Kapitel 3

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Ich saß immer noch auf der Bank. Meine Arme um meine Beine geschlungen, mein nasses Gesicht darin vergraben. Ich fühlte mich leer, als würde mich etwas von innen auffressen.

Mein Handy gab einen Laut von sich und ich nahm es in die Hand-Harry.

"Harry", ich wischte mir durch mein Gesicht und drückte das Handy an mein Ohr.
"Tilly, es tut mir so leid. Es tut mir leid, dass ich nicht drangegangen bin. Mum hat mir Bescheid gesagt, ich komm sofort. Kann ich irgendwas für dich tun?", ich hörte im Hintergrund Stimmen, wahrscheinlich war er am Flughafen oder Bahnhof.

"Nein, danke", brachte ich hervor und zog meine Nase hoch.
"Ich denk an dich. Bin gleich bei dir. Love you", ich konnte den Schmerz in seiner Stimme hören.
Auch er hatte Gemma verloren. Er hatte seine Schwester verloren und meine Oma ihre Tochter, aber ich konnte gerade nicht besonders viel Mitgefühl anderen gegenüber aufbringen.
"Danke Harry", sagte ich mit leiser Stimme.

Endlich sah ich mir die Tüte an, die die Polizistin mir gegeben hatte. Dortdrin befanden sich nicht besonders viele Dinge. Ihr Schlüssel, ihr Portemonnaie...
Ich wusste immer noch nicht wie der Unfall stattgefunden hatte, woran sie gestorben war. Vielleicht hatte es mir auch jemand erzählt, aber ich hatte es nicht wirklich wahr genommen oder verdrängt.

"Matilda", meine Oma lief auf mich zu, ich sprang auf und sie schloss mich in ihre Arme.
Ich drückte mich an sie und zog ihren Geruch ein.
Ich wusste nicht wie lange wir da standen, ich hatte längst jegliches Gefühl für Zeit verloren.

"Du bist total kalt", sie warf mir ihre Jacke über.
Ich  nahm nichts mehr wahr, keine Ahnung ob mir kalt gewesen war.

"Willst du was essen, Schätzchen?", sie ließ sich neben mir nieder und ich schüttelte den Kopf.
"Ich geh gleich rein und kümmer mich ums erste, aber ich will, dass Harry bei dir sein kann", sie nahm mich wieder in den Arm.

Wenig später kam mein Onkel. Schluchzend lief ich in seine Arme. "Ich bin bei dir", flüsterte er und gab mir einen Kuss.
Nachdem er auch seine Mutter umarmt und kurz mit ihr geredet hatte, verschwand sie nach drinnen.

Er reichte mir ein Taschentuch. "Danke", schniefte ich.
Schweigend blieben wir auf der Bank sitzen. Es war kein unangenehmes Schweigen, wir mussten nichts sagen um zu wissen was der andere dachte. Wir trauerten zusammen.
Mein Kopf lag auf seiner Schulter und seinen Arm hatte er um mich gelegt.
Uns flossen die Tränen und ich bemerkte ein paar Blicke auf uns, allerdings sprach uns keiner an-zum Glück! Trotzdem wäre es mir in so Momenten lieber, mein Onkel wäre ein ganz normaler Mensch, den keine Sau kannte.

Ich musste wohl eingeschlafen sein, denn ich wachte im Auto meiner Oma auf. Harry fuhr und meine Oma saß auf dem Beifahrersitz, beide sahen total fertig aus.

"Hey", murmelte ich und richtete mich auf. "Tilly", Harry brachte ein kleines Lächeln auf und drehte seinen Kopf zu mir.
"Wohin fahren wir?", fragte ich und rieb mir meine müden Augen. "Zum Notar", bekam ich als Antwort.
Ich schluckte und dachte an das, was die letzten Stunden passiert war.
Wieder fing ich an zu weinen, ich konnte nicht anders.

"Willst du jetzt was essen?", meine Oma drehte sich nach hinten.
"Mm", ich schüttelte den Kopf.
Mir war kotzübel, ich konnte nichts essen.

"Willst du gleich mitkommen?", fragte sie mich. "Nein", antworte ich. Ich war nicht so weit, ich hatte das alles noch nicht realisiert, geschweige denn verarbeitet.
"Okay", sie guckte mich verständnisvoll an.

Während die beiden beim Notar waren, vertrat ich mir ein wenig die Beine.
Ich ging über den Parkplatz zu einer ruhigen Straße und setzte mich auf einen Stein, der recht bequem aussah.
Ich sah in den Himmel, er war wunderschön, bestimmt weil Mum dort oben war.
"Ich vermiss dich", flüsterte ich und eine Träne rollte mir über die Wange, ich wischte sie weg.

"Hey, ich mag deinen Rock", ein Mädchen, das ungefähr in meinem Alter sein musste, ging an mir vorbei.
Ich hatte einen roten Rock mit weißem Blumenmuster an. Eigentlich war auch egal was ich angehabt hatte, ihr Kompliment war das Wichtige gewesen.
"Danke", rief ich ihr hinterher und musste lächeln.
Sie wusste nicht, wie sehr ich das gebraucht hatte.
Sie drehte sich nochmal lächeln um und war dann um die Ecke verschwunden.

Ein leichter Wind wehte und ich strich mir eine braune Strähne aus dem Gesicht. Ein paar Möwen zogen ihre Kreise und man konnte das Meeresrauschen hören.
Gestern war ich noch mit meiner Mutter zusammen zum Meer gerannt, wir hatten zusammen gelacht und uns eine Wasserschlacht geliefert.
Scheiße man, ich hatte das alles viel zu wenig wert geschätzt.

"Wie viel konnte ein Mensch eigentlich weinen?", fragte ich mich. Auf jeden Fall viel, das hatte ich heute schon bewiesen.
Bevor ich allerdings wieder anfing zu weinen, stand ich auf und ging zum Auto zurück.

Matilda Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt