Lichter

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"Die nächste Woche wird unbeständig mit viel Schneeregen und Wolken; aber trotzdem kann immer  wieder die Sonne durchscheinen. Nun zurück zu dir Shannon mit einer Sturmwarnung für Südwales."

Der Blick der Fahrerin strich über die Passanten, die am Gehsteig entlangtrotteten, wie Pinguine. Seit Stunden versuchte sie nun schon einen Kunden aufzugabeln, mit dem sie auch reden konnte. Das immer gleiche Geräusch der Scheibenwischer, die den Schneematsch von ihrem alten Taxi wischten und das der Reifen, die selbigen noch matschiger quetschten, machten sie noch müder als sie ohnehin schon war. 

"Komm schon, komm schon, ich brauch ein Taxi...", waren die einzigen Gedanken, die den Kopf des frierenden Mannes durchzogen. Plötzlich erblickte er ein altes, langsam wirkendes Taxi am Ende der Straße. Hektisch zappelnd warf er sich beinahe davor. 

"Endlich ein Kunde...Hoffentlich will der weit fahren und reden..." Vorsichtig, um dem scheinbar nervösen jungen Mann nicht über die Zehen zu fahren, rollte sie an den Rand der Straße und ließ ihn einsteigen. 

"Tate Modern Bitte, so schnell es geht." Elegant glitt der Mann auf den Rücksitz und verschränkte die Arme vor der Brust, den Blick stur auf die Graupelschauer draußen gerichtet.

Er schien nicht reden zu wollen, da er offenbar nicht einmal registriert hatte, dass die Fahrerin ihn immer noch anstarrte. Der gepflegt gekleidete, junge Mann verwirrte die Frau. Während sie den Motor erneut startete und langsam anfuhr, musterte sie ihn neugierig im Rückspiegel. Sein Anzug war anscheinend nagelneu und maßgeschneidert, die Schuhe poliert und die Haare zurückgekämmt; doch dieser gepflegte Gesamteindruck passte überhaupt nicht zu seiner Körpersprache. Seine Augen stierten geradezu nach draußen, in einer Mischung aus unendlicher Trauer und schrecklicher Nervosität. Auch seine hin und her zuckenden Beine deuteten an, dass er irgendwas möglichst schnell hinter sich bringen wollte. 

"Wieso fahren sie in die Tate? Wird dort heute eine neue Ausstellung eröffnet?" Freundlich versuchte die Frau den jungen Mann dazu zu bringen mit ihr zu sprechen, um ihre tiefe Einsamkeit wenigstens oberflächlich zu lindern. Außerdem wirkte er wie jemand, der dringend jemanden zum Reden brauchte. Nur ein leises melancholisches "Nein, nein heute ist dort nichts." kam zurück. Die Frau nickte und vertiefte sich enttäuscht wieder in die Straße. 

"Würden sie etwas für mich tun?" Die zaghafte Frage kam nach einiger Zeit aus dem Hinteren des Wagens geschwebt. Überrascht zuckte die Frau leicht zusammen, sie hatte schon nicht mehr damit gerechnet mit ihm zu sprechen. 

Ein nettes Lächeln aufsetzend fragte sie: "Kommt drauf an, was es ist."

"Naja, ich müsste jemandem eine Nachricht zukommen lassen. Leider hat diese Person kein Handy und ich habe keine Zeit mehr sie ihr persönlich zu bringen. Sonst überlege ich's mir noch anders.  Mit jeder Sekunde war der Mann leiser geworden, das Ende des Satzes hatte sie schon fast nicht mehr verstanden. Auf ein verständliches Nicken ihrerseits und ein geseufztes "Dankeschön" von ihm, wurde ein kleiner, gefalteter Zettel überreicht auf dem in sauberer Handschrift eine Adresse im East End stand. 

Kurz darauf waren sie bei dem jetzt dunklen und leeren Hochhaus angelangt. Von plötzlicher Hektik erfasst, sprang der Mann aus dem Wagen, nur eine flatternde 50£ Note in der faltigen Hand der Fahrerin zurücklassend. 

Den Kopf über den komischen Vogel schüttelnd und den knisternden Schein einsteckend, wendete sie das Taxi in Richtung East End. Eintönige Minuten, nur unterbrochen von einer kaputten Ampel und Schneeflocken die die Scheibe hinaufflogen, nur um schließlich unter dem Fahrzeug zu landen, verstrichen. Die Lichter der Stadt zogen neben, hinter und über ihr dahin. Der ewig gleiche Rythmus der Scheibenwischer machte sie nervös und sie klopfte im selben Takt mit dem Daumen gegen das Lenkrad. Schließlich seufzte sie genervt von sich selbst und fuhr an die Seite. Dort öffnete sie mit zitternden Fingern den Brief und las ihm mit nervös zuckenden Augen. Mit jeder Zeile die sie las sank sie tiefer in ihren Sitz. 

Noch bevor der flatternde Zettel den Beifahrersitz berührte, hatte die Frau dem Motor erneut gestartet und gewendet, ohne darauf zu achten, dass sie gegen die Einbahn fuhr. So schnell es ging fuhr sie zur Tate Gallery zurück. 

Frierend sprang sie aus dem Taxi und reckte ihren Kopf zum Dach des Hochhauses, heftig blinzelnd, da ihr hunderte Schneeflocken die Sicht verdeckten. Doch da war niemand. Und so stand sie da; bibbernde Minuten in denen ihre undichten Stiefel sich mit Schneematsch füllten und ihr ohnehin schon graues Haar noch weißer wurde durch die Flocken. 


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