Kapitel 4

311 14 4
                                    

Am nächsten Morgen wurde ich im Hotelzimmer wach. Wir waren gestern noch hier hin gefahren, meine Oma hatte darauf bestanden, dass ich wenigstens noch ein trockenes Brötchen aß und danach war ich direkt ins Bett gegangen.

Ich warf einen Blick auf die Uhr: 09:37.
Müde rieb ich mir die Augen und stand auf, um in meine graue Jogginghose und ein weißes Crop Top zu hüpfen.

Ich zog die Vorhänge zu Seite und machte mein Fenster auf. Kalte Luft drang in mein Zimmer.
Nachdem ich in meine Chucks geschlüpft und mein Handy genommen hatte ging ich hinaus auf den Flur.

Harry war im Zimmer neben mir, also klopfte ich an.
"Hey, ich bin's", sagte ich, woraufhin sich die Tür öffnete.

"Guten Morgen", er lächelte schwach und ich betrat sein Zimmer. "Oma ist noch beim Frühstück. Ich hatte keinen Hunger", teilte er mir mit und ich ließ mich neben ihn aufs Bett fallen, nachdem ich die Tür hinter mir geschlossen hatte.

"Ich auch nicht", meinte ich und merkte wie sich meine Augen mit Tränen füllten.

"Wir müssen heute eure Sachen holen. Willst du mit kommen?" fragte er vorsichtig.
Eure. Die meiner Mum und mir. Der kleine Unterschied war, dass sie diese Sachen nie wieder brauchen würde.
Die erste Träne fand den Weg über meine Wange.

Harry nahm mich in den Arm.
Ich wusste, dass auch er mit seinen Tränen kämpfen musste.

"Harry", flüsterte ich.
"Mhm", er hörte mir zu.
"W-Wo soll ich jetzt eigentlich leben?", und vor allem wie dachte ich. Es war unmöglich. Ich konnte nicht ohne sie weiter leben.

"Ich weiß es nicht", flüsterte er und seine Träne tropfte auf meine Schulter, er wischte sie weg.
"Wo du willst", er drückte mich an sich.
"Ich will keinem zur Last fallen", schniefte ich.
"Tilly", er löste sich aus unserer Umarmung und sah mich ernst an "Du fällst keinem zur Last", meinte er.

Das Gefühlt nicht zu wissen wie sein Leben in Zukunft aussehen sollte war schrecklich.
Ich hatte immer einen Plan im Leben gehabt und innerhalb einer Sekunde war alles vor die Wand gefahren worden.
Oder auch nicht. Ich wusste immer noch nicht was beim Unfall passiert war. Ich wollte es auch nicht wissen. Noch nicht. Vielleicht irgendwann.

Harry reichte mir ein Taschentuch. "Danke", brachte ich hervor und putzte meine Nase.

"Könnte ich bei dir wohnen?", fragte ich. Das war die Vorstellung, mit der ich mich am meisten abfinden konnte. Auch wenn ich nicht mehr in unserem gemütlichen kleinen Haus am Stadtrand leben würde und vor allem nicht mehr mit meiner Mum.
Ich durfte nicht ständig über sie nachdenken. Das musste aufhören. Es machte mich fertig.

"Ja", antwortete er ohne zu zögern. Er hatte sich keine Zeit zum Nachdenken gelassen.
"Ich denke schon. Ich tu alles für dich, Matilda. Wir sprechen da später noch drüber", fügte er hinzu.

Ich konnte ihm dankbar sein. Nicht jeder würde so eine Aussage seiner pupertierenden und psychisch unstabilen Nichte gegenüber treffen.

"Danke", hauchte ich mit einem Kloß im Hals und sah ihn dankend an.

Schließlich kam meine Oma vom Frühstück und wir fuhren zum Ferienhaus.

Ich konnte mein Herz in der Brust immer schneller schlagen hören, je näher wir kamen, desto schlimmer wurde es.
Hier hatte ich mit meiner Mum anderthalb wunderschöne Wochen Urlaub verbracht. Und vor allem die letzten anderthalb Wochen ihres Lebens.

Ich blieb im Auto sitzen, während die beiden nach drinnen gingen. Die Tränen floßen mir übers Gesicht und mein Gehirn ging sämtliche Gespräche mit meiner Mum durch, an die es sich noch erinnerte.

Mein Kopf war gegen die kalte Scheibe gelehnt, Regentropfen praselten dagegen und mir wurde langsam kalt.
Ich schaute auf den Beifahrersitz, wo Harry seinen Pulli liegen gelassen hatte, welchen ich mir nahm und anzog.

Ich setzte die Kaputze auf und nahm mir mein Buch.
Nach kurzer Zeit hörte ich auf, es hatte keinen Sinn. Ständig fing ich an zu weinen und meine Tränen fielen aufs Papier, welches leicht aufweichte.

Seufzend legte ich das Buch neben mir ab und griff in meine Hosentasche, um meine Kopfhörer herauszuholen.

Ich hatte die Augen geschlossen, als jemand den Kofferraum aufmachte und etwas hineinstellte. Ich warf einen Blick nach hinten, es war meine Oma.
Meine Augen blieben an den rosa Chucks in ihrer Hand hingen. Es waren Mums.

Schnell wand ich meinen Blick wieder nach vorne.

Matilda Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt