Kapitel 4

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"Ruby, hilfst du mir bitte die Kartons mit der Deko und den alten Klamotten auf den Dachboden zu räumen?",  fragte meine Mutter am Samstagmorgen. "Klar, ich komme gleich!", rief ich zurück und ging in den Flur, wo meine Mutter bereits auf der Leiter zum Dachboden stand, die nur wenig vertrauenserweckend aussah. Das Holz knarzte gefährlich unter ihren Füßen und wies bereits ein paar Löcher von Würmern auf. Besorgniserregt blickte ich zu meiner Mutter auf, doch die schien das gar nicht zu bemerken. Viel mehr interessierte sie sich für den Staub auf dem Boden, der "mir förmlich entgegenfliegt". Langsam begann ich, ihr auf die Leiter zu folgen, sehr darauf bedacht, nicht noch einmal im Krankenhaus zu landen, als meine Mutter aufschrie. Für einen Moment dachte ich, die Vorbesitzer hatten einen Folterkeller besessen oder etwas ähnlich obszönes, bis meine Mutter etwas ergänzte, was mich nicht unbedingt freute. "Spinnen! Oh nein, Spinnen! Überall!". Da ich um ihre Angst vor Spinnen Bescheid wusste, kletterte ich die Leiter wieder nach unten und fragte: "Soll ich mich um die Spinnen kümmern und dich dann wieder dazuholen?" "Ja bitte, so kommen wir sonst nicht weiter", antwortete meine Mutter und begab sich auf den Weg nach unten. Seufzend und mit einem Staubsauger bewaffnet begann ich, die Spinnen wegzusaugen und gleich auch noch ein bisschen Staub, der eine dicke Schicht auf den Dielen und den Dachbalken bildete. Durch das kleine Fenster fiel zwar nur spärliches Licht in den Raum, die Umrisse einer Kiste in der hinteren Ecke erkannte man aber trotzdem. Neugierig schlich ich zu ihr rüber und ging vor ihr in die Hocke. Auch sie war voll Staub, aber das dunkle Holz war nicht zerfressen und sah auch nicht sonderlich alt aus. Ich war mir unsicher, ob ich sie öffnen sollte. Ich wollte nicht in Geheimnissen einer Familie rumgraben, die ich nicht kannte, das fühlte sich nicht richtig an. Die richtige Reaktion wäre sicherlich gewesen, die Kiste dort stehenzulassen und sie ganz schnell zu vergessen, aber sie übte eine unerklärliche Anziehung auf mich aus. Langsam klappte ich den Deckel auf. Hätte ich diese Kiste nicht geöffnet, wäre die ganze Geschichte sicher anders ausgegangen. Das erste, was mir auffiel waren Kampfsportgürtel in den Farben Blau, Braun und Schwarz. Scheinbar war, wer auch immer diese Kiste gehörte, ein echter Profi gewesen. Interessantes Hobby. Meine Augen wanderten weiter über den Inhalt der Kiste. An der Seite aufgestellt waren zwei schlichte schwarze Notizbücher. Das eine war so zerfleddert, als hätte es erst einen Regenschauer und dann eine riskante Trocknung überstanden, das andere war deutlich dicker und ich vermutete, das dort Fotos reingeklebt waren. Ich beschloss, die Bücher erstmal beiseite zu lassen, ließ meinen Blick weiterwandern und erstarrte. Mir wurde abwechselnd heiß und kalt und es fühlte sich an, als ob mir der Sauerstoff abgedreht wurde. In der Mitte der Kiste lag eine Rose. Ausgetrocknet und zerbrechlich, aber dennoch wunderschön. Vorsichtig, als würde die Rose jeden Moment zu Staub zerfallen, nahm ich sie aus der Kiste und betrachtete sie. Ich hatte diese Rose schon einmal gehalten. Doch dieses Mal machte mir diese Erkenntnis keine Angst. Eine tiefe Trauer überkam mich. Mit Tränen in den Augen legte ich die getrocknete Blume wieder zurück und betrachtete die weiteren Gegenstände. Eine kleine, schwarze Schatulle und ein Stapel loser Fotos. Zuerst betrachtete ich die Schatulle genauer, bevor ich sie aufklappte. Darin befand sich ein hübscher silberner Ring, der aussah, als wäre er nicht oft getragen worden. Auf der Innenseite war ein Zeichen eingraviert, das mir nur zu bekannt vorkam. Es war ein Unendlichkeitszeichen, genau wie das, auf Jakes Ringfinger. Sofort fragte ich mich, ob die beiden Sachen etwas miteinander zu tun hatten, schob den Gedanken aber erstmal zur Seite. Jedenfalls bis mein Blick auf das erste Foto auf dem dicken Stapel fiel. Auf den ersten Blick hätte man ihn gar nicht erkannt. Sein strahlendes Lächeln füllte seine Augen mit einer Freude, die in direktem Vergleich zu der sonst immerwährenden Leere fast unwirklich wirkte. Aber auf den zweiten Blick war es nicht von der Hand zu weisen. Der Junge auf dem Foto war eindeutig Jake. Jake Morgan, die Person, die den Begriff 'Schlechte Laune' bildlich verkörperte, war auf diesem Foto. Und er küsste ein Mädchen. Ihr Haar war schwarz und fiel ihr in langen Wellen vor die strahlend grünen Augen, die glücklich funkelten, während sie Jake innig küsste. Zu dem Zeitpunkt waren seine Haare noch etwas kürzer gewesen, sodass man seine Augen noch besser sehen konnte. Seine Hände hatte er auf der schmalen Taille des Mädchens platziert, sie hatte ihre Arme um seinen Hals geschlungen. Eine perfekte Momentaufnahme. Doch irgendetwas sagte mir, dass das hier schon längst nicht mehr perfekt war. Meine Finger zitterten, als ich den Fotostapel herausnahm und mir das nächste Foto anguckte. Mein Herz kam endgültig zum Stillstand. Auch hier war wieder das Mädchen mit den schwarzen Haaren zu sehen nur diesmal mit einer Person, die ich sofort erkannte: Allison. Auch sie sah auf dem Foto glücklicher aus als jetzt. Ihr Lächeln sah echter aus und ich konnte ihr fröhliches Lachen durch das Foto förmlich hören. Das Bild zeigte Die beiden vor einem Haus. Allison hatte einen Arm um das Mädchen geschlungen und beide hatten ein breites grinsen im Gesicht. Erleichtert stellte ich fest, dass das Haus mir zur Abwechslung mal nicht bekannt vorkam. Auf noch weitere dieser Bilder, die mich an meinem eigenen Verstand zweifeln ließen oder seltsame Erinnerungen hervorriefen konnte ich jedoch verzichten, also nahm ich das zerfledderte Notizbuch zur Hand und schlug es auf. Die Seiten waren größtenteils eingerissen und vergilbt, lesen konnte man es trotzdem. Dort standen manchmal in Schönschrift, manchmal in einer Kladde, die meinem Kindergarten-Ich alle Ehre gemacht hätte, Gedichte. Die meisten reimten sich zwar nicht, aber der Inhalt reichte völlig aus, um mich zu Tränen zu rühren. 

"Alles, was ich tue, ist falsch. Alles. Aber ich kann nicht aufhören. Ich ertrinke in Enttäuschung über mich selbst, alles, was ich einatme ist Angst. Angst vor dem Monster, das ich geworden bin. Ich möchte da durch, ich möchte zu dir, aber ich mache es nur noch schlimmer. Ich hasse es, dass du alles für mich tun würdest, damit es mir besser geht. Und ich hasse es, das ich das nicht annehmen kann. Dass ich dir nicht vertrauen kann. Ich hasse diese Schmerzen, ich will, dass sie aufhören. Aber sie werden nicht aufhören. Nicht in deinen Armen, nicht allein. Es wird nie aufhören, wehzutun, weil ich schon zu tief drinstecke. Danke, dass du es versuchst. Danke, dass du mich liebst. Ich bin eifersüchtig auf alle, die mich so lieben wie du es tust. Weil ich es nie getan habe. Und ich glaube nicht, dass ich es je tun werde."

Dieses Mädchen war eine Künstlerin. Und wahrscheinlich ziemlich depressiv. Die Art, wie sie Dinge in Worte fasste, erstaunte mich. Ich konnte fühlen, was sie fühlt. Nur durch dieses Stück Papier, wie eine Verbindung zwischen zwei Welten. Für einen Moment blitzte ein Bild vor meinem inneren Auge auf. Ein Bild, das sich wie eine Erinnerung anfühlte. Ich sah mich selbst, wie ich dieses Gedicht schrieb. Genau diese Worte, genau diese Schrift. Ich war wie in Trance. So langsam fing ich an zu begreifen, wie groß diese Scheiße wirklich war, in der ich mich befand. Ich hatte lebhafte Erinnerungen, die offensichtlich nicht meine waren, erkannte Orte und Gegenstände, die ich noch nie gesehen haben sollte und redete mir seit einer Woche ein, dass das alles Einbildung wäre. Reiner Zufall. Stress. Aber was, wenn es nicht Einbildung war? Nach dem, was ich gerade gesehen hatte, war es praktisch bewiesen. Das, was hier passierte, lag nicht an Stress. Das hier passierte wirklich. Mein unendlicher Gedankenstrom wurde jäh unterbrochen, als es unten laut an der Tür klingelte.



DIE TWICEWo Geschichten leben. Entdecke jetzt