Kapitel 4 - Eine furchtlose Schülerin

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Als Clementine an diesem Morgen aufstand, war ihr etwas schwindelig. Die Nacht war lang gewesen. Auch dass zur Zeit nur wenig magische Kraft durch den Boden des Fliedergrundes floss, machte ihr zu schaffen. Sie war sehr froh, dass sie dem demnächst ein Ende setzen konnte. Doch heute musste sie sich erst einmal auf die Schule und den Unterricht konzentrieren.
Zuerst setzte Clementine einen Tee auf, dann sammelte sie ruhig aber zielstrebig ihre Sachen zusammen. Anschließend setzte sie sich mit dem frisch aufgebrühten Tee auf einen Baumstamm im Garten und atmete die frische Morgenluft ein. Schweigend beobachtete sie, wie Kalixtus einige von den Saatkörnern, die sie ausgesät hatte, wieder aus dem Boden pickte und herunterschluckte. Plötzlich durchbrach ein unsanftes Quietschen die morgendliche Ruhe und Clementine sah, wie ein dicker Hund durch das Gartentor kam. Auf den zweiten Blick stellte sie fest, dass es wahrscheinlich doch kein Hund war. Als sie erkannte was es war, erschrak Clementine ein wenig: Es handelte sich um den größten und dicksten Kater, den sie je gesehen hatte. Er sah ein bisschen aus wie ein kleines Schwein und bewegte sich langsam aber zielstrebig auf sie zu. Während Clementine dem Tier neugierig mit ihrem Blick folgte, schlürfte sie einen kleinen Schluck Tee. Der Kater stand nun direkt vor ihr. Von Nahem sah er sogar noch größer aus. Er öffnete den Mund und sprach sie an. Er sprach langsam und mit einer tiefen Stimme. Überraschenderweise hatte der Kater einen starken französischen Akzent.

"Guten Morgen Madame Hexe, ich hoffe, ich störe Sie nicht beim Frühstück?"

Clementine schüttelte leicht den Kopf. "Nein gar nicht. Wie kann ich Ihnen denn helfen, Herr..." Während sie darüber nachdachte, wie sie den Kater ansprechen könnte, beantwortete dieser bereits die Frage: "Mein Name ist Ludwig der Neunzehnte. Sie dürfen mich aber gerne auch Monsieur Neunzehn nennen, wie es Madame Rhabarbara tut." Clementine brauchte einen Moment, bis sie das alles verstand. Es handelte sich bei ihrem Besucher anscheinend um den Hauskater von Rhabarbara.

"Monsieur Neunzehn? Darf ich fragen, wie Sie zu diesem ungewöhnlichen Namen gekommen sind?", erkundigte sich Clementine neugierig. Der Kater reckte stolz seine Nase in die Luft und setzte überraschend elegant seinen dicken Hintern auf dem Boden ab. Dann antwortete er: "Ja, das dürfen Sie fragen." Clementine zögerte einen Augenblick. Sie war unsicher und fasziniert zugleich. Immerhin war Monsieur Neunzehn nicht nur der erste sprechende Kater, den sie je getroffen hatte, sondern auch noch einer, der äußerst ungewöhnlich redete. "Wie kommen Sie denn zu diesem Namen?", fragte Clementine schließlich erneut. Der Kater antwortete mit einem sehr aristokratischen Tonfall. "Das ist doch eine sehr persönliche Frage. Vielleicht erzähle ich Ihnen die Geschichte einmal, wenn wir uns besser kennen."

Clementine wusste nicht so recht, wie sie mit ihrem Gast reden sollte. Darum nahm sie erst einmal einen weiteren Schluck Tee und wartete ab. Monsieur Neunzehn führte das Gespräch fort. "So, Madame Hexe. Sie fragen sich bestimmt, warum ich sie zu dieser morgendlichen Stunde aufsuche. Der Grund ist Folgender: Madame Rhabarbara hat mich gebeten, Ihnen eine Nachricht zu überbringen. Ich möchte also gleich zum Punkt kommen und Ihnen den Inhalt dieser Nachricht übermitteln. Sie bat mich, Ihnen mitzuteilen, dass sie bereits den Ort und den Tag des Rituals ermitteln konnte. Sie sollen sich am kommenden Mittwoch zum Sonnenuntergang auf die Lichtung der träumenden Bäume begeben."

Das war früher als Clementine erwartet hatte. Es war gerade noch genügend Zeit, um sich darauf vorzubereiten. Jetzt verstand sie, warum Rhabarbara ihr so früh am Morgen einen Boten geschickt hatte. Sie wandte sich wieder an den Kater, der sich gerade in aller Ruhe die Pfoten sauber leckte. "Vielen Dank Monsieur Neunzehn. Sie waren mir eine große Hilfe. Darf ich Sie darum bitten, eine weitere Nachricht zu übermitteln?" Der Kater antwortete übertrieben empört: "Mon Dieu! Ich bin doch keine gewöhnliche Botenkatze! Da müssen Sie schon einen anderen finden." Dann fügte er ein wenig freundlicher hinzu: "Ich habe Madame Kamilla allerdings schon früher am Morgen benachrichtigt, fall Sie sich darüber Gedanken gemacht haben sollten." Erleichtert darüber, dass dieser Teil schon erledigt bedankte Clementine sich noch einmal bei dem Kater, woraufhin dieser sich verabschiedete, und ebenso gemächlich davon schlenderte wie er gekommen war. Als das Gartentor erneut quietschte und den Abgang des Katers unterschrich, wandte sich Clementine sogleich an Kalixtus und bat ihn, ein paar Besorgungen zu machen. Dann packte sie ihre Schultasche und ging zur Arbeit.

-

Der Schultag verlief sehr ruhig. Fast schon ein wenig langweilig. Clementine wurde etwas unruhig, weil sie in Gedanken bei den Vorbereitungen für den Mittwochabend war. Um sich etwas abzulenken, vertrieb sie sich die Zeit damit, den Kindern ein paar Streiche zu spielen. Sie fand, dass einer der Jungen etwas zu überheblich war und ruhig einen Dämpfer vertragen konnte. Er hieß Oliver. Nachdem er sich mehrmals darüber lustig gemacht hatte, was die anderen für Feiglinge waren, nahm sich Clementine die fetteste Spinne, die sie in der Scheune finden konnte. Diese verzauberte sie leise, damit sie eine kurze Zeit das tat, was Clementine wollte. Dann schickte sie die Spinne los zu dem Jungen. Die Spinne kletterte erst am Tischbein hoch, und krabbelte dann schnell über die Hand des Jungen in seinen Ärmel. Oliver die Spinne und schrie laut auf: "Spinne! Hilfe! Eine riesengroße Spinne ist in meinem Pullover!" Alle Kinder drehten sich zu ihm um. Während Oliver sich wand und nach der Spinne suchte, und dabei die ganze Zeit wimmerte, ging Clementine zu ihm herüber. Im Gehen murmelte sie einen Schrumpfzauber. Dann zog sie die winzige Spinne aus dem Nacken des Jungen.

Die Spinne in die Luft haltend, damit alle sie sehen konnten, sagte sie zu ihm: "Siehst du, Oliver, auch kleine Dinge können uns manchmal große Angst machen. Manchmal Angst zu haben ist aber wirklich nichts Schlimmes." Oliver wurde sehr rot und sagte kleinlaut, dass die Spinne viel größer ausgesehen hatte. Im nächsten Moment redete Ru ihm dazwischen. "Das ist doch Unsinn. Angst haben ist ein Zeichen von Schwäche. Je weniger Angst jemand hat, desto mehr kann diese Person auch erreichen. Ich habe vor gar nichts auf der Welt Angst, also kann mich auch nichts und niemand aufhalten, wenn ich mir etwas vorgenommen habe!"

Clementine blickte Ru sehr eindringlich an. Dann erwiderte sie langsam und besonnen:
"Ich persönlich habe vor jeder Menge Dingen in meinem Leben Angst und denke nicht, dass das schlimm ist. Oder dass mich das davon abhält, etwas zu erreichen."
Sofort antwortete ihr Ru in einem herablassenden Tonfall: "Darum sind Sie auch nur Dorflehrerin in diesem Kaff geworden." Clementine antwortete ihr betont ruhig. "Ich bin sehr zufrieden damit, eure Lehrerin zu sein und ich wüsste nichts, was ich lieber machen würde." Wieder antwortete Ru sofort in einem sehr schnippischen Tonfall: "Dann haben Sie wahrscheinlich einfach keine Fantasie. Jeder Mensch mit etwas Verstand würde von hier weg wollen und in eine Stadt ziehen." Clementine sprach erneut sehr langsam, als sie Ru antwortete: "Stell dir vor Ru, ich habe bereits längere Zeit in einer großen Stadt gelebt. Hier in Fliedergrund gefällt es mir viel besser." Ru und auch viele der anderen Schülerinnen und Schüler starrten sie jetzt ungläubig an. Damit hatten sie tatsächlich nicht gerechnet. Wahrscheinlich kannte keines der Kinder eine Person, die schon einmal in der Stadt gelebt hatte.

Ru konnte dazu nichts weiter sagen. Sie starrte nun absichtlich in eine andere Richtung. Doch die anderen bedrängten Clementine weiter mit Fragen über das Leben in der Stadt.
"Genug!", rief Clementine schnell, um sie zu unterbrechen. "Ich beantworte morgen mehr von euren Fragen. Aber vorher schreibt ihr alle eine volle Seite darüber, wie ihr euch das Leben in der Stadt vorstellt." Das schien zu funktionieren. Die meisten Kinder schrieben sofort drauf los. Manche grummelten ein bisschen darüber, dass die Aufgabe zu schwer sei.

Ru hingegen ignorierte die Aufgabe und legte die Beine auf den Tisch. Clementine wusste, dass das Mädchen provozieren wollte und nur einen Weg suchte, zu beweisen, dass sie keine Angst vor einer Bestrafung oder ähnlichem hatte. Clementine ging darauf gar nicht ein. Stattdessen ließ sie das Mädchen einfach in Ruhe und half lieber den anderen, die noch Schwierigkeiten mit dem Schreiben hatten. Danach verlief der Unterricht ohne weitere Aufregung und ganz ruhig. Clementine verzichtete auch auf weitere magische Streiche. Es war doch recht mühsam gewesen, da sich so wenig Zauberkraft in der Erde befand. Aber das war etwas, dass sie schon sehr bald ändern würde.

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