Kapitel 8

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"Ruby, Ruby, Ruby! Hast du das gehört? Hast du?", rief Allison aufgeregt. Hatte ich. Wer nicht? Sogar für Taube war der laute und ohrenkrebserregende Klang der Türklingel nicht zu überhören. Ich wusste nicht mal, ob Ohrenkrebs überhaupt existierte, aber wenn nicht, dann spätestens, als mir Allison noch zusätzlich ins Ohr schrie. "Das ist bestimmt Noah! Der kommt nie irgendwo zu spät. Jake glaubt, das läge an seinen Genen oder sowas, aber so wie der Auto fährt kommt der überall in fünf Minuten hin." "Willst du aufmachen oder soll ich?", fragte ich und unterbrach ihren Redefluss. Wer auch immer vor der Tür stand sollte nicht bis morgen warten müssen. Allison verzog ihr Gesicht und tat so, als müsste sie unglaublich gut darüber nachdenken. Dann antwortete sie, mit einer Stimme, die so klang, als hätte sie gerade die Erleuchtung erfahren. "Du natürlich! Ist doch deine Party!". Das war mein Stichwort. Ich sprintete die Treppe nach unten in einer Geschwindigkeit, die ich mir selbst nicht zugetraut hatte. Ich hasste es, Leute warten zu lassen. Und besonders, da ich noch ein Image aufzubauen hatte, hatte ich mir vorgenommen, mir besonders Mühe zu geben. Ich öffnete die Tür und überspielte meinen kleinen Herzinfarkt mehr oder weniger filmreif mit einem Lächeln. Wahrscheinlich eher weniger. Jake, der vor der Tür stand, sah mich kurz ein bisschen besorgt an. Ich wünschte, Allison hätte die Tür aufgemacht, das wäre nicht so peinlich geworden. Sie hätte ja nicht einmal eine Miene verzogen wenn - wie eigentlich erwartet - Noah vor der Tür gestanden hätte. Ich fing mich wieder, jedoch leider nicht ohne vom Gesicht bis zu den Zehenspitzen so rot anzulaufen wie meine Haare. Jake entspannte sich wieder und lächelte jetzt aufmunternd. Noch immer nicht so ganz bei der Sache, versuchte ich so deutlich wie möglich das zu sagen, was Allison mir Minuten vorher eingetrichtert hatte. "Schön, dass du da bist! Komm doch rein", nuschelte ich und kam mir gleich noch ein bisschen blöder vor. Ich klang wie meine Mutter, die eine Tupperparty mit ihren Nachbarn veranstaltete. Ich hoffte inständig, dass sich das im Laufe des Abends besserte. Ich trat zur Seite und ließ Jake ein, der Zielsicher eintrat und seine Jacke an die Garderobe hängte. Vermutlich kannte er dieses Haus so gut wie sein eigenes. Sofort tat er mir leid. Auch er hatte an Elody so viel verloren. Am liebsten hätte ich ihn umarmt, hier und jetzt. Aber das hätte nicht unbedingt dazu beigetragen, die komische Stimmung aufzulockern. Vermutlich eher im Gegenteil. Gott, ich hoffte, Allison würde gleich runterkommen. Zum Glück klingelte es in diesem Moment zum zweiten mal und ich konnte mein immer noch rotes Gesicht von Jake abwenden und erleichtert aufatmend die Tür öffnen. Diesmal fiel die Begrüßung weniger unangenehm aus, denn vor mir standen Avery und Darcy. "Hi, ihr beiden! Kommt rein!", sagte ich mit einem leichten Lächeln, glücklich darüber, dass Jake sah, dass ich auch anders konnte. Meine Freundinnen betraten hintereinander das Haus, während auch Allison runterkam. Zusammen gingen wir in die Küche und Jake, Avery und Darcy halfen, die restlichen Snacks auf der Tischreihe neben den Getränkekisten zu stellen. Danach setzten wir uns auf die Couchlandschaft und Avery und Darcy gratulierten mir zum Geburtstag. Sie überreichten mir sogar ein Geschenk, was mich sehr überraschte. Es waren wunderschöne Ballettstulpen in Weinrot, die im richtigen Licht leicht glitzerten. Ich freute mich riesig und umarmte die beiden herzlich. Auch Jake gratulierte mir und diesmal konnte ich mich nicht zurückhalten und umarmte auch ihn. Dabei atmete ich seinen Geruch ein und fand es nicht erschreckend, dass ich mich an sein Parfum erinnern konnte.

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"Küssen, Küssen, Küssen!", schrien ungefähr alle außer das Paar, dass sich küssen sollte. Nachdem alle Gäste angekommen waren, wurden schnell in Kleingruppen Partyspiele vorgeschlagen und gespielt. Ich war immer wieder rumgegangen und hatte bei allem schon mindestens zweimal mitmachen müssen. Bis jetzt war es für mich aber ganz gut ausgegangen. Ich hatte beim Flaschendrehen Allison geküsst und mich in "Seven Minutes in Heaven" sieben Minuten lang gut mit Noah unterhalten. Vielleicht hatte ich dabei auch das ein oder andere mal Allison erwähnt. Mittlerweile saß ich wieder im Kreis, in dem eine Leere Flasche gedreht wurde. Dieses mal hatte es zwei von Allison Freunden getroffen, die mir zuvor als Sara und Gideon vorgestellt wurden. Sie beide schienen nicht sonderlich begeistert von der Auswahl der Flasche zu sein. Aber so waren nun mal die Regeln. Langsam und unwillig krabbelte der nicht unbedingt attraktive und sehr kleine Gideon auf Sara zu, die nicht minder angeekelt guckte. Kurz und schmerzlos drückte Gideon ihr einen Kuss auf den Mund und rückte dann sofort wieder ab. Beide wischten sich gleichzeitig über das Gesicht und alle lachten. So ging das jetzt schon länger. Niemand traute sich, den ausgewählten Partner ordentlich zu küssen. Ob das daran lag, dass es zu wenig Drinks gab oder daran, dass sich einfach noch nicht die richtigen Pärchen gefunden hatten, wusste ich nicht. Sara gab der Flasche einen kleinen Schubser und wir beobachteten alle gespannt, wen die Flasche erwählen würde. Sie drehte sich immer langsamer, bis sie irgendwann stoppte. Vor Darcys Füßen. Diese lächelte und drehte die Flasche mit so viel Schwung, dass diese leicht über den Wohnzimmerboden schrappte. Ein Raunen ging durch die Runde, als die Flasche schließlich vor Avery liegen blieb. Ich erwartete einen freundschaftlichen Kuss, aber was wir von den beiden zu sehen bekamen, hatte keiner erwartet. Die beiden standen auf, liefen aufeinander zu und küssten sich so, wie ich noch nie jemanden küssen gesehen hatte. Sie schlangen ihre Arme umeinander und ihre Lippen trafen sich leidenschaftlich. Alle im Kreis jubelten und auch dann, als sie nach zehn Sekunden aufhörten, waren alle begeistert. Sie lösten sich voneinander, lächelten sich an und setzten sich dann Hand in Hand nebeneinander. Ich konnte kaum in Worte fassen, wie sehr ich mich für die beiden freute. Insgeheim dankte ich Allison für die Idee einer Party. Langsam und unauffällig zog ich mich wieder aus dem Kreis zurück und schlenderte mit meinem Drink in der Hand zu dem kleinen Grüppchen, dass sich unmittelbar vor der kleinen Besenkammer aufhielt und gerade lautstark diskutierte, wer als nächstes das Vergnügen haben würde, sieben Minuten zu zweit in der Kammer eingesperrt zu sein. Allison stand schonmal fest. Ich sah meine Chance und schrie über alle Stimmen hinweg: "Noah geht!". Allison warf mir einen eindeutigen 'Darüber reden wir noch - Blick' zu, den ich mit einem zufriedenen Lächeln quittierte. Gegen meine Anordnung hatte außer Allison niemand etwas einzuwenden. Sogar Noah grinste nur und lief zielsicher auf die Tür zu. Er öffnete sie und hielt sie Gentleman like für Allison auf. Diese lief zwar hochrot an, ging aber an ihm vorbei in das kleine Zimmer. Jake, der für den Timer zuständig war, tippte ein paar mal auf seinem Handy herum, wobei ich schwören konnte, ein schmales, spitzbübisches Lächeln auf seinen Lippen zu sehen. Ich schlich zu ihm rüber und blinzelte ihm über die Schulter. Der Timer stand auf zehn Minuten. "Hat Noah dich dafür bezahlt?", fragte ich ihn amüsiert. Jake drehte sich zu mir um und grinste mich an. "Nein, aber das wird er noch. Du willst nicht wissen, wie sehr er mir in letzter Zeit die Ohren vollheult. Ich glaube, ich habe ihn noch nie so verknallt erlebt!". "Das trifft sich gut, sehr sogar. Allison steht schon seit einem Jahr auf ihn", vertraute ich Jake an. Es war schön zu wissen, dass auch Noah Gefühle für Allison hatte. Und noch schöner, dass Jake und ich sie beide unterstützten. Die nächsten zehn Minuten warteten wir alle gespannt auf das Ablaufen des Timers. Währenddessen unterhielten Jake und ich uns über die Schule und über unsere Freunde. Von der anfänglichen Unbehaglichkeit war nichts mehr zu spüren, wir unterhielten uns fast, als würden wir uns schon ewig kennen. " Tut ihr ja auch", sagte eine Stimme in meinen Kopf, die Gänsehaut auf meinen Armen verursachte. Ich hoffte inständig, dass diese Stimme absolut keine Ahnung hatte. Das leise Piepsen von Jakes Handy riss mich aus meinen Gedanken. Sofort riss jemand von außen die Tür auf, nur um Allison und Noah eng umschlungen auf dem Boden sitzend zu sehen. Als Allison das Publikum bemerkte, tippte sie Noah heftig auf die Schulter und versuchte ihn mit aller Kraft von sich weg zu schieben. Dieser dachte aber gar nicht daran, sie je wieder herzugeben. Irgendwie schaffte er es, sie beide hochzuhieven, ohne  seine Arme von ihr zu nehmen. Bis über beide Ohren grinsend und mit einem unerschütterlichen Selbstvertrauen traten die beiden aus der Kammer heraus und wurden von Jubel und Applaus empfangen. Jake und ich grinsten uns amüsiert an.

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"Ich bin wichs und fertig!", flüsterte ich kaum hörbar und ließ mich erschöpft neben Jake auf der Couch nieder. Dieser sah mich aufgrund des aus versehen eingebauten Sprachfehlers jetzt komisch an. Die letzten fünfzehn Minuten hatte ich krampfhaft versucht, ein paar Gäste davon zu überzeugen, nicht nach oben zu gehen. Ich hatte schon damit gerechnet, die Argumentation zu verlieren, als Noah und Allison kamen und ihre Hilfe anboten. Ich hatte mich dann ohne etwas zu  sagen umgedreht und ihnen das Chaos überlassen. Auf der Couch im Wohnzimmer hatte ich Jake vorgefunden und mein müdes und angetrunkenes Hirn hatte den grandiosen Vorschlag ausgespuckt, diese Chance zu nutzen. Ich war zu kraftlos, um mich dagegen zu wehren und hatte schließlich nachgegeben. Jake, der meine Anwesenheit jetzt erst bemerkte, setzte sich leicht auf und lächelte schwach. "Erste Party, oder?", fragte er. "Ja. War auch nicht meine Idee. Allison hat mich gezwungen". "Das hab ich mir schon fast gedacht. Allison ist eine tolle Freundin, wenn auch etwas aufdringlich. Elody hat das immer geholfen". Den letzten Satz flüsterte er so leise, dass ich Mühe hatte ihn zu verstehen. Mitfühlend sah ich ihn an. "Tut mir leid, das mit Elody. Ich weiß, was sie euch bedeutet hat". "Danke". Wir verfielen wieder in Schweigen und ich war zu müde, um es zu unterbrechen. Jake war es, der als nächstes etwas sagte. "Weißt du, was witzig ist? Ich habe hier auf dieser Party so gut wie jedes Mädchen geküsst. Jedes außer dich. Dabei bist du doch das Schönste von allen", sagte er mit einem kleinen Lächeln. Mein Herz rastete komplett aus. Hatte er das gerade wirklich gesagt? Und wenn ja, erwartete er eine Antwort? Ich zwang mich dazu, einen kühlen Kopf zu bewahren und suchte händeringend nach den richtigen Worten. Ich gab es auf und mein Gehirn übernahm. "Dann tu es doch", sagte ich gelassen und war im nächsten Moment geschockt von mir selbst. Jake schaute kurz überrascht, aber dann bewegte er sich zielsicher auf mich zu. Unsere Lippen berührten sich und - die Erinnerung traf mich wie ein Blitzschlag. Jake küsste mich, die Hände in meinen schwarzen Haaren vergraben. Moment, meine Haare waren nicht schwarz. Ich wurde zurück in die Gegenwart katapultiert, zurück auf die Couch, auf der unser Kuss noch immer nicht endete. Ich wollte nicht, dass er jemals endete.

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