Kapitel 13 - Noch ein Brief

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Am Ende eines weiteren Schultages, machte sich Clementine wie gewöhnlich auf den Heimweg. Auf halber Strecke zu ihrem Haus lief ihr Monsieur Neunzehn über den Weg. Er begrüßte sie auf seine vornehme Art und Weise und Clementine grüßte höflich zurück. Dann sprach der Kater an, warum er hier war: "Madame Hexe, ich muss Sie um einen Gefallen bitten", begann er. Dann fügte er hinzu: "Sie haben vielleicht mitbekommen, dass der alte Pfarrer hier in meinem Dorf zur Zeit sein Bett nicht verlassen kann. Bedauerlicherweise musste ich feststellen, dass sich außer der Enkeltochter niemand um ihn kümmert. Ich habe veranlasst, dass jeden zweiten Tag eine der Töchter von Madame Kamilla zur Unterstützung dorthin gehen wird. Allerdings konnte ich auf die schnelle niemanden finden, der heute noch einmal dort vorbei sieht. Dürfte ich Sie bitten, diese Aufgabe zu übernehmen und am heutigen Nachmittag einmal nach dem Rechten zu sehen, Gnädigste?" Clementine war wieder einmal überrascht von dem Kater. Hatte er 'Mein Dorf' gesagt? Dieser Kater verhielt sich wirklich nicht wie ein gewöhnliches Haustier. Aber es war schön zu sehen, dass er sich wirklich für die Leute im Fliedergrund interessierte. Clementine nickte sofort. "Aber gern Monsieur Neunzehn, ich freue mich zu hören, dass die junge Ru so viel Unterstützung bei der Pflege ihres Großvaters erhält." Der Kater wirkte sehr zufrieden. "Ausgezeichnet. Dann gehen Sie besser gleich zu ihr. Sie haben einen Gefallen bei mir gut, also zögern Sie nicht, mich zu fragen, wenn Sie etwas brauchen." Damit verabschiedete sich der Kater und ging wieder seiner Wege. Clementine blieb kurz stehen und wunderte sich über dieses seltsame Tier. Dann drehte sie wieder um und ging zum Haus des Pfarrers.
Clementine war sehr überrascht, als sie dort angekommen war. Ru stand in der Küche und war gerade dabei ein Brot zu backen. Im Zimmer des Alten sah alles tadellos aus. Sowohl die Bettwäsche als auch die Verbände waren frisch gewechselt worden und es stand ein Teller mit frischem Essen am Bett. Der Pfarrer schien gerade zu schlafen. Clementine setzte sich auf einen Stuhl neben das Bett und begann einen Apfel, der auf dem Teller lag, erst zu schälen und dann in kleine Stücke zu schneiden. Während sie am Schneiden war, wachte der alte Pfarrer auf. Er drehte sich zu ihr um und es dauerte einen Moment bis er sie erkannte. Dann sprach er sie an. "Ah, Guten Tag Frau Lehrerin. Sehr nett von Ihnen, dass Sie vorbeigekommen sind.". Der Pfarrer schien sehr erschöpft zu sein. Das wunderte Clementine nicht. In seinem Alter heilte ein gebrochenes Bein nicht ohne Weiteres. Clementine lächelte ihn freundlich an. "Ich wollte nur einmal sehen, ob Sie alles haben, was Sie brauchen." Der Alte winkte ab. "Meine Enkeltochter kümmert sich wirklich rührend um mich. Mir fehlt es an nichts. Trotzdem danke ich Ihnen fürs Vorbeikommen." Damit schien das Gespräch für ihn schon erledigt zu sein. Aber Clementine war neugierig geworden. Also stellte sie ihm eine Frage: "Pfarrer Grammelburt, finden Sie es nicht ungewöhnlich, wie sehr sich Ru um sie kümmert? Bisher erlebte ich sie immer als recht..." ,Clementine überlegte, welches Wort am besten passte, "eigensinnig", beendete sie ihren Satz. Ein Lächeln deutete sich auf dem Gesicht des Pfarrers Grammelburt an. "Störrisch. Das wäre das bessere Wort. Sie müssen wissen, meine Ruth ist wirklich ein Wildfang. Aber sie hat das Herz am rechten Fleck. Wir streiten uns wahrscheinlich jeden Tag. Aber am Ende hat sie ja nur noch mich."

Jetzt war Clementines Neugier wirklich geweckt. Sie wollte aber auch nicht unhöflich sein. Zögerlich sprach sie das offene Thema an: "Darf ich fragen, wo Ruths Eltern sind?"

Der Alte nickte leicht. "Natürlich dürfen Sie das fragen. Es ist ja auch kein Geheimnis. Meine Tochter war immer ein braves und kluges Mädchen. Aber als sie Ruths Vater kennengelernte, verdrehte dieser ihr völlig den Kopf. Er war ein reisender Händler und überall in der Welt unterwegs. Die beiden sind einige Jahre gereist und haben sich erst niedergelassen, als Ruth zur Welt gekommen ist. Ihr Vater war aber weiterhin ständig unterwegs. Er hat sich nie um ihre Erziehung gekümmert. Stattdessen hat er ihr ständig irgendwelchen wertlosen Kram aus aller Welt mitgebracht. Sand von einem Strand im Nirgendwo oder Bücher über erfundene Abenteurer. Er hat ihr nur Flausen in den Kopf gesetzt." Der alte Pfarrer blickte grimmig drein, als er über seinen Schwiegersohn sprach. Clementine erinnerte sich an all die verschiedenen Gegenstände, die sie auf Rus Schreibtisch gefunden hatte. Der Alte sprach weiter: "Als meine Tochter dann krank wurde, ist er verschwunden und hat sich nie wieder blicken lassen. Hat seine eigene Tochter im Stich gelassen, der Nichtsnutz. Achtzig Meilen bin ich mit einem Esel und einem alten Karren gereist, um meine Tochter zu beerdigen. Und niemand war da, der sich um meine Enkeltochter kümmerte, also hab ich sie mitgenommen. Seitdem sind wir auf uns allein gestellt. Drei Jahre ist das her und nichts haben wir gehört von diesem Taugenichts. Aber Ru hat sich in den Kopf gesetzt, dass er ein Held oder so etwas ist. Niemand darf schlecht über ihn sprechen." Der Pfarrer seufzte, bevor er weitersprach: "Ich bin nur froh, dass sie nicht so treulos wie ihr Vater geworden ist. Ein paar Werte hat sie von mir und ihrer Mutter gelernt. Also ist sie hier und kümmert sich um ihren kranken Großvater."

Clementine schmerzte es, die traurige Geschichte des Mädchens zu hören. Ru hatte es bestimmt nicht leicht als Enkeltochter des Pfarrers, in einem Dorf, in dem sie gar nicht aufgewachsen war. Clementine erzählte dem Pfarrer nichts davon, dass Ru in der Schule davon sprach, dass sie möglichst wegziehen wollte und die Welt sehen. Es gab keinen Grund sich hier einzumischen. Das mussten die beiden unter sich ausmachen. Clementine bedankte sich bei dem Alten dafür, dass er ihr die Geschichte erzählt hatte. Dann ging sie los, um Ru etwas von der Arbeit abzunehmen.
Als sie in der Küche ankam, putzte das Mädchen gerade. Es sah erschöpft aus. Clementine war ganz freundlich zu Ru und bot ihr an, ihr die Arbeit abzunehmen, damit sie mal wieder einen freien Nachmittag hatte. Das Mädchen bedankte sich brav. Aber anstatt nach draußen zu gehen, um zu spielen, ging es direkt in sein Zimmer und legte sich schlafen. Clementine biss sich auf die Lippe. Ru wirkte nach außen hin immer so stark und selbstbewusst. Aber natürlich war es zuviel für eine Elfjährige, einen ganzen Haushalt zu schmeißen und ihren Großvater zu pflegen. Clementine räumte auf und begann mit dem Abendessen. Sie war froh, dass von Zeit zu Zeit jemand zum Helfen kommen würde. Sie nahm sich vor, auch öfter einmal vorbei zu schauen und nach dem Rechten zu sehen.


Als Clementine am Abend heimkehrte, machte sie sich zuerst eine Kanne Tee. Sie schenkte sich eine Tasse voll ein und setzte sich in ihren Garten, um die Abendsonne zu genießen. Während sie die Tasse betrachtete, erinnerte sie sich an den Jungen, die sie einmal gewesen war. Er war ein ganz schöner Störenfried gewesen. Clementine hatte ständig Schwierigkeiten mit ihm gehabt. Der Unterricht war bedeutend einfacher geworden, nachdem sie den Jungen verwandelt hatte. Trotzdem hatte sie es damals nur ungern getan. Als Lehrerin hatte sie den Ehrgeiz, jedem Kind dabei zu helfen herauszufinden, wo seine Stärken und Talente lagen. So hätte sie auch diesen Jungen gern auf seinem Weg unterstützt.
Sie nahm einen weiteren Schluck, dann bemerkte sie, dass ein Vogel sich näherte. Zuerst dachte sie, es wäre vielleicht Kalixtus. Doch als der Vogel näher kam, sah sie, dass es ein Rabe war. Und er trug wieder einen Brief im Schnabel. Von Brokkola. Clementine seufzte. Der Rabe landete neben ihr und gab den Brief wortlos ab. Brokkola hatte ihren Raben anscheinend nicht das Sprechen gelehrt. Wahrscheinlich, weil sie sie nur als Boten einsetzte. Clementine meinte sich aber daran zu erinnern, den Uhu sprechen gehört zu haben. Viele Hexen hatten einen Tierbegleiter, Clementine hatte Kalixtus und Rhabarbara Monsieur Neunzehn. Brokkola hatte sogar mehrere: den Uhu und wenigstens einen Botenraben. Falls es mehr als einen Botenraben gab, konnte Clementine sie aber nicht auseinanderhalten, sie sahen für sie alle gleich aus. Der Rabe flog wieder davon. Clementine fragte sich, ob Kamilla auch einen Tierbegleiter hatte. Sie hatte nie einen bei ihr gesehen.
Nachdem sie ein bisschen darüber gegrübelt hatte, was für ein Tierbegleiter zu Kamilla passen würde, entschied sich Clementine, den Brief zu öffnen.


Hochgeschätzte Hexenschwester,

ich kann das Schicksal jetzt klarer sehen. Wir haben alle Chancen versäumt, die junge Ruth für uns zu gewinnen. Ihr Schicksalsfaden zeigt mir, dass sie niemals unserem Orden beitreten wird. Und weil wir sie nicht für uns gewinnen können, muss sie dringend beseitigt werden.

Kümmere dich noch diese Woche darum.

Schrecklich giftige Grüße,
Brokkola - Oberhexe und Mitglied 1. Grades des Ordens der garstigen Grünhexen

Clementine musste schlucken. Sie hatte nicht damit gerechnet, dass Ru ihr nächstes Ziel sein würde. Und das gerade jetzt, wo das Mädchen ihren Großvater pflegte. Clementine erschrak so manches Mal über die Kaltherzigkeit der Oberhexe. Den Tee hatte sie mittlerweile ausgetrunken, also schickte sie die leere Tasse in das Haus zurück.
Clementine saß noch eine Weile draußen an der frischen Luft und dachte darüber nach, was sie tun wollte. Sie hatte wirklich keine Lust mehr darauf die Kinder zu verwandeln. Sie brauchte eine gute Idee, um aus dieser Situation zu kommen. Und sie brauchte sie schnell.

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