Kapitel 5 - Wundersame Wurzeln

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Am Ende des Schultages, nachdem alle Kinder das Klassenzimmer verlassen hatten, saß Clementine noch an ihrem Pult und kontrollierte Hausaufgaben. Ganz unerwartet hörte sie ein klackendes Geräusch. Verwirrt sah sie sich im Raum um, bis ihr Blick auf die Tafel fiel. Dort nämlich schrieb die Kreide wie von Geisterhand eine Nachricht: "Ich brauche deine Hilfe. Bin daheim. Kamilla ". Also machte sich Clementine auf den Weg, um Kamilla zu besuchen.

Clementine brauchte eine ganze Weile, um bis zu dem Haus zu kommen. Es stand sehr weit außerhalb und der Weg führte sie durch einige Felder, in denen der Flachs blau leuchtete. Clementine genoss den Spaziergang in der Nachmittagssonne, aber trotzdem beeilte sie sich. Als sie Kamillas Haus schließlich erreichte, kam sie ganz schön ins Staunen. Es war nicht einfach nur ein Haus, sondern vielmehr ein ganzer Hof. Auf dem Hof befand sich ein großes Haus. Zudem gab es einige kleinere Hütten, mehrere Ställe und eine große Scheune. Insgesamt war dort ganz schön was los. Jede menge Tiere und Kinder waren dort unterwegs. Während Clementine sich noch umsah, hörte sie Kamilla laut rufen. "Ich bin hier drüben, komm bitte herüber". Clementine eilte zu einem der Ställe, neben dem Kamilla gerade stand. Clementine erkannte sofort, was das Problem war. Das Stalldach war eingestürzt und jetzt sah es so aus, als würde das kleine Gebäude jeden Moment zusammenbrechen.

Als sie bei Kamilla angekommen war, beäugte Clementine das Problem. "Hallo Schwester, das sieht ja wirklich übel aus. Wie ist dein Plan?" Kamilla antwortete sofort. Offensichtlich hatte sie sich bereits eine Lösung überlegt. "Es wäre gut, wenn du deinen Besen rufen könntest. Dann steigen wir beide in die Luft und nehmen jede ein Seil mit, das wir am Dach befestigen. Anschließend ziehen wir beide kräftig von oben am Dach, um etwas von dem Gewicht zu tragen. Meine Kinder drücken dabei von unten und schieben einen neuen Stützbalken ein." Clementine drehte sich um und sah, dass Thymia und zwei ihrer Brüder bereit standen. Sie hatten alle die Ärmel hochgekrempelt und trugen einen kräftigen Holzbalken. Clementine war überrascht. "Das klingt aber ganz schön gefährlich, es könnte ein Teil des Dachs auf die Kinder stürzen. Sollten wir das nicht lieber magisch lösen?" Kamilla winkte ab. "Mach dir keine Sorgen wegen der Gefahren, wir haben hier einen fähigen Hauskobold. Der weiß Bescheid und kümmert sich, falls etwas passiert". Clementine gab einen beeindruckten Pfiff von sich. Hauskobolde waren selten, sie brachten Glück über ein Haus und vor allem schützten sie dessen Bewohner vor Gefahren.
Kamilla hatte ihre Kinder die meiste Zeit zu Hause. Sie unterrichtete sie sogar selbst, anstatt sie in die Schule zu schicken. Jetzt verstand Clementine auch besser, warum das so war. Auf dem Hof waren sie einfach am sichersten aufgehoben. Mit einem Hauskobold, der die ganze Zeit auf alle aufpasste, konnte kaum noch etwas Schlimmes passieren. Clementine zögerte aber dennoch. "Wäre es nicht trotzdem einfacher, das ganze mit Magie zu reparieren?" Kamilla schüttelte den Kopf, wobei ihre dunklen Locken hin und her wippten. "Ich bekomme dafür nicht genügend Magie zusammen. Die Magie, die hier fließt, ist einfach zu schwach". Clementine war von dem Argument nicht ganz überzeugt. "Und wenn wir einen Hexenkreis mit Thymia bilden? Dann sollte es doch reichen." Thymia blickte sofort beschämt auf ihre Füße. Kamilla beantwortete auch diese Frage. "Das würde vielleicht funktionieren, aber Thymia ist leider nicht sehr gut darin, sich in einen Hexenkreis einzugliedern." Clementine wollte nicht so schnell aufgeben und schlug vor, es trotzdem zu versuchen. Immerhin wäre es ja auch eine gute Übung für Thymia. Diese war noch etwas beschämt, wollte es aber gern versuchen. Kamilla zuckte mit den Schultern. "Es kann ja nicht schaden". Clementine nahm etwas Magie in sich auf und öffnete sich, um mit den beiden anderen Hexen einen Kreis zu bilden. Sie zögerte kurz, weil bei einem Hexenkreis immer eine Hexe die Führung übernahm. Zu dritt wurde Magie gebündelt und alles in die Hände der anführenden Hexe gelegt. Clementine kannte Kamilla noch nicht so gut, allerdings hatte sie auch keinen Grund ihrer Schwester zu misstrauen. Schnell verband sie sie sich mit Kamilla und überließ ihr die Führung. Das funktionierte ohne Probleme. Damit die Magie aber fließen konnte, brauchte es noch eine dritte Hexe. Clementine und Kamilla öffneten sich für Thymia und versuchten sie in den Hexenkreis aufzunehmen. Das schien aber nicht so richtig zu gelingen. Thymia wusste einfach nicht, wie sie sich in den Fluss der Magie eingliedern konnte. Sich in einem Kreis zu verbinden wurde Hexen in der Regel erst beigebracht, nachdem sie ihre Ausbildung abgeschlossen hatten, also hatte Thymia noch keine Chance gehabt, es zu üben. Außerdem war der Fluss der Magie sehr schwach und damit auch schwerer zu spüren. Nach einigen erfolglosen Minuten brachen sie den Versuch ab. Aber Clementine hatte noch ein Ass im Ärmel. Also genauer gesagt: eine Wurzel. Clementine zog eine dicke Wunderwurzel aus ihrem Ärmel. Kamilla riss verblüfft die Augen auf. Sie erkannte die anscheinend sofort, was Clementine da in der Hand hielt. Es handelte sich um eine ganz bestimmte Wurzel, die nur an einer Steineiche wachsen können. Sie war in der Lage eine Menge Magie über einige Jahrzehnte zu speichern und waren daher immer sehr nützlich, wenn man sich in einer Gegend ohne allzu viel Magie aufhielt. Falls KAmilla selbst Wunderwurzeln besass, würde sie diese bestimmt schon verbraucht haben. Clementine hatte davon noch eine Menge auf Lager, da sie in den letzten Jahren nie welche benötigt hatte. Sie drückte Kamilla die Wurzel in die Hand und zog selbst eine Zweite aus ihrem Ärmel. Dann drehten die beiden sich zu dem Stall mit dem eingestürzten Dach um und begannen mit ihren Beschwörungen. Während Clementine einen einfachen aber starken Schwebezauber benutzte, verwendete Kamilla einen komplizierten Erinnerungszauber. Sie erinnerte das Dach daran wie es früher ausgesehen hatte und half ihm dann dabei wieder diese Form anzunehmen. In der Zwischenzeit eilten die Kinder von Kamilla in den Stall und stellten den Stützbalken auf. Clementine ließ das Dach wieder herab und Kamilla befestigte es auf magische Weise mit den Stützbalken. Die ganze Reparatur war innerhalb von wenigen Minuten abgeschlossen. Kamilla bedankte sich herzlich bei Clementine und wollte ihr die Wunderwurzel zurückgeben. Die Magie war erst halb verbraucht. Aber Clementine lächelte sie freundlich an und bestand darauf, dass Kamilla die Wurzel behielt. Sie hatte noch einige auf Vorrat und man konnte ja nie wissen, wann sie gebraucht wurden. Thymia bestand im Gegenzug darauf, dass Clementine wenigstens zum Abendessen blieb. Zuerst wollte Clementine das Angebot ablehnen, aber genau in diesem Moment fing ihr Magen laut an zu knurren. Thymia musste kichern und schon eilte sie mit ihren Geschwistern los: Sie brachten einen Tisch und mehrere Stühle in den Hof. Thymia mühte sich damit ab das Geschirr auf magische Weise zum Tisch schweben zu lassen, aber am Ende waren ihre Geschwister zu Fuß schneller als sie.
Clementine bestaunte das Chaos, das auf dem Hof herrschte. Überall liefen Katzen, Hunde und Hühner herum. Es gab aber auch Pferde, Kühe, Schafe, Ziegen und einen Esel. Und dazwischen jede Menge Kinder. Clementine versuchte zu zählen wieviele Kinder Kamilla wohl hatte, aber sie kam dabei immer wieder durcheinander. Der Tisch war reich gedeckt mit verschieden Käsesorten, Salaten, mehreren Broten und einem riesigen Krug mit Saft. Alles was es gab schien von dem Hof zu kommen. Thymia und eine ihrer Schwestern, die ein bisschen jünger war als sie, hexten bei jeder sich bietenden Gelegenheit: Wenn sie ein Stück Brot wollten, das nicht in ihrer Reichweite lag oder wenn jemandem die Gabel heruntergefallen war. Thymia versuchte sogar sich das Brot auf magische Weise zu schmieren. In dem Alter war das auch ziemlich normal, denn heranwachsende Hexen brauchten sehr viel Übung, um sich an die Magie zu gewöhnen. Auf eine gewisse Weise war es ein bisschen wie das Laufen lernen. Clementine war ein wenig überwältigt von der Hektik am Essenstisch. Bei so vielen Kindern war es die ganze Zeit sehr laut und es wurde viel gerufen. Immerzu stand jemand auf, um etwas zu holen oder wegzuräumen oder eins der Tiere zu füttern. Aus dem Krug auf dem Tisch schossen immer wieder kleine Saftfontänen, die die Becher auffüllten, sobald sie leer waren. Leider war der Krug anscheinend nicht so gut im Zielen und deshalb schwappte den Essenden ständig Saft in die Haare oder auf den Schoß. Clementine verstand jetzt ein bisschen besser, warum Kamilla immer so streng wirkte. Bei all dem Durcheinander schien ihre Strenge der einzige Weg zu sein, Herrin der Lage zu bleiben. Auf eine Art und Weise war das Chaos aber auch sehr schön. Es wurde viel gesungen und gelacht und die Kinder halfen alle auf dem Hof mit. Ein kleiner Junge, der gerade fünf oder sechs Jahre alt war, schleppte gerade einen großen schweren Eimer zum Hühnerstall, während ein Mädchen, das nur ein oder zwei Jahre älter war, eins der Pferde zu seiner Koppel führte. Das Pferd ragte viermal so hoch wie das Mädchen und war nur an einer dünnen Schnur gehalten, aber es trottete ganz folgsam dem Kind hinterher.
Als die Sonne langsam unterging und der Himmel sich rötete, bedankte sich Clementine für das leckere Essen und verabschiedete sich, um den Heimweg anzutreten.


Der abendliche Weg nach Hause war noch etwas schöner, als der Weg zu Kamillas Hof am Nachmittag. Die Flachsfelder leuchteten violett in der roten Abendsonnne. Clementine ließ sich auf dem Heimweg deutlich mehr Zeit, da sie es ja nicht mehr eilig hatte. Sie lauschte dem Geräusch des Windes und genoss den Geruch des blühenden Flachses. Langsam begann sie das Leben im Fliedergrund mehr und mehr zu genießen. Sie lernte ihre Hexenschwestern immer besser kennen, sie hatte ihre Schüler langsam im Griff und zudem war der Fliedergrund ein wirklich bezaubernder Ort. Es war schön nach so langer Zeit wieder mehr Gesellschaft zu haben. Sie würden hier wohl eine Weile bleiben, also wollte sich Clementine auch langsam darum kümmern, den Kirschbaum für Kalixtus zu pflanzen. Während sie so ihren Gedanken nachhing, hörte sie Geräusche in der Nähe. Es waren Kinderstimmen. Clementine lief einen nahen Hügel hoch und sah dann einige Kinder in der Nähe, die dort spielten. Es waren allesamt Schülerinne oder Schüler von ihr. Bis auf die Kinder von Kamilla, wurden ja auch alle Kinder der Gegend von Clementine unterrichtet. Da Kamillas Familie so einen verlässlichen Hauskobold hatte, verstand Clementine, dass sie ihre Kinder immer am Liebsten zu Hause hatte. Trotzdem hätte Clementine die Kinder gerne in der Schule gehabt. Es schienen alles fröhliche und freundliche Kinder zu sein, sie hätten bestimmt einen guten Einfluss auf die anderen gehabt. Clementine warf wieder einen Blick auf die Kinder. Sie spielten offensichtlich Fangen. Clementine freute sich darüber, dass die Kinder ein bisschen Freizeit für sich hatten und sich bewegten. Viel Bewegung war sehr wichtig. Aber es war auch etwas, was Clementine ihnen in der Schule nur schwer bieten konnte, da sie in ihrer Zeit versuchte, den Kindern so viele Dinge wie möglich beizubringen. Als sie ihren Blick über die große Wiese schweifen ließ, sah sie, dass nicht nur die Kinder dort waren, die Fangen spielten. Sie sah auch einen großen, braunen Wuschelkopf, den sie gleich erkannte. Es war Ru, die Enkeltochter des Pfarrers. Aber sie saß abseits und schien in einem Buch zu lesen. Clementine wunderte sich kurz darüber, dass sie nicht mit den anderen spielte. Auch in der Schule war Ru oft für sich allein. Dabei war sie selbstbewusst und vorlaut und auch eine der Ältesten. Clementine hätte sich nicht gewundert, wenn sie eine Art Anführerin der Kinder gewesen wäre. Aber aus irgendeinem Grund schien sie die anderen zu meiden. Oder waren es die anderen Kinder, die Ru mieden? Clementine nahm sich vor, das in der Zukunft genauer zu beobachten.

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