ihm zu helfen, nicht wehren.

„Hey, warte mal!", rief ich Micha hinterher, als wir im Regen zu unseren Zelten stapften. „Ist wirklich alles in Ordnung?", fragte ich nochmal. Micha drehte sich kurz zu mir um. „Alles gut Jamie, du musst dich nicht um mich kümmern. Ich komm schon klar", sagte er und marschierte weiter zu seinem Zelt. Ich rannte ihm nach und hielt ihn kurz davor zurück. Wir waren inzwischen wieder pitschnass, aber das war mir in dem Moment egal.

„Sollten wir nicht lieber noch was essen gehen?", fragte ich ihn und hoffte, dass er genau so großen Hunger hatte wie ich. „Ich habe keinen Appetit", maulte er und ich erkannte da ein Muster. Ich hatte ihn schon etwas essen gesehen. Allerdings schien ihm immer dann der Appetit zu vergehen, wenn er über etwas nachdachte, das mit Sascha zu tun hatte. Also fragte ich ihn ganz offen. „Hat es was mit Sascha zu tun?"

„Lass mich doch bitte damit in Ruhe und kümmere dich um deinen eigenen Kram", fauchte er mich plötzlich an und riss sich dann los. Verwirrt ließ er mich stehen und kroch in sein Zelt. Der Regen hatte noch zugenommen und ich war inzwischen bis auf die Boxershorts nass. Resigniert drehte ich mich um und lief zurück zu dem Haupthaus. Wie ich schon vermutet hatte, war das Abendessen grade beendet und ich gab die Hoffnung auf, noch was Essbares zu bekommen.

„Mist", sagte ich laut und überlegte, wo ich noch was herbekommen sollte. Sascha und die anderen hatten sicherlich eine Beschäftigung für den Abend gefunden, doch da ich die ganze Zeit mit Micha verbracht hatte, wusste ich nicht, wo ich nach ihnen suchen sollte.

Hungrig lief ich zu meinem Zelt und schälte mich drinnen aus meinen nassen Saschen. Mit einem Blick auf die Uhr stellte ich fest, dass es noch viel zu früh war, um schlafen zu gehen.

„Doppelt Mist!", fluchte ich und verkroch mich trotz der frühen Stunde in meinen Schlafsack. Draußen war es aufgrund des Wetters schon dunkel und ich kramte mein Buch aus dem Rucksack, um es mir in meinem Zelt gemütlich zu machen. Ich schlug die Seite mit dem Lesezeichen auf und begann zu schmökern. Der Regen prasselte gleichmäßig und beruhigend auf das Dach meines Zeltes. Langsam wurde mir wieder wärmer und ich versank in der Geschichte.

Ab und an lauschte ich dem Wind, der sich draußen in den Bäumen verfing und die Blätter zum Rascheln anregte. Aus der Ferne nah ich die Wellen wahr, die den Strand hinauf rollten. Als das Licht meiner Taschenlampe langsam immer spärlicher wurde, legte ich das Buch schließlich beiseite und legte mich auf den Rücken.

Im Dunkeln zählte ich die Wellen. Eins, zwei, drei.

Ich schloss die Augen und fühlte den leichten Sonnenbrand auf meiner Haut. Sechs, sieben.

Eine vertraute Schwere legte sich über meine müden Glieder. Neun. Ich gähnte und drehte mich zur Seite.

Vor meinem geistigen Auge sah ich Micha, der mich freundlich anlächelte und Sascha, der grinsend seine Hand auf meine Schulter legte. Die beiden verschwommen zu einer Person, die mich liebevoll ansah. Ich streckte meine Hand nach der Person aus und streichelte ihr über das Gesicht. Dann sah ich Michas Ausdruck, als ich ihn vorhin in der Dusche auf die Stirn geküsst hatte und Sascha lachte hämisch. Die beiden wandten sich von mir ab und gingen einfach weg. Ich hörte Micha noch meinen Namen rufen. „Jamie", flüsterte er und drehte sich noch einmal zu mir um. „Jamie, schläfst du schon?", fragte er.

„Nein, natürlich nicht", antwortete ich verwirrt, denn ich sah ihn doch direkt an. „Kann ich reinkommen?", fragte er und ich spürte seine Hand an meinem Hintern. Grinsend sah ich ihn an. „Ich hatte gehofft, du würdest mich das mal fragen", entgegnete ich ihm und wollte ihn küssen. Als sich unsere Münder langsam aufeinander zu bewegten, hörte ich, wie Micha vorsichtig den Reißverschluss meiner Hose öffnete. Dann spürte ich einen kalten Schauer über meinen Rücken und meinen Hals wandern.

Schlagartig wachte ich auf, als Micha in mein Zelt kam und den Reißverschluss des Zeltes wieder zu zog. Erschrocken setzte ich mich auf. „Micha?", fragte ich noch etwas schlaftrunken. Im Halbdunkel erkannte ich seine Umrisse und brauchte ein paar Sekunden, bis mir bewusstwurde, dass ich bereits geträumt hatte.

„Ich ähm, dachte du wolltest, dass ich reinkomme?!", fragte er mehr als er sagte. Ich rieb mir kurz die Augen und rückte in dem Chaos, das in meinem Zelt herrschte, ein Stückchen beiseite. „Klar, sorry, ich habe wohl schon gepennt", sagte ich schläfrig und errötete leicht, als ich an meinen bereits beginnenden Traum dachte. „Tut mir leid, ich kann auch wieder gehen", schlug er vor. „Ach wenn du schon mal hier bist", grinste ich, obwohl er es im Dunkeln wahrscheinlich gar nicht sehen konnte.

„Setz dich", bat ich ihn und er versuchte in meinem Chaos einen freien Platz zu finden. „Wenn ich gewusst hätte, dass du kommst, hätte ich vorher aufgeräumt", lächelte ich. Trotz der Dunkelheit nahm ich ein Lächeln auf seinem Gesicht wahr. „Du bist viel zu nett zu mir", sagte er plötzlich und ich sah ihn fragend an. Langsam gewöhnten sich meine Augen etwas an die Dunkelheit. „Wieso sollte ich auch nicht?", fragte ich verwirrt.

Er rutschte etwas nervös auf seinem Hintern rum, bis er antwortete. „Ich war vorhin ein bisschen zu hart mit dir", gab er zu. „Das war nicht so gemeint", entschuldigte er sich. „Ach Micha", meinte ich liebevoll und taste mutig nach seiner Hand. Als ich sie berührte, zuckte er kurz zurück, doch ließ sie unter meiner liegen. „Erzähl mir doch einfach, was los ist", ermutigte ich ihn.

„Ich kann nicht", sagte er etwas niedergeschlagen, während er auf unsere Hände starrte. „Aber wieso denn nicht?", fragte ich ihn und bemerkte, wie er sich verkrampfte. Es hatte keinen Sinn, ihn weiter zu löchern. „Kannst du mir etwas versprechen, Micha?"

Neugierig hob er den Kopf und schmunzelte. „Kommt darauf an", antwortete er und ich fasste den Mut, ihn tatsächlich zu fragen. „Kommst du morgen mit mir zum Frühstück?"

Micha zögerte. Eine Weile sahen wir uns schweigend an. „Willst du nicht lieber bei deinen neuen Freunden sitzen?", stichelte er. „Du bist auch mein Freund. Und ich möchte, dass du deinen Frust nicht in dich hineinfrisst, sondern dir Hilfe suchst", sagte ich behutsam. „Vielleicht kann ich dir helfen", bat ich vorsichtig an.

„Was weißt du schon von meinem Frust", zischte er und ich hatte Angst, dass er gleich wieder abhauen würde. „Bitte Micha, ich weiß nicht genau, was dich bedrückt, wenn du es mir nicht erzählst. Aber du kannst mir glauben, wenn ich dir sage, dass es mir auch schon mal so ging", erzählte ich weiter, damit er nicht ging. „Meine längste Beziehung ging knapp zehn Monate und dann wurde ich kurz vor meinem Abschluss sitzen gelassen. Ich weiß also, wie sich Ablehnung anfühlt und wie es ist, wenn man Monate lang Energie in jemanden investiert, nur um dann doch enttäuscht zu werden."

Jetzt war es Micha, der nach meiner Hand griff. „Das tut mir leid", sagte er und ich spürte, dass es ehrlich gemeint war. „Hör zu", bat ich ihn. „Es ist dein gutes Recht, wenn du es mir nicht erzählen möchtest. Aber bitte, ignorier mich morgen beim Frühstück nicht."

Micha nickte stumm und strich sich mit der freien Hand die Haare aus dem Gesicht. „Okay", stimmte er schließlich zu und richtete sich auf. „Wir sehen uns morgen früh beim Frühstück", schmunzelte er und ließ meine Hand los, um den Reißverschluss des Zeltes zu öffnen.

„Ach und Micha?", sagte ich, als er fast verschwunden war.

„Ja, Jamie?", kam etwas unsicher zurück.

„Träum was schönes", schmunzelte ich.

„Du auch", grinste er zurück und schloss das Zelt.

Zufrieden ließ ich mich zurück in mein Kissen sinken. Mit dem Gedanken an den nächsten Morgen, schlief ich ein.

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