"Ruby! Komm jetzt endlich runter!", schallte es zum gefühlt tausendsten Mal von unten. Stöhnend richtete ich mich im Bett auf und schälte mich langsam aus der Decke. Beim Aufstehen rammte ich meinen Zeh gegen die Bettkannte und humpelte dann - mich über meine eigene Dummheit aufregend - nach unten. In der Küche stand schon meine Mutter und strahlte mich an. Ich fragte mich wirklich, wie man morgens so gut gelaunt sein konnte. Und das, ohne eine Tasse Kaffee getrunken zu haben. Ich drängelte mich an meiner Mutter vorbei, um meinen Koffeindurst zu stillen, aber dann merkte ich, dass sich die Kaffeemaschine - wie fast alles in unserem Haus - schon fertig verpackt in Umzugskartons befand. Richtig, Umzugskartons. Heute war der Tag des Umzugs. Wir zogen weg. In ein kleines Kaff in Minnesota. Das hieß: eine neue Schule, neue Freunde und ein neues Haus. Nicht, dass ich viele Freunde hatte, die meisten wandten sich von mir ab, als letztes Jahr der Unfall passierte. Meine Eltern redeten kaum mit mir darüber, weil sie ihn am liebsten so gern vergessen würde wie ich. Wobei vergessen vielleicht das falsche Wort war, denn ich erinnerte mich weder wirklich an den Unfall, noch an alles davor. Ein paar Fetzen und die Erzählungen meiner Eltern waren noch übrig, aber sonst war alles an Erinnerungen weg, was in meinem Leben passiert war. Aber das hatte ich noch nie jemandem erzählt, weil ich nicht wollte, dass sich jemand Sorgen machte. Da mein Grundwissen vollständig erhalten war, machte ich mir selbst auch nicht wirklich Gedanken darüber, schließlich blieb mir ja noch genug Zeit eigene Erinnerungen zu schaffen. In meinem neuen Haus, in der neuen Stadt. Womit wir wieder beim Umzug waren. Fast unser ganzes Haus war leer. Fast deshalb, weil ich bis jetzt nicht eine einzige Sache eingepackt hatte. Alles lag schön geordnet in meinem Zimmer neben den leeren Kartons. Ich konnte mich einfach nicht dazu durchringen. Ich verstand ja, dass wir einen Neuanfang brauchten, nach all dem Scheiß, der uns letztes Jahr passiert war. Ein halbes Jahr Koma warf einen dann schon mehr zurück, als ich zuzugeben bereit war. Aber ich wollte hier nicht weg. Nicht, wenn gerade alles wieder normal schien. Ich ging in das letzte Jahr der Highschool und hatte alles, was ich verpasst hatte, gut aufarbeiten können. Auch mit meinen Klassenkameraden verstand ich mich so wieder besser und zum Tanzunterricht ging ich auch wieder. Mom hatte zwar gesagt, dass es in Minnesota bestimmt auch eine Tanzschule geben würde, aber ich machte mir da lieber keine Hoffnungen. "Ach komm, jetzt zieh doch nicht so ein Gesicht. Es wird bestimmt ganz toll dort, Maus!", riss meine Mutter mich aus den Gedanken. " Bestimmt, Mom", erwiderte ich, aber glaubte es selbst nicht. Da meine Suche nach Kaffee nicht erfolgreich war, beschloss ich, dann doch mit dem Packen zu beginnen. Ich konnte ja eh nichts mehr gegen die Entscheidung meiner Eltern ausrichten. Schnell band ich meine roten Haare zu einem schlampigen Knoten und begann mit der Arbeit, die kräfte- und nervenzehrender war, als erwartet. Viele Sachen konnte ich eigentlich auch wegschmeißen, weil ich keinerlei Erinnerungen damit verband, aber in der Hoffnung, dass diese eines Tages wiederkommen würden, stopfte ich sie trotzdem in die Kartons.
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Das Geräusch der sich schließenden Tür hatte etwas Endgültiges an sich. Als würde damit ein Kapitel meines Lebens enden. Die Tür unseres Nachbarhauses öffnete sich und Mrs. Bamsy - eigentlich Mrs. Bamskovski, wie ich letzte Woche herausfand - trat heraus. Sie trug einen geblümten Morgenmantel und weiße Stoffschlappen. Wie immer lag ein freundliches Lächeln auf ihrem Gesicht. "Ich dachte, dass ich den Tag, an dem die Hales ausziehen nicht mehr erleben muss," sagte die alte Dame traurig, während sie ihre weißen Haare zurückstrich. "Und doch stehen wir hier und sehen uns zum letzten Mal." Mein Vater lächelte sie an. "Auch für uns war die Entscheidung nicht leicht, doch es ist besser so." Ich war mir da nicht so sicher, erwiderte aber nichts. Auch mein Dad hatte dem Umzug erst nicht zugestimmt. Alles, was man sich über 17 Jahre aufgebaut hatte, plötzlich wegzuwerfen, war auch ihm schwergefallen. Vermutlich konnte er deswegen die Traurigkeit in seinem Blick kaum verbergen, als er ergänzte: "Vielen Dank für alles, Mrs. Bamsy. Wären Sie nicht gewesen, dann...""Ach papperlapapp, machen Sie sich keinen Kopf um mich. Ich bin froh, dass ich helfen konnte!", fiel sie ihm ins Wort. In den paar Wochen nachdem ich aus dem Koma erwacht war, hatte Mrs. Bamsy mich zur Physiotherapie gefahren, als meine Eltern keine Zeit hatten. Bis ich wieder laufen konnte, hatte es eine ganze Weile gedauert. Und jedes mal, wenn ich frustriert war, weil einfach nichts klappen wollte, hatte sie mich wieder aufgebaut. Ob es klassische Kalendersprüche waren oder lustige Familiengeschichten, letztendlich war es mit ihr immer ein lustiger Nachmittag gewesen. Als ich auf sie zulief, um sie in eine Umarmung zu schließen, kamen mir ein paar Tränen, die ich entschlossen wegblinzelte. Ich fragte mich, was es über mich aussagte, dass ich beim Abschied von meiner alten, schrulligen Nachbarin weinte, aber nicht beim Abschied von meinen Freunden. Entweder waren meine besten Erinnerungen von ihnen verloren gegangen oder sie waren einfach keine guten Freunde. Ich hoffte, dass ich in Minnesota bessere Freunde finden würde. "Ich werde dich auch vermissen, Ruby", flüsterte sie ganz leise in mein Ohr, während sie mich an sich drückte. Sie hatte die Tränen also doch bemerkt. Langsam löste ich mich von ihr und wischte mir übers Gesicht. Ich trat einen Schritt zurück und setzte ein zuversichtliches Lächeln auf. Ein bisschen Zuversicht konnte ja nicht schaden. "Ich wünsche Ihnen viel Glück", klinkte sich jetzt meine Mutter ein. "Vielleicht sieht man sich ja mal wieder". Naja, wahrscheinlich nicht, dachte ich. Alles was einmal weg war, kam nicht wieder. Wenn ich im letzten Jahr eins gelernt hatte, dann das. Nun umarmten auch meine Eltern unsere nette Nachbarin. "Ich wünsche euch alles Gute, meine Lieben", sagte sie freundlich. Als wir alle einen letzten Blick zu unserer Haustür warfen, machte sich ein schweres Gefühl in mir breit. Abrupt wandte ich mich ab und lief in Richtung des Wagens. Ich wollte das alles schnell hinter mich bringen. Auch meine Eltern stiegen jetzt ein, da Mrs. Bamsy zurück ins Haus gegangen war. Dad startete das Auto und gemeinsam fuhren wir in unseren Neuanfang.
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DIE TWICE
FantasyAls Ruby nach Minnesota zieht, begegnet sie nicht nur Jake, der noch immer den Tod seiner Freundin verarbeitet, sondern hat auch das Gefühl, dass sie das alles schon einmal erlebt hat. Schnell wird ihnen klar, dass Ruby und Elody, Jakes tote Freundi...