"Ruby, denkst du das, was ich denke?", raunte Jake mir zu. "Ich glaube leider schon", gab ich zurück. Das vor uns war nicht Jayden. Nicht mehr. Verdammt. "Ich glaube, du hast zu fest zugeschlagen", raunte ich Jake zu und verpasste es dadurch, Allison zu warnen, die voller Freude auf den Körper ihres Bruders zurannte und ihn umarmte. Erst sah es aus, als würde der vermeintliche Jayden die Umarmung erwidern, aber dann holte er aus und beförderte Allison mit einem gezielten Schlag ins Reich der Träume. Noah kombinierte sehr schnell. "Verdammte Scheiße", entfuhr es ihm. Da hatte er verdammt Recht. "Was tun wir jetzt?", flüsterte ich und spürte, wie Panik in mir aufstieg. Noch einmal würde ich wohl kaum so ein Glück haben. "Na, damit habt ihr zwei nicht gerechnet, was? Jake hat echt einen härteren rechten Haken, als ich dachte", sagte Damian amüsiert zu uns. Ich wich langsam ein paar Schritte zurück, aber Damian zog direkt nach. Diesmal würde er keine Zeit verlieren, das wusste ich. Noah jedoch verstand, was ich damit hatte bezwecken wollen, und stürmte auf Allison zu, um ihr zu helfen. Damian kam weiter auf mich zu, ohne die beiden zu beachten. "Wisst ihr, durch euren kleinen Fehler wird deine kleine Freundin jetzt auf ewig gezwungen sein, mit mir zusammenzuleben. Und sie kann kein einziges Wort sagen. Das würde sie sich nicht trauen", sagte Damian und bedachte meine am Boden liegende Freundin mit einem nachsichtigen Lächeln, als wäre es eine ehrenvolle Tat, sie nicht direkt zu töten. In mir brodelte es. Dieses Schwein hatte nicht einmal den Anstand, sie dabei zusehen zu lassen, wie ihr Bruder starb. Ich ballte meine Hände zu Fäusten und fasste einen Plan. Er war riskant, aber möglich. Ich brauchte nur ein bisschen Vertrauen in mich. Und zum ersten mal in meinem Leben fiel mir das nicht schwer. Trotz Jakes leisem Flüstern ging ich einige Schritte auf Damian zu, dabei öffnete ich meine Fäuste nicht. Er sollte ruhig denken, dass ich mich überschätzte. "Und wie willst du das anstellen? Du hast hier einen öffentlichen Ort und drei Zeugen, wenn du Pech hast auch noch so fünf bis zehn Überwachungskameras". Das war ein reiner Bluff, aber Damian schluckte ihn wie Wasser. Seine siegessichere Haltung lockerte sich etwas und er räusperte sich, bevor er antwortete. "Keine Sorge. Deine kleinen Freunde werden schön schweigen, während die Polizei die Beweise für deinen Selbstmord untersucht". Die Überwachungskameras überging er bei seiner schlagfertigen Antwort. Scheinbar hatte ich ihn damit wirklich aus dem Konzept gebracht. Zeit für den nächsten Schritt. Ich ging noch ein paar Schritte auf ihn zu, unsere Schuhspitzen berührten sich beinahe. Mein Gesicht war der Inbegriff von Angst und Wut, hoffte ich zumindest. Wie gesagt, ich war eine grottige Schauspielerin. Natürlich war ich auch wirklich wütend, und die Panik in mir ließ sich kaum noch unterdrücken, aber lieber überspitzte ich meine Gefühle anstatt sie wirklich zu zeigen. "Was willst du jetzt tun? Mich verprügeln? Oder pfeifst du gleich dein Schoßhündchen her?", spottete er. Mit 'Schoßhündchen' war dann wohl Jake gemeint. "Wenn es sein muss", erwiderte ich nur. "Dazu wird es nicht kommen", sagte Damian und währenddessen packte er meine Arme, und zerrte sie hinter meinen Rücken. Schmerzhaft, aber gut für meinen Plan. "Also wenn ich du wäre, würde ich darauf achten, dass ich keine blauen Flecken habe. das würde nicht so gut zu diesem ganzen Selbstmord Image passen. Und ich bin Hauttyp eins. Da ist das sogar vorprogrammiert. Nicht, dass man am Ende sogar noch deine Fingerabdrücke erkennt", raunte ich ihm zu, als wäre es der Geheimtipp. Damian lockerte seinen Griff tatsächlich etwas und ich konnte nicht anders, als mir im Stillen zu gratulieren. Dieser kurze Triumphmoment hielt jedoch nicht lange an, denn Damian steuerte auf die Feuerleiter zu, die auf das Dach des Gebäudes führte. Das von mir aufgebaute Selbstbewusstsein fiel in sich zusammen wie ein Kartenhaus. Meine Körperspannung ließ etwas nach, aber ich versuchte, mir nichts anmerken zu lassen. Eine winzige Chance bestand noch, dass es trotzdem funktionieren konnte. Mittlerweile war Damian mit mir im Schlepptau am Fuß der Treppe angekommen. Da die Treppe kaum breit genug für eine einzelne Person war, musste er mich zwangsläufig vor sich hergehen lassen. Diesen Bruchteil eines Positionswechsels nutzte ich, um meine Arme in die richtige Position zu bringen. Dann scheuchte mich Damian die schmale Treppe nach oben. Langsam zog eine bleiernde Schwere an mir. Mein Adrenalin war aufgebraucht und die Wunde an meinem Hinterkopf pochte heiß und schmerzhaft. Lange würde ich das nicht mehr ignorieren können. Ich schleppte mich die letzten Stufen nach oben und war schließlich auf dem Dach angekommen. Unaufhörlich drängte Damian mich weiter in Richtung Kante. Die Panik in meinem Herzen lähmte mich immer stärker, aber ich musste durchhalten. Noch vier Schritte. Noch drei. Noch zwei. Noch einer. Wir standen am Rand des Dachs. Der Wind schlug mir ins Gesicht und ich war mir nicht ganz sicher, ob Damians Worte bei den anderen ankamen. "Noch irgendwelche letzte Worte", fragte er, seine Stimme war ganz nah an meinem Ohr. Jetzt oder nie. "Ja", antwortete ich fest. "Du kannst mich mal". Mit diesen Worten rammte ich ihm meine Ellbogen in den Bauch. Mit einem erstaunten Japsen taumelte Damian ein paar Schritte zurück. Die paar Sekunden nutzte ich, um herumzuwirbeln und meinen nächsten Angriff zu starten. Dafür würde ich allerdings ganz besondere Hilfe brauchen. Elodys Hilfe. Ich konzentrierte mich auf mich selbst und suchte nach all den Erinnerungen, die mit Kampfsport zu tun hatten. Als ich sie in einer Ecke meines Bewusstseins erpähte, packte ich sie und zerrte sie in das Zentrum meiner Gedanken. Mein Körper stellte sich in den Überlebensmodus und ich gab die Kontrolle ab. Ich näherte mich Damian, der sich mittlerweile von meinem Überraschungsangriff erholt hatte und drängte ihn mit einer Mischung aus Schritt- und Schlagabfolgen zurück. das funktionierte auch ganz gut, jedenfalls bis Damian anfing, sich zu wehren. Denn eins hatten Elody und ich noch gemeinsam: wir konnten beide nicht einstecken. Ein paar seiner Angriffe konnte ich blocken oder parieren, aber ein paar Schläge konnte ich nicht abwehren. Langsam ging mir die Geduld und die Kraft aus. Bald würde ich einen Fehler machen und dann - da war er auch schon, der Fehler. Ich hatte zu viel nachgedacht, und seinen Schlag nicht kommen sehen. Die Wucht seiner Hand fegte mich von den Füßen und ich kam unsanft auf dem Boden auf. Bedrohlich ragte Damian in Jaydens gut trainiertem Körper über mir auf. "Dachtest du wirklich, es würde so einfach werden?". Ja, das hatte ich wirklich gedacht. Wie konnte ich nur so dumm sein. Damian lächelte leicht und bedrohlich, langsam streckte er seine Hand nach mir aus, um mich wieder nach oben zu zwingen, aber er hatte die Rechnung nicht mit Noah gemacht. Ich war zwar genau so überrascht wie er, aber das musste er ja nicht wissen. "Du siehst doch, dass es so einfach ist", erwiderte ich also leichtfertig und sah dabei zu, wie Noah ihn fertigmachte. In Sachen Kampfkunst mochte Damian ja ein paar Vorteile haben, aber Noah war ihm von der Körperkraft her weit überlegen. Mit heftigen Tritten beförderte er Damian einige Meter zurück. dabei kam er der Kante gefährlich nah. "Noah, Vorsicht! Wir müssen uns ja nicht strafbar machen", versuchte ich es, aber er hörte mich nicht. Damian verlor das Gleichgewicht und fiel. Wie in Zeitlupe bewegte sich Jaydens Körper Richtung Boden. Ich wollte schreien, aber ich konnte nicht. Ich konnte nur noch in Allisons Augen sehen, hinter denen gerade eine Welt zusammenbrach.
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Die Goldfolie, die Allison vom Sanitäter gegeben wurde, raschelte, als Allison sie näher um sich zog. Dabei beobachtete sie, wie sie Jaydens Leiche abtransportierten. Es war ein Selbstmord gewesen. Nicht mehr, nicht weniger. Noah traf keine Schuld, genau so wenig wie mich. Wir hatten es nur verhindern wollen. Nach meiner Erklärung hatte Allison verstanden, dass Jayden schon vorher tot gewesen war. Aber das änderte nichts daran, dass es einige Zeit brauchen würde, bis zwischen den beiden wieder alles gut war. Es würde einige Zeit brauchen, bis für uns alle wieder alles gut war. Aber diese zeit würde vergehen, und mit Jake an meiner Seite noch viel schneller. Seufzend zog ich seine Arme enger um mich, denn der Wind hatte inzwischen zugenommen und pfiff kalt über den Platz. Ich betrachtete die Blätter, die vom Wind aufgewirbelt wurden. Sie ließen mich an den letzten Herbst denken. Den Herbst, an dem mir schon nichts mehr normal schien. Wie Unrecht ich damit hatte.
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DIE TWICE
FantasyAls Ruby nach Minnesota zieht, begegnet sie nicht nur Jake, der noch immer den Tod seiner Freundin verarbeitet, sondern hat auch das Gefühl, dass sie das alles schon einmal erlebt hat. Schnell wird ihnen klar, dass Ruby und Elody, Jakes tote Freundi...