Das Lied

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Du stehst im Wald. Du fragst dich nicht in welchem Wald, oder wie du hierher gekommen bist, und warum. Du bist einfach hier.
Deine Hände ziehen wie von selbst dein Handy aus der Hosentasche, stecken die Kopfhörer ein. Ohne einen bestimmten Gedanken, warum, wählst du ein Lied aus.
Zuerst ertönt nur eine Stimme. Ganz zart, wie im hintersten Teil deines Kopfes. Der Mann singt, wird dabei immer lauter. Du hebst deinen Kopf, blickst zur Sonne empor, die zwischen den Ästen durchscheint. Sie steht schon sehr tief.
Die tiefe, kratzige Stimme steigert sich zu einem heiseren, wortlosem Singen. Die Stimmung des Liedes passt zu deiner, wie die Dornen zur Rose, und mit dem ersten Gitarrenklang verspürst du das starke Verlangen nach Wind auf deinem Gesicht.
Im Takt mit den abgehakten Akkorden zuckt dein Blick durch den Wald, sucht nach einem guten Baum. Schnell findest du einen, und kletterst nach oben.
Als die ersten Basstöne erklingen, berühren deine Hände die raue Rinde, und auf einmal wird dein Körper zu dem Lied.
Deine Hände und Füße werden der Bass.
Der Schal und die Weste, die im Wind flattern werden zur unsteten Gitarre im Hintergrund.
Haarstränen werden vom Wind angehoben, schweben sacht durch die Luft, und werden zum Chor, der leise singt.
Und deine Seele, deine nach Freiheit lechzende Seele, sie wird zur Stimme.
Du kletterst immer höher, immer schneller, immer weiter, bist fast schon in der Krone angelangt, da hältst du plötzlich inne. Ein kleiner Sonnenstrahl streift verholen dein Gesicht, gerade als das Lied ein letztes Mal ruhiger wird.
Vor dem großen Finale scheint alles still zu stehen. Der Sänger ist nun wieder allein mit der Gitarre. Und er singt leise, nur ganz zaghaft. Dein Durst nach Freiheit ist nun fast gestillt, du bist ruhig, wärmst dein Gesicht in den letzten Strahlen der Sonne. Deine Augen sind geschlossen, der Mund genießerisch leicht geöffnet, immer noch spielt der Wind mit deinen Haaren.
Dann legt er los.
Der Sänger steigert alles noch ein letztes Mal.
Das Lied wird auf einmal laut, fast willst du die Kopfhörer leiser stellen, aber tust es doch nicht.
Du lässt die Musik einfach durch dich hindurch spülen, sie füllt deinen ganzen Kopf aus, wäscht alle anderen Gedanken fort, alle Sorgen.
Mit dem ersten lauten Ton hast du die Augen wieder aufgeschlagen, und wirst von der Sonne geblendet. Doch das stört dich nicht. Nichts stört dich mehr.
Einen letzten verzückten Blick wirfst du aus deiner Baumkrone heraus auf den Wald.
Dann versinkt die Sonne hinter den Bäumen, gerade als der letzte Ton erklingt.

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