"Ruby, da bist du ja! Ich habe dich schon gesucht!". Als ich bei den Spinden ankam, wartete Allison bereits auf mich. Seit meines ersten Schultages waren bereits vier Tage vergangen und Allison war schon jetzt eine beste Freundin für mich. In jedem Kurs, den wir zusammen besuchten, saßen wir nebeneinander und sie versorgte mich mit allen Informationen, die ich über die Schule und ihre Schüler haben musste. Sie unterhielt sich in der Cafeteria immer nur mit mir, denn scheinbar hatte auch sie kaum Freunde, was mich eigentlich wunderte, da Allison der coolste Mensch war, den ich kannte. Aber bei allen Gesprächen, die wir führten, hatte ich das Gefühl, sie schon einmal geführt zu haben. Beinahe jedes Wort kam mir bekannt vor, aber ich wusste weder woher noch wieso. Aber diesen Gedanken schob ich immer wieder zur Seite, dafür war im Moment keine Zeit. Während der ganzen Woche hatte ich auch immer wieder an Jake denken müssen, der in jeder Unterrichtsstunde ganz hinten saß und sich selten beteiligte. Die Traurigkeit war seit Montag nicht aus seinen Augen verschwunden, und ich fragte mich noch immer, ob ich irgendwann den Mut dazu haben würde, Allison danach zu fragen. Aber wie es schien, war sie gerade die, die mich etwas fragen wollte. "Ich wollte dich fragen, ob du nicht Lust hättest, ins Schwimmteam einzutreten. Ich bin da auch und es macht echt Spaß! Außerdem siehst du aus, wie jemand, der gern schwimmt", sagte sie und wusste nicht, wie sehr sie damit falschlag. Schon kam die altbekannte Angst in mir hoch, die ich immer verspürte, wenn jemand das Wort 'Schwimmen' in den Mund nahm. Ich war wieder da. Am See. Ich hörte das Geräusch, als mein Kopf den Stein traf, spürte das Gefühl kompletter Orientierungslosigkeit, das Luftschnappen und Wasser einatmen. Dann war alles, wie der Rest meiner Erinnerung wie hinter einem schwarzen Schleier verschwunden. Ich begann, ins Leere zu schauen und zu zittern, bis Allison mich aus meiner Starre herausholte, indem sie mich kräftig schüttelte. "Ruby, hallo was ist los mit dir?!", fragte sie erschrocken und ich konnte ernsthafte Angst in ihren Augen sehen. "Alles gut, wirklich. Ich werde es mir überlegen. Ich muss jetzt zum Tanzen!", antwortete ich und hatte ihr schon den Rücken zugedreht. Schnell lief ich aus dem Schulgebäude und sah nicht zurück. Ich hatte nicht die Kraft, Fragen zu beantworten, die ich sowieso nicht beantworten konnte.
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Da ich diesmal direkt Google Maps benutzt hatte, kam ich rechtzeitig bei der Tanzschule an. Gestern hatte Mom dort angerufen und gefragt, ob es noch einen freien Platz gäbe. Die Lehrerin, Hellen West, hatte angeboten, dass ich mir direkt am nächsten Tag das Training würde anschauen können. Und so stand ich hier und war kurz davor, dass was ich schon immer am liebsten gemacht hatte, hier wieder zu tun. Sowohl vor als auch nach dem Unfall war Tanzen mein liebstes und einziges Hobby gewesen. Es hatte zwar lange gedauert, die Grundlagen wieder zu erlernen, aber ich war ein 'Naturtalent' wie meine alte Lehrerin zu sagen pflegte, und deshalb befand ich mich jetzt ungefähr auf dem Stand wie vor einem Jahr. Ich drückte die Tür auf und betrat das Foyer des Gebäudes. Kurz sah ich mich um. Rechts an der Wand befand sich ein schwarzes Brett mit Werbeanzeigen und Kursangeboten, daneben eine Tür, die zu den Toiletten führte. Ein Flur führte nach links, in dem sich vermutlich Umkleiden befanden und die Tür geradeaus, die komplett aus Glas bestand, gab den Blick auf einen großen, lichtdurchfluteten Saal frei. Ich wandte mich nach links und öffnete die Tür zu einer der Umkleiden, in der schon zwei Mädchen saßen. Sie unterhielten sich lachend während sie ihre Spitzenschuhe schnürten. Den Knoten würde ich mir unbedingt beibringen lassen müssen, dachte ich. Als sie mich bemerkten, schauten sie auf und sahen mich mit großen Augen an. "Ich hatte nicht gedacht, dass unser bescheidenes Grüppchen noch einmal Zuwachs bekommen würde!", sagte die eine. Ihr langes, schwarzes Haar war zu einem Dutt gedreht und das Pony, welches ihr außerordentlich gut stand, fiel ihr ins Gesicht. Ihre Haut hatte die Farbe von Karamell und sie war außerordentlich hübsch. "Wollt ihr damit sagen, ihr seit zu zweit in diesem Kurs?", fragte ich ungläubig. Laut meiner Mutter war das die einzige Tanzschule in der Gegend und in Georgia hätten besonders die Mädchen eine Schule mit solch einem Angebot förmlich überrannt. "Jetzt zu dritt", antwortete das zweite Mädchen und in ihrer Stimme schwang Freude mit. Sie war blond und ihre Augen waren stechend grün. In ihnen funkelte etwas neugieriges, ein bisschen wie bei einem Kind. Mit diesen Augen blickte sie mich an, als sie sagte: "Ich bin übrigens Darcy, und das", sie zeigte auf ihre dunkelhaarige Freundin, "ist Avery. Und du bist...?" "Ruby, freut mich sehr", antwortete ich und meinte es ernst. Die beiden schienen sympathisch zu sein und ich hatte schon Angst gehabt, mich mit eingebildeten Zicken rumschlagen zu müssen. "Du solltest dich besser beeilen, Ruby. Hellen sieht es nicht gern, wenn wir zu spät sind." Mit diesen Worten verließen die beiden den Raum.
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Als ich den Saal betrat, staunte ich. Der helle Parkettboden warf keinen einzigen Kratzer auf und er schimmerte förmlich im angenehmen Licht der Nachmittagssonne. Der Saal war größer, als er auf den ersten Blick schien. Auf der linken Seite, befand sich eine Wand, die komplett verspiegelt war. Daran standen ordentlich aufgereiht Ballettstangen und überall hingen Bilder von berühmten Ballettaufführungen. Avery und Darcy hatten sich auf dem Boden niedergelassen und dehnten sich. Ich machte es ihnen nach, versuchte aber nicht, mich in ihr Gespräch mit einzubringen. Ich musste es mir ja nicht direkt mit ihnen versauen. Aber schließlich war es Avery, die mich von meinem Schweigen erlöste. "Gehst du auch auf die Richfield High? Ich hab dich da noch nie gesehen." "Ja, ich bin neu in Minnesota und gehe erst seit Montag hier zur Schule.", antwortete ich. "In welche Klasse gehst du denn?", erkundigte sich Darcy. "Abschlussklasse", war alles, was ich erwiderte. "Ach deshalb haben wir keine Kurse zusammen! Du bist eine von den Großen!", rief sie. Daraus schloss ich, dass die beiden ein Jahr unter mir sein mussten und murmelte ein "Definiere 'Groß'", in mich hinein. Im Vergleich zu den beiden sah ich aus wie ein Kindergartenkind und verglichen mit meinem Erinnerungsvermögen war ich das wahrscheinlich auch. Zum Glück betrat Hellen in dem Moment den Raum und hielt Avery und Darcy so von einer Reaktion auf meine gemurmelte Antwort ab. Sie nickte uns zur Begrüßung kurz zu und dann begannen wir mit den Aufwärmübungen an der Stange. Zu tanzen fühlte sich so befreiend an, und ließ mich für einen Moment alles vergessen. Ich liebte das Gefühl des Parketts unter meinen Füßen und wie ich gekonnt mein Gleichgewicht ausbalancierte. Nach der Stunde fragte mich Avery, ob ich nächste Woche wiederkommen würde, und dass sie sich freuen würde, wenn es so wäre. "Sicher!", antwortete ich mit einem Lächeln. "Noch seid ihr mich nicht los!"
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DIE TWICE
FantasyAls Ruby nach Minnesota zieht, begegnet sie nicht nur Jake, der noch immer den Tod seiner Freundin verarbeitet, sondern hat auch das Gefühl, dass sie das alles schon einmal erlebt hat. Schnell wird ihnen klar, dass Ruby und Elody, Jakes tote Freundi...