Kapitel 5

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"Ruby? Für dich!", kam es von unten. Überrascht richtete ich mich auf. Wer klingelte bitte für mich? Langsam kletterte ich die Leiter zum Dachboden runter, wobei diese unter meinem Gewicht gefährlich quietschte. Vom Erdgeschoss hörte ich meine Mutter leise mit der Person an der Tür reden, konnte aber weder verstehen über was sie sprachen, noch konnte ich die Stimme des Gastes identifizieren. Obwohl eigentlich niemand Anderes in Frage gekommen wäre, war ich doch überrascht, als ich Allison auf der Türschwelle stehen sah. Lächelnd begrüßte sie mich mit einem lockeren "Hi Ruby!" und schob dann noch etwas hinterher. "Wir wollten doch zusammen für den Mathetest nächste Woche lernen". "Ähm, ja natürlich, komm rein", antwortete ich gedehnt, weil ich von dem Mathetest entweder nichts gehört hatte, oder, was wahrscheinlicher war, dieser gar nicht existierte. Vielleicht war das ja so ein Codewort für 'Wir müssen unbedingt reden!'. Sowas hatte es in unserer alten Freundesgruppe immer gegeben, ähnlich wie Synonyme für den Jungen auf den man gerade stand wie Ananas oder Fußball. Also ließ ich sie herein, sehr bedacht darauf, dass meine Mutter den 'Was zur Hölle soll das?!'-Blick, den ich Allison zuwarf nicht bemerkte, und machte mich mit meiner Freundin im Schlepptau auf den Weg in mein neues Zimmer, was diese mit einem zufriedenen Lächeln quittierte. Gerade als ich meine Zimmertür hinter uns geschlossen hatte, legte Allison auch schon los. "Was war das heute?", fragte sie und klang dabei irgendwie vorwurfsvoll. "Definiere 'heute'", antwortete ich, obwohl ich natürlich ganz genau wusste, dass sie auf meine Reaktion auf die Frage mit dem Schwimmteam anspielte. Das schien Allison zu ahnen, denn sie erwiderte: "Das weißt du verdammt genau, Ruby. Warum bist du abgehauen? Ich hab mir Sorgen gemacht! Das sah echt gruselig aus wie du gezittert hast!". Ich war unschlüssig, ob ich ihr die ganze Geschichte erzählen sollte. Schließlich kannten wir uns ja erst seit ungefähr einer Woche. Andererseits schien sie echt vertrauenswürdig zu sein, und der Fakt, dass sie extra vorbeigekommen war, um sich zu versichern, dass es mir gut ging, verstärkte dieses Gefühl. Also erzählte ich die ganze Geschichte. Jedenfalls das, was ich kannte. "Vor einem Jahr war ich mit ein paar Schulfreunden an so einem See schwimmen. Wir waren zu fünft. Um den See herum waren so kleine hohe Felsen und wir hatten natürlich den äußerst bescheuerten Plan da runter zu springen. Ich zuerst. Ich bin gesprungen und ab da konnte mir hinterher niemand sagen was genau passiert ist. Ich erinnere mich nur noch daran, dass ein Stein meinen Kopf getroffen hat und ich von da an komplett die Orientierung verloren hatte. Ich wollte nach oben schwimmen, bin aber nach unten und am Grund hab ich dann Panik bekommen und Wasser geschluckt. Dann bin ich wahrscheinlich bewusstlos geworden und irgendjemand hat mich rausgezogen. Im Krankenhaus wurde ich dann in ein künstliches Koma versetzt, aus dem ich erst vor einem halben Jahr wieder aufgewacht bin. Seitdem ist alles an Erinnerung an mein Leben weg, außer das Gefühl unter Wasser zu ersticken. Deshalb werde ich definitiv nicht ins Schwimmteam kommen", beendete ich meinen Bericht. Eine Zeit Lang sagte keiner von uns beiden etwas, während Allisons Gehirn offensichtlich noch immer verarbeitete, was es gerade zu hören bekommen hatte. "Whoa! So eine krasse Geschichte hatte ich jetzt nicht erwartet. Das heißt ich hör ab jetzt mit dem Thema Schwimmen auf, sorry. Aber nochmal ganz kurz: du erinnerst dich an gar nichts? Also überhaupt nichts?", fragte sie. "Also so ein paar Fetzen wie gesagt von dem Unfall aber sonst so gut wie nichts. Halt nur Grundwissen also Lesen und Schreiben und so. Aber das weiß niemand außer dir und das soll auch so bleiben, also pssst!", erwiderte ich. Allison setzte ein entsetztes Gesicht auf und sah aus, als würde sie gleich den Exorzisten rufen. "Warte, warte, warte du hast einen komischen Unfall, liegst im Koma, kannst dich an nichts erinnern und erzählst das keinem? Bist du verrückt? Du könnest eine ernsthafte Krankheit haben!". Ihre Stimme war immer lauter geworden, weswegen ich sie mit einem warnenden Blick anschaute. Ich wollte mein Vertrauen in sie nicht direkt bereuen. Ohne auf mich zu achten machte sie genauso laut weiter. "Wie kommst du klar? Musstest du die ganze Zeit so tun als ob du noch alle kennst?". "Ja, und das hat eigentlich auch wunderbar geklappt. Immer wenn jemand mich gefragt hat, was entweder mit mir oder mit Ereignissen aus der Vergangenheit zu tun hat, hab ich mir entweder was ausgedacht, oder ich habe die Informationen verwendet, die ich angesammelt habe. Ich hatte eine ganze Mappe mit Steckbriefen und alten Geschichten, die mir erzählt wurden. So hatte ich eigentlich nie Probleme", erklärte ich. Allisons Gesichtszüge wurden noch ein bisschen wahnsinniger. "Ich fass es nicht. Ich bin mit einer verrückten Stalkerin befreundet, die ihre Familie anlügt! Da kommt jetzt aber nicht noch was oder? Bist du irgendwie verflucht oder so?". Gott, wenn Allison wüsste. Sie würde mich sofort einweisen, so viel war sicher. Aber ich brauchte dringend jemanden zum reden, also entschloss ich mich, die Geschichte noch viel schlimmer zu machen. "Ehrlich gesagt bin ich mir da selbst nicht mehr so ganz sicher", sagte ich vorsichtig. Ich hatte keine Idee, wie ich anfangen sollte. Wahrscheinlich würde Allison mich sowieso für verrückt erklären, also entschloss ich, einfach von vorne anzufangen. Aber wo war vorne? Ich überlegte eine Weile, bis ich einen guten Anfang gefunden hatte, dann legte ich los. "Es fing eigentlich schon an, als wir hierher gezogen sind. Also in das Haus. Es kam mir so bekannt vor, als würde ich hier schon länger leben. Ich hab es darauf geschoben, dass unser altes Haus ganz ähnlich war und das erstmal so stehengelassen. Bis zum ersten Schultag. Ich bin den Flur entlanggegangen und, wahrscheinlich hattest du das auch schonmal, hatte das Gefühl, da schon einmal langgegangen zu sein. Ich kannte den Flur, jedes Detail. Aber damit hatte ich schon Erfahrungen, deswegen habe ich mir nichts dabei gedacht. Dann ist es aber immer wieder passiert. Draußen, hier im Haus, in der Schule, sogar bei einem Gespräch mit dir. Ich habe mir aber keine Sorgen gemacht, weil ich es zum einen auf Stress geschoben habe, und zum anderen bin ich eine verrückte Psychopatin, die sich nicht einmal Gedanken macht, wenn sie ihr Gedächtnis verliert. Aber kurz bevor du gekommen bist, sollte ich oben den Dachboden ein bisschen saubermachen, damit wir unsere Sachen nach oben räumen können und dabei ist mir so eine kleine Holzkiste aufgefallen. Ich hab sie aufgemacht und da waren ganz viele Sachen drin. Kampfsportgürtel, Notizbücher, Fotos und eine getrocknete Rose. Und auf jedem der Fotos ist dieses Mädchen. Schwarze Haare, grüne Augen. Und auf einem Foto bist du mit ihr drauf und auf einem anderen ist sie mit Jake zu sehen. Und ich sehe diese Bilder und sehe mich darin ich lese diese Gedichte in dem Notizbuch und erinnere mich daran, wie ich sie geschrieben habe. Es fühlt sich an, als würde ich ein fremdes Leben leben, während mein altes ausgelöscht wurde! Wer ist das und warum kenne ich sie?". Ich klang selbst in meinen Ohren verrückt und verzweifelt, aber das sah Allison offenbar nicht so. Sie war kalkweiß im Gesicht. "Elody", sagte sie und ihre Stimme zitterte kaum merklich. "Das sind Elodys Sachen". "Wer ist Elody?", fragte ich. Kurz überlegte ich, ob es taktlos von mir war das zu fragen. Diese Elody schien ein schwieriges Thema zu sein, Allisons Gesicht nach zu urteilen. Andererseits hatte sie ja damit angefangen, also ließ ich die Frage einfach mal so stehen. "Elody ist, äh war", verbesserte sie sich, während sich Tränen in ihren Augen bildeten, die dadurch noch blauer wirkten "meine beste Freundin seit dem Kindergarten", beendete sie ihren Satz. "Was ist passiert?", fragte ich. Ich machte mich auf das schlimmste gefasst, aber ihre Antwort brach mir das Herz. "Ein Schuss. Sie war hier nicht glücklich. Und vor einem halben Jahr hat sie sich dann dazu entschieden -". Ihre Stimme brach und Tränen strömten ihr über das Gesicht. Ohne zu zögern nahm ich sie in den Arm. Sie tat mir unendlich Leid. "Aber was du mit ihr zu tun hast, weiß ich auch nicht. Weil das echt komisch ist, dass du dich an sie erinnerst. Aber um ehrlich zu sein du bist ein bisschen wie sie. Also wie sie an den guten Tagen. Das hab ich mir schon gedacht als ich dich gesehen habe. Wie du da standst, so völlig ahnungslos". Jetzt konnte ich ein kleines Lächeln aus ihren Worten heraushören. Langsam löste ich mich aus der Umarmung und schaute meiner Freundin ins Gesicht. "Weißt du was, vielleicht bin ich es ja. Ihre Erinnerungen hab ich ja schon!", sagte ich. Mir war durchaus bewusst, dass das genauso psychopathisch klang wie einen Gott zu beschwören, aber das interessierte mich in meiner Situation eher weniger. Ich erinnerte mich schließlich an Dinge, die ich nicht getan hatte. Den gleichen Gedanken hatte Allison offenbar auch, denn sie antwortete: "Ich sehe dich gerade nicht in der Position Witze zu machen. Nach dem, was du mir hier erzählst, kann das verdammt gut sein! Ich hätte nicht gedacht, dass ich das mal sage, aber: ich freu mich auf das, was noch kommt. Lass uns rausfinden, was du bist!". Ihr Enthusiasmus überraschte mich. Aber auch ich interessierte mich dafür, was hier abging, also nickte ich zustimmend. Wir redeten noch ein bisschen darüber, was wir jetzt vorhatten. Dann klingelte Allisons Handy und als sie den Namen des Anrufers auf dem Handy sah, verschwand ihr leichtes Lächeln augenblicklich. "Sorry, da muss ich ran", sagte sie, schluckte und nahm den Anruf entgegen. "Hey JayJay! Wie geht's dir? - Nein, es wird alles gut, glaub mir. - Sind Mom oder Dad da? - Okay dann komme ich jetzt. - Nein, alles gut du unterbrichst mich bei nichts.- Bleib einfach wo du bist ich komme und dann machen wir was schönes, ja? - Doch, du schaffst das, ganz sicher. - Tschüss, bis gleich!", war alles, was ich von dem Gespräch mitbekam. "Das war mein kleiner Bruder, ich muss jetzt los, tut mir leid. Heute geht es ihm nicht so gut, er schlägt nach Elody, weißt du?", sagte Allison. Jetzt tat sie mir noch mehr leid. Zwei Personen im Leben zu haben, die so unglücklich waren, war bestimmt nicht leicht. "Ähm ja klar, geh nur. Wir sehen uns morgen in der Schule, oder?", fragte ich, einfach um irgendetwas zu sagen. "Ja, klar und dann forschen wir weiter, du Psychopathin!", antwortete Allison. Und ich glaubte, das war das erste Mal, dass jemand es geschafft hatte, das Wort 'Psychopath' zu etwas positivem zu machen.

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