Zwischenkapitel - Eine besondere Nacht

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Während Clementine auf dem Weg zur Lichtung der träumenden Bäume war, flanierte Monsieur Neunzehn durch den Fliedergrund. Er zog heute eine Runde um das Dorf, um alles im Auge zu behalten. Bei den Hexenangelegenheiten mischte er sich nicht ein. Nicht, weil er vor der Oberhexe Angst gehabt hätte. Nein. Aber so wie ein großer König nicht selbst in jede Schlacht reiten musste, so beteiligte sich Monsieur Neunzehn auch nicht an jedem Geplänkel. Während alle Hexen des Fliedergrunds beschäftigt waren, schadete es sicher nicht, wenn er selbst mal ein wenig über die Gegend wachte. Monsieur Neunzehn war ein stolzer Kater. Aber nicht zu stolz, um sich selbst die Pfoten schmutzig zu machen. Und wenn er das Wachen über den Fliedergrund flanierend durchführen konnte, dann tat er es gern.

Es war ein kühler Abend und der Himmel war sternenklar. Die Nacht war langsam und unauffällig in den Fliedergrund geschlichen. Natürlich konnte Monsieur Neunzehn im Dunkeln hervorragend sehen. So konnte er auch erkennen, wie eine dunkle Gestalt am Himmel auf den Fliedergrund zuflog. Monsieur Neunzehn erkannte sogar, was da geflogen kam. Es war der graue Uhu der Oberhexe Brokkola. Er hasste diesen aufgeblasenen Vogel. Der hatte bestimmt nichts Gutes im Sinn. Einer ungefähren Ahnung folgend machte sich Monsieur Neunzehn auf zum Haus der Lehrerin-Hexe, um vor dem Uhu dort zu sein. Der Kater tat es selten, aber er konnte rennen! Es dauerte ein bisschen, bis er seinen großen und schweren Körper in Bewegung gesetzt hatte. Aber als er richtig Fahrt aufgenommen hatte, war er unglaublich schnell. Zumindest war das sein eigener Eindruck. Er erreichte das Haus rechtzeitig, bevor der Uhu angekommen war. Glücklicherweise schien der Uhu eine Weile gesucht zu haben, bevor er das richtige Haus gefunden hatte. Monsieur Neunzehn hatte sogar noch ein bisschen Zeit, sich hinzusetzen und so zu tun, als wäre er schon ewig hier gewesen. In dem Moment, als der große Vogel auf das Haus zusegelte, überspielte der Kater durch ein langgezogenes Gähnen, dass er noch heftig nach Luft schnappen musste. Mit gelangweilter Stimme sprach er den Uhu an: "Nanu, was machen Sie denn hier, zu so später Stunde?" Der Uhu landete auf einem Ast des Kirschbaums und schaute Monsieur Neunzehn von oben herab an. "Haus der Lehrerin", antwortete der Vogel. Monsieur Neunzehn kräuselte sich das Nackenfell. Er verachtete diesen Vogel und seine unkultivierte Art und Weise. Aber jetzt galt es erst einmal Zeit zu gewinnen. Monsieur Neunzehn räusperte sich, bevor er weitersprach. "Aber da sind Sie hier ganz falsch. Das hier ist doch das Haus der Dorfhexe Rhabarbara." Der Uhu starrte ihn mit einem stechenden Blick an. "Haus der Lehrerin. Schiefer Schornstein". Monsieur Neunzehn musste sich zusammennehmen, um nicht mit den Augen zu rollen, bevor er darauf antwortete. "Ja genau, das Haus der Lehrerin hat einen schiefen Schornstein. Es hat aber kein Spitzdach, sondern ein flaches Dach." Monsieur Neunzehn starrte den Uhu an, der reagierte aber nicht. Dann fügte der Kater ein theatralisches Seufzen hinzu und deutete betont gelangweilt mit seiner Pfote nach Westen. "In diese Richtung." Der Uhu starrte noch eine Weile finster, dann hob er vom Baum ab und schoss in die Richtung, in die Monsieur Neunzehn gezeigt hatte. Es gab kein Haus mit Flachdach und schiefem Schornstein im Fliedergrund. Also hatte Monsieur Neunzehn so lange Zeit, bis der Uhu alle Häuser abgesucht hatte. Falls er nicht früher schon drauf kam, dass er hinters Licht geführt worden war.
Monsieur Neunzehn lief schnell zum Haus der Lehrerin. Es war jetzt wichtig, alle Eingänge zu versperren, um die Teetassen zu schützen. Denn dass der Uhu gekommen war, um die Teetassen zu zerstören, daran hatte der Kater keine Sekunde gezweifelt. Schwerfällig eilte Monsieur Neunzehn durch die offene Tür ins Haus. Er hörte Kalixtus schwerfälliges Schnaufen und entdeckte das Krähenmännchen in einem Korb, der auf dem Fußboden stand. Kalixtus sah übel mitgenommen aus und würde ihm sicher nicht helfen können. Mit einem lauten Fauchen rief Monsieur Neunzehn nach den restlichen Bewohnern des Hauses. Es dauerte einen Moment, dann kam ein Bettlaken angesegelt. Monsieur Neunzehn wartete noch einen Augenblick, aber es kam niemand weiteres. Der Kater gab ein enttäuschtes Seufzen von sich. Dann raffte er sich zusammen und sprach in seinem besten Befehlshaberton zum Laken. "Ich entschuldige mich für meine dringliche Art und dafür, dass ich nicht gebührende Höflichkeit zur Begrüßung erübrigen kann, doch es drängt die Lage. Wir sind angehalten das Haus in kürzester Zeit zu verriegeln, um den Eintritt von außen zu verhindern. Die Fenster gehören zugesperrt und zugebunden. Dafür eignen sich alle Arten von Stoff: Handtücher, Küchentücher oder auch ein paar Socken. Es gilt den Feind auszusperren. Das Bettlaken sauste schnell zum Küchenschrank und kam mit einigen eingewickelten Geschirrtüchern zurück. Nur ein Augenzwinkern später war es schon auf dem Weg zum ersten Fenster, legte den Riegel vor und band die Fenstergriffe mit den Geschirrtüchern zu. Monsieur Neunzehn stand der Mund weit offen, während er zusah. Das Laken war deutlich lebhafter und energischer, als er es erwartet hatte. Nach einem Moment riss sich der Kater aber wieder zusammen. Er bemerkte den offenen Kamin, vor dem das Kaminrost auf dem Boden lag. Der Kamin war ein weiterer Eingang in das Haus. Er musste schnell aufs Dach, um zu sehen, ob er den Schornstein irgendwie verschließen konnte. Monsieur Neunzehn eilte durch die offene Haustür in den Garten, von dort blickte er die Hauswand hoch. In seiner Jugend wäre er hier in zwei Sätzen hochgesprungen. Doch die letzten Jahre hatte sich der Kater mehr auf das Schlemmen und das Konversieren konzentriert als auf das Springen und Klettern. Es war jetzt allerdings auch nicht an der Zeit nach Ausflüchten zu suchen, sondern zu handeln. Er sah keinen Weg, um die steile Hauswand hinaufzukommen. Schnell drehte er sich zu dem Kirschbaum um. Klug wie er war, hatte er erkannt, dass er über den Kirschbaum auf das Dach klettern könnte. Also eilte Monsieur Neunzehn auf den jungen Kirschbaum zu. Es war erstaunlich, wie die Leute im Dorf die offensichtlichsten Dinge nicht bemerkten. Die Madame Lehrerin-Hexe hatte den Kirschbaum erst vor ein paar Wochen gepflanzt, aber trotzdem hatte der Baum die Größe von einigen Jahren und es blühten bereits die ersten Früchte. Er riss sich aus seinen Gedanken und sprang leichtpfotig den Baumstamm hoch, hin zum erster Ast. Zumindest hatte er das vorgehabt. Es waren nur knapp eineinhalb Meter bis zum Ast, also wirklich nur ein Katzensprung. Allerdings schaffte er es mit seinem Sprung kaum den halben Weg hinauf und konnte sich gerade noch am Stamm festklammern. Monsieur Neunzehn hoffte inständig, dass ihn niemand sehen konnte. Langsam und mühselig kroch er den Baumstamm hinauf. Als er endlich den Ast erreichte, war er bereits völlig aus der Puste. Langsam stöhnend blickte er nach oben: Er musste noch drei weitere Äste hinauf, bevor er auf das Dach klettern konnte. Der Abstand zwischen den nächsten Ästen war zwar nicht besonders groß, aber Monsieur Neunzehn war schon jetzt völlig am Ende. Schwer keuchend machte er sich wieder zum Sprung bereit. Dieses Mal gelang ihm der Absprung und er schaffte es fast bis zum nächsten Ast. Mit einer Vorderpfote umfasste er ihn, mit der anderen krallte er sich am Baum fest. Fluchend schwor sich Monsieur Neunzehn, dass er in den nächsten Monaten Sahne und Speck von der Speisekarte streichen würde.
Die nächsten beiden Äste standen noch näher beieinander als die Vorherigen. Trotzdem war Monsieur Neunzehn am Ende seiner Kräfte, als er oben ankam. Bevor er weiterging, verharrte er an Ort und Stelle und würgte unter großer Anstrengung ein Fellknäuel hervor. Er nahm noch einen großen Atemzug und balancierte dann den Ast entlang auf das Hausdach zu. Wenigstens erforderte dieser Teil keine weitere sportliche Anforderung. Der Weg zum Schornstein verlief anscheinend recht glatt. Nicht zu steil. Während Monsieur Neunzehn seine nächsten Schritte plante, bemerkte er zu seinem Unbehagen, dass sich der Ast, auf dem er lief, langsam nach unten bog. Er verstand kaum was er tat, aber seine Katzenreflexe reagierten an seiner Stelle. Noch während der Ast sich weiter bog, sprang der Kater in die Luft und segelte auf das Dach zu. Seine Kraft hatte noch gereicht, um bis zu dem Dach zu kommen, allerdings nicht mehr, um sich auf die Landung vorzubereiten. Mit einem dumpfen Aufschlag, krachte der mächtige Kater auf das Dach. Unter ihm zerbrachen mehrere Schindeln, während andere in die Tiefe stürzten. Weniger elegant als er es gewohnt war, richtete sich Monsieur Neunzehn wieder auf. Warum nahm er das eigentlich auf sich? Die Seelen, die in den Tassen gefangen waren, gehörten nicht einmal zu seinen Untertanen. Die Madame Lehrerin-Hexe war ihm auf jeden Fall einen ganz schön großen Gefallen schuldig. Er blickte zu dem Schornstein hinauf. Bevor er sich auf den Weg machen konnte, sah er allerdings einen großen Schatten näherkommen. Schnell erkannte er den Uhu an seinen großen Schwingen. Der verfluchte Vogel war das ganze Dorf abgeflogen, während Monsieur Neunzehn es kaum geschafft hatte, auf das Hausdach zu klettern. Der Kater stolperte langsam auf das Vordach, das über dem Eingang stand. In derselben Zeit erreichte der Uhu das Haus und landete auf dem Kirschbaum. Wieder starrte er Monsieur Neunzehn an. Dem Kater fehlte die Luft, um noch irgendetwas zu sagen. Er hoffte, dass das Laken mittlerweile alle Fenster geschlossen hatte und dass der Schornstein zu schmal für den Uhu war. Der Uhu öffnete den Schnabel und sprach endlich: "Kein Flachdach im Dorf. Gehe jetzt rein." Monsieur Neunzehn fiel keine passende Antwort ein. Der Uhu schlug mit den Flügeln und flog nach vorn los. Monsieur Neunzehn brach der kalte Schweiß aus. Er hatte die Tür offen gelassen. Er benutzte Türen so selten, er dachte kaum daran, dass sie auch einen Eingang bildeten. Er rappelte, um den Uhu noch irgendwie einzuholen. Er hatte keinen Plan, was er gegen den riesigen Raubvogel unternehmen konnte, aber stürzte erstmal vorwärts, um ihn irgendwie aufzuhalten. Leider geriet er bei dem hastigen Versuch ins Taumeln und unter ihm lösten sich einige der Schindeln. Der Kater rutschte mitsamt der Schindeln vom Dach und stürzte hinunter. Im selben Moment war der Uhu dabei, durch die offenstehende Tür in das Haus zu fliegen. Der Kater prallte auf den fliegenden Vogel und stürzte mit ihm zu Boden. Bei einem Sturz aus dieser Höhe befürchtete der Kater, sich schlimm zu verletzen, allerdings krachte er genau auf den Uhu und so wurde die Landung ein wenig gedämpft. Wie befürchtet hörte Monsieur Neunzehn einige Knochen brechen, wahrscheinlich aber nicht die eigenen. Der Uhu krächzte und schimpfte, aber bei so viel Gewicht hatte er keine Chance. Monsieur Neunzehn rollte sich bequem zusammen und leckte sich die wunden Pfoten. Dann entschied er sich dazu, ein kleines Nickerchen auf dem Rücken des Uhus zu halten. Nur solange, bis eine der Hexen wiederkommen würde und dieses Problem für ihn endgültig entfernen konnte.

Und vielleicht war es doch nicht nötig, in Zukunft auf das Schlemmen zu verzichten. So ein großer schwerer Körper hatte ja doch auch so einige Vorteile.

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