Zwischenkapitel - Botenflug

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Kalixtus knurrte der Magen während er durch die Nacht flog. Clementine war mitten in der Nacht heimgekommen, hatte ihn geweckt und ihm einen dringenden Brief für Brokkola gegeben. Kalixtus hasste es, wenn er nicht genug Schlaf bekam, aber er konnte Clementine einfach nie einen Gefallen abschlagen. So war das auf der Welt eben, gutmütige Kerle wie er wurden immer wieder ausgenutzt. Kalixtus musste sich allerdings eingestehen, dass 'ausgenutzt' vielleicht das falsche Wort war. Immerhin versorgte Clementine ihn mit allerlei Köstlichkeiten, einem warmen Schlafplatz und guter Gesellschaft. Sein Leben war auf jeden Fall deutlich ungemütlicher gewesen, bevor er Clementine kennengelernt hatte.
Trotzdem war er schlechter Laune. Mitten in der kalten Nacht etliche Meilen zu fliegen, um einen Brief zu überbringen, würde niemandem Spaß machen. Und dann noch dieser fiesen Oberhexe, die sich diese riesigen fiesen Vögel hielt. Raben waren ja schon schlimm, aber dieser schaurige Uhu, der Brokkola überall hin folgte, der flößte ihm regelrecht Angst ein. Auch wenn niemand ihn hören konnte, schimpfte Kalixtus eine Weile vor sich hin. Dann näherte er sich aber auch schon langsam dem Haus der Oberhexe.
Eines musste Kalixtus Brokkola lassen: ihr Haus machte Eindruck. Es war ein richtiges kleines Anwesen, mitten im Wald. Es gab mehrere spitze Türme, die krumm und schief in alle Richtungen standen. Kein Fenster und keine Tür war rechteckig. Es gab runde Fenster, dreieckige Fenster, trapezförmige Fenster und Fenster, die überhaupt keine klare, erkennbare Form hatten. Die Eingangstür bestand aus zwei gewaltigen Flügeln, die beide ganz verschieden aussahen. Kerzenlicht flackerte in den Fenstern und Rauch stieg aus dem Schornstein. Nervös blickte Kalixtus durch den Garten. Unter dem hellen Mondlicht warfen die Büsche und Bäume lange verschlungene Schatten, allerdings war weder einer der Raben noch der Uhu zu sehen. Kalixtus atmete erleichtert aus. Wenn alles gut lief, konnte er den Brief einfach ablegen und wieder verschwinden, ohne dass ihn jemand bemerkte. Das wäre ihm am allerliebsten.
Im Dachgeschoss des Hauses standen die meisten Fenster offen. Immerhin hatte die Oberhexe das Haus sehr vogelfreundlich eingerichtet. Kalixtus flog durch ein großes rundes Fenster in das Haus und landete auf einem der Geländer, das wie gemacht war für seine Krähenfüße. Vorsichtig spähte er in den Rest des Dachgeschosses, konnte aber niemanden weiter sehen. Mit leisen und vorsichtigen Flügelschlägen schwebte er zu einem Tisch, der ihm geeignet schien, den Brief abzulegen. Vorsichtig legte Kalixtus den Brief ab und machte sich bereit für den Heimweg.
Als er gerade los wollte, drang ihm ein starker Geruch in die Nase. Es war lange her, dass Kalixtus so etwas gerochen hatte, aber er erkannte es sofort. Es war Speck! Bei Clementine gab es nie Fleisch, sie ernährte sich immer ganz vegetarisch. Kalixtus lief das Wasser im Schnabel zusammen. Die alte Hexe würde bestimmt nicht merken, wenn ein bisschen von ihrem Speck fehlen würde.
Also flog Kalixtus immer dem Schnabel nach Er fand sofort die Speisekammer - und sie stand auch noch offen! Heute musste sein Glückstag sein. Besser gesagt: seine Glücksnacht. Kalixtus fand schnell den Speck, der bereits geschnitten und getrocknet auf einem Tisch drapiert lag. Gierig verschlang er ein Stück nach dem anderen. Nachdem er sich gesättigt hatte, sah er sich noch ein wenig in der Speisekammer um. Der ganze Raum war voller Leckereien: Würste, verschiedene Käsesorten, eingelegte Früchte, Gläser voller Liköre und Schnäpse und jede Menge Einmachgläser mit verschiedenfarbigen Inhalten, die Kalixtus nicht erkannte. Bald schon fiel sein Blick auf ein Glas eingelegte Oliven. Die würden sich prima als Nachspeise machen.

Obwohl er eigentlich schon satt war, fischte Kalixtus auch noch die letzte Olive aus dem Glas heraus. Zufrieden seufzend machte er sich wieder auf. Diese Vorratskammer wollte er sich besser merken. Die Aussicht auf solche Leckereien entschädigte ihn dafür, den weiten Weg zurücklegen zu müssen.
Doch das Festessen machte sich bemerkbar. Er musste schon ganz schön mit den Flügeln schlagen, um seinen vollgefressenen Körper überhaupt vom Tisch hochzubekommen. Kalixtus hatte einfach durch die Tür hinausfliegen wollen, allerdings stand dort jetzt jemand im Türrahmen. Es war die Oberhexe Brokkola höchstpersönlich und auf ihrer Schulter saß der riesige, fiese Uhu, der sie so oft begleitete. Die Stimme der Oberhexe klang bedrohlich: "Soso, wen haben wir denn hier?" Was die Hexe danach noch sagte, konnte Kalixtus nicht verstehen. Es klang wie eine hexische Beschwörung. Sein Blickfeld verdichtete sich immer weiter, bis er nur noch die Augen der Hexe sehen konnte. Dann wurde alles schwarz.


Am nächsten Morgen wachte Kalixtus mit stechenden Kopfschmerzen auf. Zu allem Überfluss bemerkte er, dass auch sein Magen schmerzte. Es fühlte sich ganz so an, wie wenn er am Vortag einen unbewachten Kirschbaum geplündert hatte. Kalixtus versuchte sich zu erinnern, was in der letzten Nacht geschehen war. Er hatte einen Brief zur Oberhexe gebracht. Mehr wusste er nicht. Langsam und schwerfällig flog er in den Garten zu Clementine. Sie sah erschöpft aus. Sie hatte in der vergangenen Nacht nur kurz erwähnt, dass sie in einen Kampf gegen den Schwarzen Mann verwickelt war. Das hatte ihr anscheinend einiges abverlangt.
Vorsichtig landete er auf einem Ast in ihrer Nähe. "Hey Clems?", begann er vorsichtig. "Hast du vielleicht eine Idee, wo meine Kopf- und Bauchschmerzen herkommen könnten?" Clementine sah ihn einen kurzen Augenblick lang an. "Den Spuren in deinem Fellkleid nach zu urteilen, hast du es gestern beim Futtern mal wieder übertrieben." Kalixtus stand der Schnabel offen. Er versuchte einen Moment lang an seinem Körper herunterzublicken, aber das gelang ihm mit seinem kurzen Hals kaum.
Aber während er sich noch abmühte, hielt ihm Clementine bereits einen kleinen Handspiegel vors Gesicht. Wie machte sie das nur immer so schnell. Das Hexen ging ihr anscheinend so leicht von der Hand, wie anderen das Atmen. Kalixtus blickte in den Spiegel und sah eine Menge dunkler Saftspritzer und ganz kleine Fruchtstückchen in seinem Federkleid. Mit einem beiläufigen Wischen ihrer Hand winkte Clementine eine Gießkanne herbei, die Kalitus duschte. Er hatte nicht einmal Zeit zu protestieren, da war er schon klitschnass. Kurz darauf flogen zwei kleine Handtücher vorbei, die ihn wieder trocken rieben. Clementine hatte in der Zeit nicht einmal hingeschaut, sondern weiter nachdenklich an ihrem Tee genippt.
Dann sprach sie aber noch einmal. "Ich muss zugeben, du überraschst mich Kalixtus. Ich frage mich wirklich, wo du zu dieser Jahreszeit schon reife Kirschen gefunden hast. Ich hoffe, du hast dich nicht über die Vorräte von jemanden im Dorf hergemacht. Wie dem auch sei, ich muss jetzt mal los zur Schule, wir sprechen uns nachher." Kalixtus blieb nur noch ein kurzer Moment, um sich zu verabschieden. Dann blieb er nachdenklich auf der Stuhllehne zurück.

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