Kapitel 16

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"Ruby, beruhige dich. Einatmen und Ausatmen, ganz langsam. Wir bekommen das hin aber du muss dich beruhigen, okay? Und dann erzählst du mir ganz in Ruhe was passiert ist", sagte Jake eindringlich und beschwichtigend zu mir. Ich konnte nicht sagen, wie viel Zeit zwischen dem Telefonat und diesem Moment vergangen war. Es könnte alles von fünf Minuten bis zu einer halben Stunde gewesen sein. In dieser Zeit hatte ich mich jedenfalls nicht beruhigt, sondern eher das Gegenteil davon. Zu den Tränenflüssen war nun auch die Unfähigkeit zu sprechen, sowie ein abgehacktes Atmen dazugekommen. Jake hatte schon alle Hände voll zu tun damit, mich bei Bewusstsein zu halten. Und das, obwohl er sich wahrscheinlich auch riesige Sorgen machte. Ich schloss meine zugeschwollenen Augen  und zwang mich dazu, tief durchzuatmen. So tief, das meine Lunge fast platzte. Diese Luft nutzte ich, um in einem Atemzug alle Details der Erinnerung auszuspucken. Ich redete wahrscheinlich so schnell und undeutlich, dass selbst ich mich nicht verstanden hätte. Aber als ich meine Augen öffnete, bemerkte ich, dass Jake mich sehr gut hören konnte. Sein Gesicht war voller Entsetzen, als hätte er jetzt erst begriffen, wer Schuld an dem ganzen war. "Dieses Schwein", stieß er aus. Seine Stimme war der Inbegriff von Wut und er ballte die Fäuste. Ich konnte mir nicht einmal annähernd vorstellen, was er gerade fühlte. "Was sollen wir jetzt tun?", fragte ich vorsichtig. "Wir müssen mit ihm reden. Ihn konfrontieren. Ihn leiden sehen", erwiderte Jake, seine Stimme klang kein bisschen weniger wütend. "Okay? Aber was wollen wir ihm denn vorwerfen? Sein Wort steht gegen unseres, wenn ich das so recht betrachte. Und jede Sau würde ihm zustimmen, dass Elody sich das Leben genommen hat. Wir bräuchten schon was Handfestes". Ich hasste das genau so wie Jake. Am liebsten würde ich die Polizei rufen und diesen Mistkerl wegsperren. Aber so lief das leider nicht. So einfach lief das ja nie. "Da muss doch irgendwas sein. Weißt du, warum er genau von der Familie ausgeschlossen wurde?". Jake überlegte kurz. "Vor so ungefähr drei oder vier Jahren hatten Damian und sein Bruder Ezra einen Autounfall. Die Polizeiakte ist geschlossen und unzugänglich, aber irgendetwas kam allen damals komisch vor.  Seitdem und vor allem wegen dieser Seelensache ist der Kontakt zu allen außer zu Elody abgebrochen. Sie hat immer gesagt, jeder Mensch ist dafür da, für jemand anderen da zu sein. Und wenn niemand für Damian da ist, dann ist sie es. Sie hat ihm vertraut und er hat sie belogen und getötet. Ist das fair?", endete Jake resigniert. "Natürlich nicht. Aber wir können es ein bisschen weniger unfair machen. Wir sollten Damian konfrontieren", sagte ich entschlossen. Nichts würde ich lieber tun. "Aber was, wenn er das will? Wenn er das geplant hat? Ich kann dich nicht verlieren. Nochmal halte ich das nicht aus". Ich streckte meine Hand nach ihm aus und zog ihn zu mir. Es tat mir leid, dass er sich solche Gedanken machte und gleichzeitig wusste ich, dass diese Gedanken nicht ganz unberechtigt waren. Mit Elodys Tod war es sicherlich noch nicht vorbei. Trotzdem überwog meine Entschlossenheit, ihm das Handwerk zu legen. "Und das wirst du auch nicht. Ich verspreche es dir. Wir werden mit ihm reden. Aber nicht mehr heute. ich glaube, dazu wären wir beide jetzt nicht in der Lage", sagte ich und lehnte mich auf meinem Bett zurück. Trotz all der Aufregung überkam mich die plötzliche Müdigkeit so heftig, dass mir die Augen zufielen. Jake bemerkte das und legte sich dicht neben mich. Ich konnte seinen Herzschlag spüren, der weit stärker als normal war, und legte mich instinktiv ein wenig näher zu ihm. Ich dachte noch viel über das nach, was Jake über Elody gesagt hatte. War jeder Mensch dafür da, für jemanden da zu sein? Und wenn jemand ganz alleine war, hieß das, dass er diese Person noch nicht gefunden hatte, oder bezog sich diese Regel nicht auf alle? War vor Jake und Allison jemand für mich da gewesen? Und war jemand für Elody da gewesen? Ich glaubte nicht daran. Denn manchmal war eine Person, eine stützende, helfende Person schon Hilfe für sich allein. Nur viele hatten dieses Glück nicht. Viele hatten diese Person nicht. Im Stillen dachte ich an alle, die eine Hilfe brauchten und wünschte mir, dass sie so eine starke Hilfe bekamen wie ich. Denn ohne die beiden hätte ich es nie so weit geschafft. Ohne die beiden wäre ich von meinem dritten Leben nicht mehr weit entfernt gewesen. Diese erschreckende Erkenntnis traf mich zum ersten Mal. Es kam mir vor, als stände ich an der Kante zu einer Klippe. Ich hatte lange Zeit in der Schlucht gesessen und wäre vermutlich bald verhungert. Aber dann hatten Allison und Jake mir eine Strickleiter zugeworfen. Der Weg war nicht einfach gewesen, aber dennoch war ich jetzt oben. Das Problem war nur, dass ich noch immer am Rand stand. Ich hatte das Gefühl, ein einziges Wort könnte mich nach unten stoßen und ich würde tiefer fallen. Und härter aufkommen. 

+++

"Rubina, was hat dieser Junge in deinem Zimmer zu suchen?", riss meine Mutter mich mit ihrer schrillen und hysterischen Stimme aus dem Schlaf. Erschrocken riss ich die Augen auf. Jake lag immer noch neben mir, war aber auch durch meine Mutter wach geworden. Ich konnte sein Grinsen förmlich in meinem Rücken spüren. Hierbei würde er mir nicht helfen. Resigniert seufzend setzte ich mich auf und setzte zu einer Erklärung an. "Mom, das ist Jake, er ist- ". "Ihr Freund. Ich bin ihr Freund", sagte Jake entschlossen. Das hatte ich nicht erwartet. Ich hatte mich  schon länger gefragt, wie ich das zwischen uns definieren sollte, also war ich ganz froh, dass er das übernommen hatte. Aber ich war auch überrascht, dass er überhaupt etwas sagte. Ich dachte, er würde dabei zusehen, wie ich litt. Er stand lässig auf und streckte meiner Mutter die Hand hin. "Hi, ich bin Jake", sagte er mit seinem schönsten Lächeln, aber meine Mutter hob nur eine Augenbraue und ignorierte seine Hand geflissentlich. Jetzt war ich es, die schadenfroh grinste. Ich hätte ihm direkt sagen können, dass meine Mutter ein harter Brocken war. "Alles klar, Jake". Sie sprach seinen Namen sehr deutlich aus. "Da ich jetzt deinen Namen kenne, kannst du ja auch gehen". Sie war so verdammt eiskalt. Aber Jake ließ sich nicht so leicht beirren. "Danke, es freut mich auch, sie kennenzulernen". Am liebsten hätte ich ihm gesagt, dass er genau so gut versuchen konnte, eine massive Steinmauer mit einem Zahnstocher abzutragen, aber ich entschied mich dazu, einzuschreiten. "Mom, entspann dich, bitte. Jake wollte sich sowieso gerade auf den Heimweg machen, oder?". Ich schaute Jake eindringlich an und hoffte, er verstand, dass dieser Kampf verloren war. Aber er verstand nicht. So ein Mistkerl. "Richtig, ich wollte mich gerade auf den Weg machen, aber dann müssen wir wohl eingeschlafen sein. Bei ihnen ist es aber auch echt zu gemütlich". Noch nie hatte ich so heftig den Drang verspürt, jemanden zu schlagen wie jetzt. Ich schubste Jake leicht Richtung Tür und sah ihn warnend an. Er machte es nicht unbedingt besser. Er drehte sich zu mir um und grinste mich an. Anhand seines Blickes konnte ich sagen, dass er etwas vorhatte. Er machte einen schnellen Schritt auf mich zu und küsste mich so filmreif wie noch nie. Ich konnte das entsetzte Aufatmen meiner Mutter förmlich spüren. Ich beendete den Kuss und drängelte ihn nach draußen. "Bis morgen", sagte ich ohne Ton, denn wenn meine Mutter es gehört hätte, hätte sie mich eingesperrt. Noch einmal grinste Jake mich an, warf meiner Mutter ein höfliches Lächeln zu und verschwand dann in den Flur. Meine Mutter sah aus, als überlegte sie, ihn die Treppe herunterzuschubsen, entschied sich dann aber dafür, mich warnend zu mustern. Trotz ihres alles andere als begeistertem Gesichtsausdruck konnte ich ein kleines Zwinkern ausmachen.

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