Kapitel 10

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Ihr Krankenbett stand im Wohnzimmer. Es fiel mir sofort auf, als ich im Türrahmen stand. Warum war es hier? Es wurde vor Monaten abgeholt, drei Tage nach ihrem Tod. Weitergegeben an jemand anderen, der es brauchte.

Als ich um es herum ging, setzte mein Herz einen Schlag aus, denn sie lag darin. Meine Mutter, wie sie in ihren letzten Tagen ausgesehen hat. Die Haare abrasiert, die Augenbrauen ausgefallen, den Schlauch der Sauerstoffflasche in der Nase. Sie war so dünn, nur noch Haut und Knochen. Die Muskeln vom ständigen Liegen erschlafft, das wenige Fett was sie hatte verschwunden. Der Krebs hatte ihr so zugesetzt, es brach mir das Herz in tausend Teile.

»Mom?«, sagte ich leise.

Sie öffnete ihre Augen, die so wunderschön blau strahlten, und sah direkt in meine. Ihr Mund zog sich zu einem Lächeln. Sie streckte die Hand nach mir aus. Ich ging zu ihr und hielt sie so fest ich nur konnte.

»Meine schöne Kleine«, flüsterte sie, denn lauter ging es nicht mehr. Ihre Lunge war von den Metastasen zerstört worden. »Ich wollte mich verabschieden.«

Mir stiegen die Tränen in die Augen. »Was meinst du?«

»Ich muss jetzt gehen, mein Liebling«, sagte sie schwach, es war nur noch ein Hauchen. »Vorher wollte ich dir Lebe wohl sagen.«

Die Tränen liefen los und ich schluchzte. »Ich liebe dich. Ich werde dich immer lieben.«

Sie strich mit dem Daumen über meinen Handrücken. »Und ich dich.«

Der leichte Druck ihrer Hand verschwand, ihr restlicher Körper mit ihr und ich blieb alleine weinend an ihrem Bett zurück.

Eine Schockwelle durchfuhr mich und ich riss die Augen auf. Es dauerte einen Moment, bis ich begriff, dass das so eben ein Traum war. Dass ich in meinem Bett lag, im Anfang vom Oktober, und es stockdunkel war. Dass es bereits ein halbes Jahr her war, als ich Erde auf ihren Sarg hab rieseln lassen.

Ich fing an zu weinen und hielt mir die Hand vor den Mund. Das war das Schlimmste, was ich je geträumt habe. Als hätte ihr Geist letztendlich entschieden ins Licht zu gehen, musste mich aber vorher nochmal sprechen.

Denn damals im Krankenhaus hatte ich nicht mehr die Gelegenheit dazu. Mein Vater hatte mich von der Schule mit den Worten »Sie wird den Tag nicht mehr überstehen« abgeholt. Wir sind sofort zu ihr und noch bevor ich in ihrem Zimmer war, hatte ich das Beatmungsgerät heftig arbeiten hören können. Sie hatte so gelitten, denn sie wollte uns beide bei sich haben, wenn sie ging, und als wir jeweils eine ihrer Hände hielten und sagten, wir sind da, war es auch schon vorbei. So schnell, wie das EKG nur noch eine Linie anzeigte und diesen schrecklichen Ton abspielte, konnten wir gar nicht reagieren. Wir hatten beide den Bildschirm angestarrt, bis der Arzt reingekommen war und uns aus der Starre befreit hatte. Danach war ich rausgerannt.

Ich wusste nicht, ob ich jetzt an übernatürliches Zeug glauben sollte oder ob mein Gehirn einfach nur ein Arschloch war. Es machte mich total fertig, überhaupt daran zu denken, was sich gerade in meinem Kopf abgespielt hat. Nichts war und wird je schlimmer sein.

Konnte einem das Herz davon wehtun? Denn meines tat es. Es schmerzte so sehr, dass ich eine Hand darauf legte und mich wie ein Embryo zusammenkrümmte. Warum war das Leben so grausam zu mir?

Mit diesem Gedanken weinte ich mich zurück in den Schlaf.

Der Morgen war beschissen. Meine Augen waren geschwollen vom Heulen, mein Hals kratzte und die Erinnerung an den Traum war nicht verschwunden. Ich wollte nicht aufstehen, wollte nur im Bett liegen bleiben, mit der Decke bis an die Nase, und die Wand anstarren, aber meine Blase und mein Magen hatten andere Pläne. Also schälte ich mich aus meinem Bett und ging ins Bad. Mein Spiegelbild war schrecklich, mit dem aufgeplusterten Gesicht und der Rötung, weshalb ich direkt wieder wegschaute.

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