Kapitel 14 - Ein Abschied

3 1 0
                                    


Als Clementine am Donnerstag heimkehrte, stand jemand an ihrem Gartentor und wartete dort auf sie. Clementine war überrascht, denn die Person, die dort stand, war die junge Thymia. Sie verbeugte sich ganz leicht, als Clementine sich näherte. Dann sagte sie förmlich: "Sei gegrüßt große Schwester. Mondlicht soll immer auf deinem Weg scheinen."

Clementine erwiderte den Gruß: "Sei gegrüßt Schwester. Auf dass deine Zehennägel niemals zu schnell wachsen", sagte sie mit einem leichten Grinsen. Thymia schaute Clementine erst verwirrt an. Doch dann fing sie langsam an zu begreifen, dass Clementine einen Scherz gemacht hatte, und musste kichern. Darauf folgte Stille. Völlig unerwartet machte Thymia einen Schritt auf Clementine zu und umarmte sie. Clementine zögerte kurz, dann erwiderte sie die Umarmung. Einen Moment standen die beiden Hexen so da, bevor sie die Umarmung lösten. Thymia begann erneut zu sprechen: "Ich wollte mich einfach noch einmal bei dir bedanken! In den letzten Wochen konnte ich viel von dir lernen, du bist so eine ganz andere Hexe als meine Mutter. Und ohne dich hätten wir immer noch nur wenig Magie im Fliedergrund. Und vor allem wollte ich mich für den Besen bedanken. Er ist wirklich ganz großartig und ich habe mich in meinem Leben noch nie so frei und selbstständig gefühlt. Und darum: Danke, danke, danke!" Clementine freute sich über die netten Worte. Thymia erzählte auch davon, wie sehr sie sich darauf freute, das erste Mal Teil eines Zirkels zu werden. Schon morgen sollte es losgehen! Clementine gab Thymia noch einige Ratschläge mit auf den Weg. Zum Beispiel, dass man sich niemals Geld von einem Kobold leihen sollte. Und dass es nicht empfehlenswert war, sich die Fingernägel jemals mithilfe von Magie zu reinigen. Das war nämlich äußerst gefährlich. So manch eine Hexe hatte sich ihre Fingernägel sauber gezaubert und war dabei über das Ziel hinaus geschossen. Von da an hatten sie immer saubere Fingernägel und das geziemte sich wirklich für keine Hexe.
Als sich das Gespräch langsam dem Ende näherte, sagte Thymia etwas, das Clementine innehalten ließ: "Danke nochmals Clementine. Durch dich habe ich auch gelernt, wie wichtig es ist, andere um Hilfe zu bitten. Und dass wir nicht alles alleine schaffen können." Die junge Hexe verabschiede sich zum letzten Mal und machte sich auf den Weg nach Hause. Clementine dachte aber noch etwas darüber nach, was Thymia gesagt hatte. Es stimmte natürlich, dass man gemeinsam mehr erreichen konnte als allein und dass man immer um Hilfe fragen sollte, wenn man sie brauchte. Aber Clementine merkte, dass sie daran überhaupt nicht gedacht hatte. Sie hatte die ganze Zeit versucht all ihre Probleme allein zu lösen. Außer von Kalixtus hatte sie sich schon lange von niemandem mehr helfen lassen. Clementine ärgerte sich über sich selbst. Die letzten Wochen hatte sie unter so viel Druck gestanden, wegen ihres Geheimnisses und des Hexenrates. Niemandem hatte sie davon erzählt, dabei kannte sie doch jemanden, der ihr nicht nur helfen würde, sondern das vielleicht auch konnte. Sie schaute auf die Uhr. Es war noch gar nicht so spät. Anstatt ins Haus zu gehen, verließ Clementine ihren Garten und machte sich auf den Weg.

Es war nicht sehr weit bis zu ihrem Ziel, also ging sie zu Fuß. Nach zehn Minuten kam sie bei Rhabarbaras Haus an. Die alte Hexe winkte ihr freundlich von der Veranda zu.


Die Sonne versank langsam hinter den Wäldern des Fliedergrundes, während Clementine Rhabarbara ihre ganze Geschichte erzählte. Wie sie den Auftrag erhalten hatte die Kinder zu beseitigen. Wie sie es nicht über sich brachte ihre eigenen Schülerinnen und Schüler zu töten. Dass sie das Talent hatte, Lebewesen zu verwandeln und dabei ihre Seelen zu erhalten. Und wie sie seit jeher die Kinder in Teetassen verwandelte, um sie zu verschonen. Sie erzählte auch, dass sie den Auftrag erhalten hatte, Ru zu verwandeln und nicht wusste, was sie jetzt tun sollte. Sie erzählte sogar, dass Ru sie beim Hexen erwischt hatte und sie jetzt befürchtete, Ru könnte mehr über die Hexen herausfinden.
Rhabarbara hörte die ganze Zeit aufmerksam zu und trank dabei ihren Tee. Auch Monsieur Neunzehn hatte sich dazugesetzt, schien aber nicht so aufmerksam zuzuhören. Er streckte sich sehr ausgiebig und futterte zwischendurch einige Süßspeisen, die Rhabarbara für ihn bereit gelegt hatte.
Als Clementine fertig war, ergriff Rhabarbara ihre Hände. "Du hast das Herz am rechten Fleck, Schwester. Es freut mich, dass du diese unschuldigen Kinder verschont hast. Wir finden gemeinsam einen Weg aus diesem Durcheinander." Clementine war erleichtert, als sie das hörte. Dann mischte sich Monsieur Neunzehn in das Gespräch ein: "Natürlich war uns das alles schon lange bewusst. Ihr hättet schon deutlich früher damit zu uns kommen sollen, Madame Hexe." Clementine blickte den Kater erstaunt an. Dann fiel bei ihr langsam der Groschen. Der Kater hatte ihr tatsächlich schon zweimal seine Hilfe angeboten. Beim letzten Mal hatte er sogar betont, dass sie einen Gefallen bei ihm gut habe. Clementine hatte das immer einfach abgetan. Aber offensichtlich warteten der Kater und Rhabarbara schon länger darauf, dass Clementine sie um Hilfe bat. Clementine kam sich plötzlich ein bisschen dumm vor. Doch Rhabarbara lächelte sie warmherzig an. "Mach dir keine Sorgen Schwester. Es gibt einige Hexen, die mit der Art und Weise unserer Oberhexe nicht einverstanden sind. Ich bin ja selbst beim letzten Hexenrat wieder mit ihr aneinandergeraten. Ich denke, wir reden mal mit einigen unserer Schwestern. Und wenn du und ich beim nächsten Hexenrat gemeinsam ansprechen, dass wir nicht damit einverstanden sind, unschuldige Kinder zu meucheln, dann wird Brokkola nachgeben müssen." Rhabarbara goss den beiden etwas Tee ein, bevor sie weitersprach. "Lass uns mit ein paar anderen Hexen in Kontakt treten. Vorerst wird es wohl das beste sein, wenn du Ru verwandelst, damit die Oberhexe keinen Verdacht schöpft. Und damit gewinnen wir auch etwas Zeit, in der du dich nicht sorgen musst, dass Ru mehr über uns Hexen herausfindet." Das klang für Clementine nach einem vernünftigen Plan. Und jetzt, wo Rhabarbara sie unterstützen würde, fiel ihr eine große Last vom Herzen.
Sie sprachen noch ein wenig darüber, was sich daraus ergeben würde. Natürlich mussten sie jemanden finden, der den Großvater versorgen würde. Monsieur Neunzehn meinte aber, dass das kein Problem wäre und er sich kümmern würde: "Die Bewohner meines Reiches wissen schließlich was sich gehört", sagte er schnurrend. Danach erzählte Rhabarbara noch von einigen anderen Hexen, mit denen sie in Briefkontakt stand. Anscheinend war Brokkola nicht bei allen Hexen so beliebt wie Clementine gedacht hatte. Als die Nacht hereinbrach, verabschiedete sich Clementine von Rhabarbara und Monsieur Neunzehn, um sich auf den Heimweg zu machen. Bei der Verabschiedung umarmte Rhabarbara sie herzlich und sagte noch: "Denk immer daran, dass die meisten Menschen Gutes in sich tragen und nicht jede Hexe so ist, wie sie auf den ersten Blick scheint." Da hatte Clementine etwas, über das sie nachdenken konnte. Sie hatte ihre Schwestern falsch eingeschätzt. Die meisten hatten sicherlich das Herz am rechten Fleck.


Das Verwunschene TeeserviceWo Geschichten leben. Entdecke jetzt