Kapitel 14

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"Ruby, alles gut? Hallo?". Ich konnte nicht antworten. Ich taumelte rückwärts gegen meinen Spind. Als mein Rücken auf eine kante traf, wusste ich, dass es wehgetan hatte, aber ich spürte den Schmerz nicht. Ich spürte gar nichts mehr. Meine Sicht war verschwommen, das Geräusch von Allisons beunruhigter Stimme war nur dumpf zu hören, als wäre ich unter Wasser. Um mich bildete sich eine Traube aus dunklen Schatten, es kamen mehrere Stimmen dazu. All diese Dinge wusste ich, aber ich spürte sie nicht. Alle meine Sinne konzentrierten sich auf eine Bildfolge, die sich in meinem Kopf abspielte. Alle sagten ja immer, vor dem eigenen Tod zog das Leben an einem vorbei. Nur waren das nicht meine Erinnerungen und sie behandelten auch nicht mein Leben. Damians Hypnose hatte funktioniert, und zwar besser, als ich es mir vorgestellt hatte. Und sehr viel schneller und überwältigender als ich es mir gewünscht hatte. Ich hatte keines der Erinnerungen behalten, die mir im Bruchteil weniger Sekunden durch den Kopf schossen. Ich sah nur immer wieder Jakes Augen und immer wieder Elodys Stimme. "Du lügst". Immer wieder. "Du lügst". Ich hatte kaum Zeit, mich darüber zu wundern, da in diesem Moment der Erinnerungsstrom jäh abriss, und ich in viele geschockte Gesichter blickte. "Das muss mein Kreislauf gewesen sein. Ich sollte etwas essen", brachte ich eben so hervor und drängelte mich durch die Gruppe an Schülern vorbei zum Ausgang. Ich musste meine Gedanken sortieren und dringend mit Jake reden. Was, wenn er mir etwas vorenthielt? Als ich aus dem Schulgebäude rausgetreten war, begann es zu regnen. Ich seufzte leicht und lief ein wenig schneller, während ich den Kragen meiner Jacke ein wenig hochschob, um nicht komplett nass zu werden. Gleichzeitig holte ich mein Handy aus der Tasche und wählte Jakes Nummer. Inständig hoffte ich, dass er genau wie ich heute nicht von Nachmittagsunterricht getroffen war. Zum Glück ging er nach dem dritten Klingeln ran. "Hey, was ist los? In der Schule wird schon geredet. Brauchst du Hilfe?", fragte er und klang besorgt. Offenbar hatte sich mein kleiner Zusammenbruch schnell rumgesprochen. Na toll, ein paar Wochen hier und direkt das Gespött der Leute. Ich verstand es echt, mich unbeliebt zu machen. "Hast du schon frei?", fragte ich zurück. "Ja. Aber selbst wenn nicht, wäre ich gekommen. Nur, dass du das weißt". Ich lächelte leicht und schaute nach oben, als der Himmel all seine Schleusen öffnete und es aus Badewannen auf mich herunterschüttete. "Gut zu wissen. Können wir irgendwo drinnen reden? Ich bin nicht unbedingt scharf darauf, mit einer Grippe zu Hause zu bleiben". "Äh klar. Ich lauf los und dann gehen wir zusammen zu mir? Weit kannst du ja nicht gekommen sein", antwortete Jake und ich konnte das Zwinkern in seiner Stimme hören. Am liebsten hätte ich alle meine Zweifel ihm und den Erinnerungen gegenüber sofort über Bord geschmissen, aber so einfach war das leider nicht. Langsam fing ich an zu glauben, dass ein wenig mehr auf dem Spiel stand. "Okay", antwortete ich deshalb nur und beschloss, mich unter einer kleinen Bushaltestelle unterzustellen und dort auf ihn zu warten. Wenige Minuten später kam er locker angejoggt, seine Jacke hatte er dabei als behelfsmäßigen Regenschirm umfunktioniert. Als er mich sah, breitete sich ein breites Grinsen auf seinem Gesicht aus, das ich sofort erwiderte. Ich trat auf ihn zu und er zog mich näher zu sich, um auch mich unter seiner Jacke trocken zu halten. Eng umschlungen gingen wir die wenigen Straßen bis zu Jakes Haus. Die Jacke war längst vollständig durchnässt und hielt weder den Regen, noch die Kälte auf, aber das war nicht wichtig. Nass war ich sowieso schon und Jake strahlte genug Wärme für uns beide ab. Er sprang die Stufen zu seiner Haustür hoch und schloss auf. Er hielt mir die Tür auf und mit den Worten "Ganz der Gentleman", spazierte ich ins Innere des gemütlich und modern eingerichteten Wohnhauses. "So bin ich halt", antwortete Jake lachend und für einen Moment vergaß ich den Grund, warum ich hier war. Ich wollte dieses Gespräch nicht führen. Ich wollte nicht, dass seine Antwort etwas zerstörte, was gerade erst angefangen hatte. Denn ich hatte nicht vor, es schon enden zu lassen. Ich legte meine Jacke ab und ging dann Jake hinterher die Treppe nach oben zu seinem Zimmer. Ich setzte mich auf das Bett, meine Arme eng um den Körper geschlungen. Mir war noch immer kalt und ich war froh, dass Jake mir ohne Kommentar einen seiner Hoodies zuwarf. Ich zog ihn mir über und sog seinen angenehmen Duft ein, der mich gleich ein bisschen wärmte. Jake setzte sich neben mich und schaute mich abwartend an. "Also was ist da in der Schule passiert? Muss ja heftig gewesen sein, sonst hätte ich es nicht zehn Sekunden danach gewusst", fragte er und zog eine Augenbraue hoch. "Diese Hypnose hat anscheinend etwas besser funktioniert, als Damian vorausgesagt hatte. Die Erinnerungen sind auf mich eingeprasselt wie der regen eben. Immer nur ganz kurze Sequenzen und ich kann mich auch nicht an vieles Erinnern. Aber eine Sache, die ist immer wiedergekommen. Und die ist der Grund, weswegen ich mit dir reden wollte", sagte ich etwas holprig. Wie sollte ich erklären, dass ich ihm praktisch unterstellte, ein Lügner zu sein? Jakes Gesichtsausdruck war während ich erzählt hatte erst besorgt geworden, dann aber wieder verwirrt. "Und das wäre?". "Ich hab immer wieder dein Gesicht gesehen und die Worte "Du lügst". Ich habe keine Ahnung, was ich denken soll. Ich glaube nicht, dass die Erinnerungen falsch sind, aber ich will auch nicht glauben, dass du über irgendetwas nicht die Wahrheit sagst", berichtete ich. "Ruby, ich schwöre, ich habe dich nicht angelogen. Über nichts. Das würde ich nicht tun. Wenn ich aus der Beziehung mit Elody etwas gelernt habe, dann, dass Lügen es immer nur noch schlimmer machen. Ich bin ein offenes Buch für dich. Und das werde ich auch immer sein", sagte er und legte so viel Überzeugung in seine Stimme, dass ich nicht anders konnte, als ihm zu glauben. "Aber was hat das dann zu bedeuten? Wen meint die Stimme dann?". Ich war noch nicht überzeugt. Mich ließ das Gefühl nicht los, dass ich diese Erinnerungen ernst nehmen sollte. "Ich kann auch nur vermuten. Vielleicht meint es jemand anderen und die Sequenzen haben sich nur zufällig vermischt. Vielleicht ist diese ganze Sache einfach nur kompletter Bullshit. ich würde einfach abwarten. Es kann ja sein, dass die Erinnerungen sich noch an den richtigen Platz schieben müssen". Ich war froh, dass er konstruktive Vorschläge machte und mich ein Stückchen aus dem Strudel rauszog, in den meine Gedanken und ich mich in den letzten Minuten erfolgreich hinabgezogen hatten. Er streckte seine Hand nach meinem Gesicht aus und ich umklammerte sie wie einen Rettungsring. "Ich werde das Gefühl nicht los, dass das hier so viel größer und gefährlicher ist, als wir sehen. Ich habe Angst", flüsterte ich. Sanft strich Jake eine regennasse Strähne aus meinem Gesicht. Seine Berührung hinterließ ein leichtes Prickeln auf meiner Haut und ich schluckte. "Angst ist etwas für Leute, die allein sind. Und du bist nicht allein. Ich werde immer da sein. Für dich".

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