Kapitel 15 - Eine unerwartete Wendung

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Den folgenden Samstagmorgen verbrachte Clementine in ihrem Garten. Sie jätete wieder Unkraut und nebenbei bewunderte sie den kleinen Kirschbaum, der schon ein gutes Stück gewachsen war.
Als die Sonne höher stand und es wärmer wurde, machte Clementine eine kurze Pause. Sie goss sich eine Tasse Tee ein und setzte sich auf einen Baumstamm. Heute trank sie den Tee aus einer dunklen, braunen Tasse. Auch diese Tasse war einmal einer ihrer Schüler gewesen.
Ein stiller und unglücklicher Junge, der viel von seinen Mitschülern getriezt wurde. Er war sehr ruhig und sehr empfindsam und Clementine hatte damals keinen Weg gefunden ihm aus seinem Unglück zu helfen. Ja, es kam ihr sogar ein bisschen so vor, als hätte sie ihn vor Schlimmeren Dingen bewahrt, als sie ihn in eine Tasse verwandelt hatte. Während Clementine ihren Morgentee trank, näherte sich eine Person dem Gartentor. Clementine seufzte.
Im Kieselbach hatten sie nur sehr selten Leute in ihrem Garten besucht. Aber hier im Fliedergrund geschah das ständig. Sie erkannte schnell, dass es Ru war, die da kam. Das war eigentlich die perfekte Gelegenheit Rus Verwandlung vorzubereiten. Wahrscheinlich konnte sie das Mädchen sogar an Ort und Stelle verwandeln. Immerhin wusste wahrscheinlich niemand, dass es hier war. Doch eigentlich, dachte Clementine bei sich, gab es keinen Grund zur Eile. Sie konnte sich erst einmal anhören, was Ru überhaupt wollte. Clementine lächelte freundlich und sprach das Mädchen auch gleich an. "Ru, es freut mich, dich zu sehen. Geht es deinem Großvater besser?" Doch Ru schien die Frage gar nicht gehört zu haben. Sie ging schnurstracks auf Clementine zu, reckte das Kinn hoch und sah Clementine fest in die Augen. "Du bist eine Hexe!", sagte das Mädchen mit fester Stimme. Clementine erschauderte am ganzen Körper.
Es lief ihr heiß und kalt den Rücken hinauf und wieder hinunter. Sie hatte zwar schon befürchtet, dass Ru ihr auf die Schliche kommen würde, war nun aber trotzdem überrascht. Clementine gab sich große Mühe ruhig zu bleiben. Sie schaute Ru an und fragte vorsichtig: "Wie kommst du denn auf diese Idee?" Ru löste den Blickkontakt nicht. Aus der Nähe konnte Clementine nun erkennen, dass das Mädchen doch nicht ganz so sicher war, wie sie zuerst gewirkt hatte.
Ru nahm sich zusammen um weiterzusprechen. "Ich kann es sehen", sagte sie. "Ich kann sehen, wie du Magie benutzt, um Dinge damit zu machen. In der Schule hast du es ständig gemacht. Und auf meinem Großvater war auch Magie oder so etwas seltsames. Aber nachdem du da warst, war es weg." Ru zitterte jetzt schon fast ein wenig. Dann sprach sie weiter: "Wer war das? Ihr habt meinen Großvater geheilt! Also hat ihn doch jemand anderes verhext, oder? Wer war das? Und warum hat jemand meinen Großvater verhext? Er hat doch niemandem etwas getan!" Bei den letzten Worten wurde Ru immer lauter. Ihr liefen jetzt Tränen über die Wangen. Clementine blickte Ru einfach weiter an und sagte nichts. Einen Moment stand Ru stil da.
Dann fing sie an zu schluchzen. Man konnte manchmal schnell vergessen, dass sie gerade erst elf Jahre alt war. Aber in diesem Moment war sie ein Kind, das fürchterliche Angst um seine Familie hatte. Clementine musste schlucken. Die meisten Erwachsenen, die sie kannte, wären in dieser Situation ebenso überfordert gewesen. Clementine ging einen Schritt vor und umarmte ihre Schülerin. Jetzt liefen ihr selbst auch ein paar Tränen die Wangen hinunter. Es war an der Zeit Ru zu verwandeln. Clementine konnte dann warten, bis der Großvater wieder ganz gesund war, bevor sie Ru wieder zurückzuverwandelte. Clementine sog Magie aus dem Boden und bereitete sich auf die Verwandlung vor.
Dann hörte sie, wie Ru etwas sagte. Aber sie verstand es nicht richtig. Ru hatte sehr leise gesprochen und dabei noch den Kopf an sie gedrückt. Clementine fragte nach: "Was hast du gesagt?" Daraufhin hob Ru den Kopf und sah sie wieder mit diesem durchdringenden Blick an. "Bring mir das Hexen bei!", sagte sie dann noch einmal laut und verständlich. Clementine war völlig überrascht und wusste nicht, was sie sagen sollte. Ru sprach weiter: "Ich habe es schon ausprobiert und ich kann das irgendwie benutzen, ich verstehe nur nicht wie es funktioniert und was ich machen muss. Bring mir bei, wie ich eine Hexe werde. Ich muss es lernen, damit ich alle beschützen kann." Clementine wusste nicht so richtig, was sie davon halten sollte.
Also fragte sie erst einmal das Offensichtliche: "Ru, du musst verstehen, dass die Kirche das nicht erlaubt. Die Kirche sagt, dass Hexerei etwas Böses ist. Du darfst so etwas also nicht erlernen." Aber schon bevor Clementine ausgesprochen hatte, schüttelte Ru heftig den Kopf. "Nein, nein. Ich bin doch gar nicht gläubig. Es ist mir egal, was die Kirche oder sonst jemand sagt. Ich will eine Hexe werden!" Nachdem sie gesprochen hatte, starrte Ru ihre Lehrerin wieder mit diesem ernsten Blick an. Langsam verstand Clementine alles besser.
Der Großvater des Mädchens war der Pfarrer des Dorfes und natürlich bestand er darauf, dass Ru immerzu ein Kreuz um den Hals trägt. Aber das hieß natürlich nicht, dass Ru auch eine gläubige Christin sein musste. Sie war ein junges, selbstbewusstes Mädchen. Sie machte sich früh ihre eigenen Gedanken. Es war eine komplizierte Situation. Clementine hatte ja eigentlich den Auftrag Ru zu beseitigen. Und sie hatte ja auch mit Rhabarbara verabredet Ru erst einmal zu verwandeln. Aber das Mädchen schien sich ihrer Sache so sicher und ursprünglich sollte sie sowieso bekehrt werden. Also traf Clementine eine neue Entscheidung. "Also gut", antwortete sie Ru. "Ich kümmere mich darum, dass du unterrichtet wirst.
Entweder von mir oder von einer anderen geeigneten Lehrerin. Aber vorher muss ich mich um ein paar Dinge kümmern. Ich muss offiziell um Erlaubnis dafür bitten und ich muss noch sicherstellen, dass niemand mehr deinem Großvater etwas Böses tun wird. Dafür brauche ich ein paar Tage. Dann komme ich zu dir und wir beginnen deine Ausbildung. Aber bis dahin musst du erstmal deinen Großvater weiter pflegen und du darfst zu niemandem ein Wort sagen. Hast du das Verstanden?" Ru blickte sie mit großen Augen an. Bei der letzten Frage nickte sie heftig. Dann umarmte sie Clementine nochmals. Doch statt vor Trauer, schluchzte sie dieses Mal vor Freude. Sie bedankte sich aus tiefstem Herzen bei Clementine und machte sich dann sofort auf den Weg, um wieder nach ihrem Großvater sehen. Zum Abschied winkte sie noch einmal lachend. Clementine fühlte, wie ihr das Herz aufging. Endlich hatte sie die Situation wieder im Griff. Alles würde gut werden.


Nachdem Ru verschwunden war, beendete Clementine ihre Gartenarbeit. Mit der neuen Situation hatten sich auch ihre Pläne geändert. Natürlich sollte sie zuerst Brokkola informieren, dass Ru ausgebildet werden konnte, denn die Oberhexe sollte über alles Bescheid wissen. Allerdings hatte Clementine ja eigentlich noch den Auftrag Ru schnell zu beseitigen. Das war eine verzwickte Situation, die besser sofort klargestellt werden sollte. Clementine spürte ein leichtes Jucken hinter ihrem linken Ohr. Für gewöhnlich war das ein Zeichen dafür, dass etwas mit ihrem Plan nicht stimmte. Aber ihr fiel nichts ein, was daran auszusetzen war.
Brokkola konnte ihr ja nicht vorwerfen, dass sie Ru nicht beseitigt hatte, wenn diese ja doch ausgebildet werden konnte. Oder? Clementine rief nach Kalixtus, der gerade wahrscheinlich im Haus war und eine Schale Nüsse verspeiste. Es war immer wieder erstaunlich, wie wenig er von der Außenwelt mitbekam, wenn er beim Essen war. Einen Moment später kam Kalixtus dann doch herbeigeflogen. Clementine erzählte ihm, was gerade passiert war und dass Ru Hexe werden wollte. Kalixtus nahm die Nachricht gelassen hin. "Ich wusste doch, dass du das alles in den Griff bekommst, Clems. Du bist eben die Beste."
Clementine freute sich über das Kompliment, aber sie hatte noch eine Aufgabe für ihn.
"Ich muss dich bitten, zur Oberhexe zu fliegen und ihr das zu berichten."
Kalixtus sah unglücklich aus. Er flog nicht gern zur Oberhexe. Vermutlich war er eingeschüchtert. Der Uhu und die Raben, die bei Brokkola lebten, waren deutlich größer als Kalixtus. Und wie es schien auch ziemlich fies. Nun gut, da musste ihr Freund jetzt eben durch. Kalixtus jammerte noch eine Weile und beschwerte sich, dann flog er aber los, um Brokkola die Neuigkeiten zu berichten. Clementine setzte sich in ihren Garten und genoss die Mittagssonne. Sie winkte mit einer Hand und ein kleiner Tisch kam herbeigelaufen. Clementine musste immer kichern, wenn sie ihn laufen sah. Die Tischbeine waren verschieden lang und deswegen stolperte der Tisch häufig. Sie winkte noch einmal mit der Hand und ihre Lehrerinnentasche schwebte herbei. Die nächsten Stunden korrigierte sie einige Hausaufgaben, die sie ihren Schülerinnen und Schülern aufgegeben hatte. Nachdem sie damit fertig war, brach langsam der Abend an.
Clementine trank ein Glas Wein und genoss den herrlichen Abend. Es war die Nacht der Sommersonnenwende und noch sehr lange hell. Später in der Nacht würde sie aufstehen müssen, um mit ihren Hexenschwestern in den Wald zu gehen. Die Sommersonnenwende war nämlich immer die Nacht, in der die Schwestern in den Wald zogen um Mondmorcheln zu sammeln. Mondmorchel waren Pilze, die sich nur von Mondlicht ernährten und je kürzer die Nächte waren, desto weiter trauten sich diese Pilze aus der Erde, um nach Mondlicht zu suchen. Die Mondmorcheln waren wichtige magische Zutaten, die für vielerlei Tränke gebraucht wurden. Doch bevor sie die halbe Nacht auf den Beinen sein würde, wollte Clementine zunächst noch etwas schlafen. Kalixtus war spät dran mit seiner Rückkehr, aber das war nicht weiter ungewöhnlich. Wahrscheinlich hatte er einen Brombeerstrauch auf dem Weg gesehen und sich den Bauch viel zu voll geschlagen. Und da es noch lange hell war, würde er den Weg schon finden. Clementine nahm sich vor, diese Nacht noch mit Rhabarbara über Rus Ausbildung zu sprechen. Als älteste Hexe der Gegend war es ihr Vorrecht die Ausbildung zu übernehmen.
Clementine hatte aber die Hoffnung, dass Rhabarbara ihr ausnahmsweise den Vortritt lassen würde. Clementine mochte das Mädchen und würde die Ausbildung gern selbst in die Hand nehmen. Sie ging früh ins Bett und freute sich ein wenig auf das Sammeln der Mondmorcheln.

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