"Ruby! Beeil dich, du kommst sonst noch zu spät!", rief meine Mutter. Schnell durchkämmte ich meine Locken mit den Fingern, richtete meinen Pullover und machte mich auf den Weg nach unten. Direkt am ersten Schultag zu spät kommen war wirklich keine gute Idee. Der erste Schultag. Von allen angestarrt und nicht angesprochen wurde man vermutlich auch, wenn man nicht gerade aus einem halbjährigen Koma erwacht war. Aber ich versuchte trotzdem, positiv an die ganze Sache ranzugehen. Das sah zwar vor zwei Tagen noch ganz anders aus, aber als ich unser wunderschönes Haus und mein noch viel schöneres neues Zimmer sah, fühlte es sich gar nicht mehr so schlimm an. Ich hatte mich in dem kleinen Zimmer mit dem Holzboden und dem großen Fenster direkt zu Hause gefühlt. Fast, als wäre ich schon einmal hier gewesen. Generell kam mir vieles bekannt vor, aber vermutlich lag das daran, dass unser Haus in Georgia ganz ähnlich aufgebaut war. Da ich wie schon gesagt jetzt in einem kleinen Kaff wohnte, ging ich zu Fuß zu meiner neuen Highschool. Früher hatte Amy, eine meiner Freundinnen, mich immer mit ihrem Auto mitgenommen. Amy war die Person, von der ich sagen konnte, dass sie meine beste Freundin war. Sie wusste mich immer aufzumuntern und erzählte mir dauernd von ihrer verrückten Liebe zu True Crime Podcasts. "Am liebsten die, die einen zwei Wochen nicht schlafen lassen", sagte sie immer. Vermutlich war sie die einzige, zu der ich noch in zwei Jahren Kontakt haben würde. Ich war nicht besonders beliebt. Ich war zu brav, lernte zu viel, hatte keine interessanten Hobbies und zog auch keine kurzen Klamotten an. Und oder besser gesagt deshalb hatte ich kaum Freunde. Die, mit denen ich auch nachmittags etwas unternahm, konnte man an einer halben Hand abzählen. Richtig, zwei. Amy und Janice. Die zwei waren nett, sicher, aber wenn jemand mich fragen sollte, ob ich in jeder Minute mit ihnen zusammen sein würde, antwortete ich ganz klar mit "Nein". Aber vielleicht änderte sich das hier ja. Ebenfalls ein Grund, weshalb ich mich fast auf die Schule freute. Ich schnappte mir eine Wasserflasche, murmelte ein "Tschüss, Mom!" und schloss die Tür hinter mir.
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Zwanzig Minuten später kam ich bei der Schule an. Der Weg hatte mich nur drei Nervenzusammenbrüche und ein zehnminütiges In-die-falsche-Richtung-Laufen gekostet, bis ich dann endlich mit Google Maps klarkam. Mein Orientierungssinn war grottig. Also, falls irgendjemand da draußen vorhatte, mich zu entführen, er sollte sich keine Mühe machen, mich zu verwirren, den Weg nach Hause würde ich sowieso nicht finden. Im Stechschritt betrat ich das Schulgebäude und machte mich auf den Weg zum Sekretariat. Beziehungsweise dachte ich, es sei der Weg zum Sekretariat. Ich irrte herum, bis mich irgendein Lehrer fand, der sich als Mr. Coleman vorstellte, welcher mich zum Sekretariat brachte, das sich am anderen Ende des Gebäudes befand. Schnell meldete ich mich an, und mir wurden mein Stundenplan und ein Spindschlüssel ausgehändigt. Den dazugehörigen Spind fand ich zum Glück beim ersten Versuch. Ich war gerade dabei, meine Bücher einzuräumen, als ein Mädchen auf mich zustürmte. Ihre Haare waren zu einem dicken, blonden Zopf geflochten, ihre Augen waren hellblau, und sie hatte das wahrscheinlich sympathischste, wenn auch etwas aufgesetzte Lächeln, das ich je gesehen hatte. "Hey!", begrüßte sie mich und es klang so, als würden wir uns schon ewig kennen. Und so fühlte es sich auch an, als sie weiter fragte. "Du bist neu hier, stimmt's? Bist du auch im letzten Jahr? Wie heißt du?". Da ich mit den vielen Fragen überfordert war, antwortete ich nur: "Ja. Nochmal ja. Rubina, aber bitte nenn mich Ruby." "Du scheinst sehr direkt zu sein, Ruby. Gefällt mir! Ich bin Allison, kannst mich aber Allis nennen. Und du bist mir direkt aufgefallen mit deiner "Ich bin die Neue"- Ausstrahlung. Deswegen wollte ich dir ein bisschen helfen. Zeig mal her, welche Kurse wir zusammen haben!". Ohne zu zögern, nahm sie mir den Stundenplan aus der Hand, studierte ihn aufmerksam. "Super!", sagte sie, "Wir haben Bio zusammen. Komm, ich zeig dir alles!". Das Angebot nahm ich nur zu gerne an. Allison war mir auf Anhieb sympathisch und ich hatte das Gefühl, dass ich mit ihr an meiner Seite endlich dazu bereit war, mein Mauerblümchen-Dasein abzulegen und mein Teenager Leben so richtig zu genießen. Beziehungsweise das, was von meinem Leben noch übrig war. In Gedanken versunken lief ich neben Allison her, die mir von dem Biolehrer vorschwärmte und bemerkte erst eine Sekunde zu spät, dass ich geradewegs auf einen Jungen zulief, der den Blick konsequent nach unten richtete. Mit viel Schwung prallte ich in ihn hinein und all seine Bücher fielen auf den Boden. Er murmelte eine Entschuldigung, die aber in Allisons belustigtem "Mensch, Jake, wo hast du denn deine Augen!?" unterging. Seine Augen waren graublau und wurden von dunkelbraunen Locken umrahmt, die ihm lässig ins Gesicht fielen. Was mir aber viel mehr auffiel, war die Traurigkeit darin. Er sah aus wie die Art Person, die auf Nachfrage immer "Alles gut" antworteten und den ganzen Tag lächelten, sich aber dann zu Hause in ihrem Zimmer einschlossen und sich fragten, wie lange sie das noch durchhielten. Woher ich das wusste? Solchen Augen begegnete ich Tag für Tag im Spiegel. Als Jake sich bückte, um seine Bücher einzusammeln, nahm ich ein kleines Tattoo an seinem Ringfinger wahr. Es zeigte ein Unendlichkeitszeichen. Unwillkürlich fragte ich mich, wem wohl das Gegenstück gehörte. War diese Person vielleicht der Grund für die erdrückende Traurigkeit in seinen Augen? Eigentlich wollte ich ihm helfen, aber da hatte er seine Bücher schon eingesammelt und versuchte, an mir vorbeizugehen. Instinktiv trat ich einen Schritt nach Links und brachte ein "Man sieht sich" hervor.
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Etwas zu spät betraten Allison und ich den Klassenraum für Biologie. Den Lehrer, der sich als Mr. Coleman herausstellte, schien das aber nicht zu kümmern. Anscheinend schienen Neue bei ihm einen Freifahrtschein zu haben und Allison strahlte sowieso eine Selbstsicherheit aus, die sich niemand zu hinterfragen traute. Ich ließ mich auf einen freien Platz neben sie gleiten und versuchte, dem Unterricht zu folgen. Das Thema, Genforschung, hatten wir zum Glück schon in meiner alten Schule durchgenommen, sodass es gar nicht auffiel, dass meine Gedanken immer wieder zu dem seltsamen, traurigen Jungen abschweiften. Die Stunde verlief relativ ereignislos, obwohl Allison mir immer wieder zuflüsterte, wie attraktiv Mr. Coleman doch war. Ich hinterfragte im Stillen ihren Jungsgeschmack, ließ mir aber nichts anmerken. Die erste Person, die nett zu mir war direkt mit meiner objektiven Ehrlichkeit zu verschrecken, war nicht unbedingt der erste Punkt auf meiner Bucketlist. Auf dem Weg zu meinem nächsten Kurs, den ich leider nicht mit Allis zusammen hatte, weil Physik ja nicht "ihr Ding" war, wobei der wahrscheinlichere Grund der alte, rentereife Professor war, beschlich mich ein seltsames Gefühl. Die Spinde. Die Leute. Das Stimmengewirr. Die Vitrine mit den Pokalen der Footballmannschaft. Das alles hatte ich schon mal gesehen. Heute morgen natürlich, dachte ich, aber ich war mir ganz sicher, dass ich diesen Teil des Gebäudes noch nie betreten hatte. Der Schleier der Erinnerung verzog sich von meinen Augen und ich setzte meinen Weg durch den Flur fort. Entschieden schob ich den Gedanken an das, was passiert war zur Seite. Dafür war keine Zeit. Nicht jetzt.
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DIE TWICE
FantasyAls Ruby nach Minnesota zieht, begegnet sie nicht nur Jake, der noch immer den Tod seiner Freundin verarbeitet, sondern hat auch das Gefühl, dass sie das alles schon einmal erlebt hat. Schnell wird ihnen klar, dass Ruby und Elody, Jakes tote Freundi...