Kapitel 15

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"Ruby, du musst aufwachen. Es ist gleich dunkel", riss Jakes Stimme mich sanft aus meinem unruhigen Schlaf. War es schon so spät? Meine Mutter würde mich steinigen. "Fuck", stieß ich aus und setzte mich auf. Mit leicht verschleiertem Blick schaute ich aus Jakes Zimmerfenster. die Sonne war schon untergegangen und die Dämmerung setzte ein. Ich schälte mich aus der Decke, die Jake über mich gelegt haben musste. Ich lächelte ihn dankbar an und er grinste zurück. Womit hatte ich das verdient? Ich stand auf und griff nach Handy und Schlüssel, beides lag auf der Fensterbank. Jake umarmte mich von hinten, sodass sein Kopf direkt neben meinem Ohr war. "Bis morgen. Sag deiner Mutter ruhig, dass ich daran Schuld bin. Aber ohne Details, sonst lässt sie mich nie wieder in deine Nähe", sagte er mit einem Schmunzeln. Ich schlug ihm spielerisch auf die Schulter. "Igitt, Jake! Meine Mutter würde dich foltern und umbringen!" "Aber das würdest du verhindern, oder?", fragte Jake herausfordernd. Ich beschloss, ihn noch ein wenig zappeln zu lassen. "Natürlich! Ich will doch nicht, dass meine Mutter ins Gefängnis muss, nur weil jemand seine Hände nicht bei sich behalten konnte". "Ach, ich kann meine Hände nicht bei mir behalten? Du warst es doch, die - mmmhhhppfh". Seine Schlagfertigkeit hatte ich mangels einer Alternative wortwörtlich im Keim erstickt. Schnell zog ich meine Hand wieder von seinem Mund weg, bevor er auf die Idee kam diese anzulecken und ging zur Tür. Dass ich noch immer Jakes Pulli trug fiel mir dabei gar nicht auf. Oder mir wollte es nicht auffallen.

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Ich zählte die Tage bis zum Wochenende. Die Schule war so anstrengend wie noch nie und ich wollte einfach nur eine Pause. Die Erinnerungen, die immer noch täglich auf mich einprasselten, hatten sich mittlerweile angewöhnt, mit einer heftigen Nebenwirkung zu kommen: ich hatte die ganze Woche über schreckliche Kopfschmerzen. So richtig gesehen hatte ich eine Erinnerung aber nicht. Ich erspürte sie manchmal in einer Ecke meines Kopfes, aber dann waren sie wieder weg. Die einzige Sequenz, die mir noch im Gedächtnis blieb, waren die Worte "Du lügst". Immer wieder hörte ich sie, ganz egal welche Bilder dabei abgespult wurden wie bei einem schlechten Film. Ein schlechter Film, der am Ende doch irgendwie Sinn ergab. Nur war das hier offenbar noch nicht das Ende, denn überhaupt nichts ergab einen Sinn. Wenn das hier nicht bald ein bisschen weniger verworren würde, würde ich den Kinosaal verlassen und den Director verklagen. Scheiß auf das Happy End, ich will einfach nur leben. Als wenn das nicht schon schwer genug wäre. Ich war die erste, die ihre Sachen gepackt hatte, als es zum Unterrichtsschluss klingelte. Das mit dem schnell nach draußen stürmen wurde aber leider nichts, weil mich eine Kopfschmerzwelle packte und ich mich schnell setzen musste, um nicht umzukippen. Langsam probierte ich es nochmal und diesmal konnte ich aufstehen und das Klassenzimmer verlassen. Ich versuchte dabei, nicht so auszusehen, als ob meine Beine Wackelpudding waren und mein Kopf gerade mit einem Vorschlaghammer bearbeitet wurde. Denn genauso fühlte es sich an. Jeden verdammten Tag. Vorsichtig gehend machte ich mich auf den Weg zum Ausgang, um diese Schule wenigstens für zwei Tage hinter mir zu lassen. An den Spinden sah ich, wie Allison mich fröhlich zu sich winkte, während sie die Bücher verstaute, die sie nicht brauchte. "Na, wie geht's dir? Immer noch Kopfschmerzen?", begrüßte sie mich. Ich nickte gequält und ihr Lächeln wurde mitleidig. "Das ist echt blöd. Aber weißt du, was dich aufheitern wird? Noah und ich haben heute ein Date!". Sie hatte die Frage beantwortet, ehe ich die Chance dazu hatte, überhaupt zu überlegen. "Also dich heitert das ja offensichtlich sehr auf", bemerkte ich und wackelte ein bisschen mit meinen Augenbrauen. Allison schlug mir spielerisch auf die Schulter. "Ach, hör schon auf und freu dich wenigstens für mich. Ich habe hart dafür gearbeitet". Das hatte sie wirklich. Noah hatte sich oft als unerreichbar ausgegeben und ich hatte Allison viel zu oft sagen müssen, dass das sicher nur an seiner Unsicherheit lag. Umso mehr freute ich mich, dass er es endlich geschafft hatte, sich aus seinem Schneckenhaus rauszubewegen. Schnell wünschte ich ihr viel Spaß und setzte dann meinen Weg nach draußen fort.

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Zu Hause legte ich mich flach auf mein Bett und versuchte, mich und meine Gedanken zu entspannen. Meine Kopfhörer spielten leise Musik und unterdrückten jegliche Geräusche. Ich konzentrierte mich nur auf die kleinen Lichtpunkte, die hinter meinen geschlossenen Augen tanzten und wartete darauf, dass meine Kopfschmerzen weniger wurden. Nach einer Weile war ich fast eingenickt und ich genoss das Gefühl der Entspannung, dass ich so lange nicht gefühlt hatte. Wie ein Blitz durchzuckte der Schmerz meinen ganzen Körper. Ich wollte schreien, aber ich war wie gelähmt. Als wäre ich in meinem Kopf eingesperrt. Ich erwartete schon eine Endlosschleife an kleinen Bildern, aber ich sah nur ein einziges. In gestochen scharfer Qualität konnte ich einen kleinen See sehen. Kurz wunderte ich mich, warum er schief war, bis mir auffiel, dass ich im kurzen Gras lag. Meine Arme waren voller blauer flecken und mein schwarzes Haar hing mir über den Augen. Ich brauchte einen Moment, um zu begreifen, dass ich in einer von Elodys Erinnerungen gelandet war. Keiner guten, wie es schien. Ich konnte eine dunkle Gestalt erkennen, die langsam auf mich zukam. "Du lügst". Elodys Worte. Sie sagte sie zu - wenn es mir möglich gewesen wäre, hätte ich mir die Hände vor den Mund geschlagen. Sie sagte sie zu Damian. Er war schnell näher gekommen und ich erkannte, dass er eine Waffe in der Hand hatte, die er jetzt amüsiert lächelnd auf sie richtete. "Ganz richtig, kleines. Erinnere dich gut an das hier, das wird dir noch öfters passieren. Du wirst verlieren. Das werdet ihr alle". Ich sah wie er abdrückte, bevor ich den Schuss hörte. Elodys Schrei riss jäh ab und ich wurde wieder zurück in meine Realität katapultiert. Schwer atmend riss ich mir die Kopfhörer vom Kopf und griff nach meinem Handy. Mit zitternden Fingern suchte ich nach Jakes Nummer. Das mir dabei Tränen über die Wange rollten, bemerkte ich nicht. Als ich sie endlich gefunden hatte, war meine Sicht so verschleiert, dass ich den richtigen Knopf nur erahnen konnte. Jedes Mal wenn es klingelte, wurde ich etwas nervöser. Ich musste ihn unbedingt erwischen, denn Allison konnte ich nicht anrufen. Als er nach einer gefühlten Ewigkeit endlich abnahm, atmete ich erleichtert auf. "Was ist los?", fragte Jake besorgt, als er mein Schluchzen bemerkte. "Ich hatte eine Erinnerung", brachte ich schwach hervor. Meine Stimme zitterte so heftig, dass ich sie kaum noch unter Kontrolle hatte. "Damian. Er hat Elody getötet. Er ist es, der lügt", brach ich die Informationen auf ein Minimum herunter. Auf der anderen Seite der Leitung hörte ich Jake überrascht aufkeuchen. "Beweg dich nicht. Ich bin gleich da".

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