Ekstase

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Lärm. Laute Rufe, wortloses Grölen, erschöpftes Aufseufzen tönt von überall her. Lange Röcke streichen über den Marmorboden, die Füße darunter bebend vor Freude. Absätze klackern, Knie schlagen gegeneinander, Fäuste werden gehoben und gereckt, Finger verschränkt und wieder gelöst im selben Atemzug. Die Menschenansammlung verwandelt sich in eine einzige Masse; eine zähe Flüssigkeit, die sich langsam und doch stetig die weiten Marmortreppen hinaufwälzt. Dabei tanzend zu lauten Beats, die sich mit den feinen Abendroben um die Aufmerksamkeit der Anwesenden prügeln. Beringte Hände streichen auf der verzweifelten Suche nach Halt an den Wänden entlang, Köpfe recken sich, um über die schwankende Menge hinwegblicken zu können. Hochsteckfrisuren lösen sich in Schweiß und Wohlgefallen auf, Handschuhe werden herunter gezerrt, Hemden hektisch aufgeknöpft vor Hitze. Gläser fallen zu Boden, zerspringen, Schuhe werden mit teurem Champagner besprenkelt. Scheinbar herrenlose Arme erheben sich wankend aus den Wogen, nach einer anderen verlorenen Seele heischend. Man springt, man zerrt, zieht, reißt, verschmilzt mit den Umgebenden. Dem Sternenhimmel, der durch die hohen Fenster zu sehen ist, findet niemand Zeit Beachtung zu schenken; genausowenig den edlen Brokatvorhängen, den Biedermeiermöbeln, der den Weg versperrenden Tür. Die Menschenmasse schwappt gegen das Eichenholz wie eine unbändigbare Welle. Hände drücken, schlagen, hauen. Gläser werden geworfen, Rufe werden laut. Die Menschen wollen nicht aufhören. Sie wollen weiter ihre herausgeputzten Körper winden, sich weiter zur Musik drehen. Denn die Show muss immer weiter gehen.

Dann plötzlich, wie durch zauberhand schwingt die Flügeltür auf und gibt den Blick auf den Raum dahinter preis. Ein riesiger Saal, mit meterhohen Fenstern, durch die man einen verwilderten Garten und einen unvergesslichen Sternenhimmel sehen kann. Er ist rund und bäumt sich zu einer Kuppel auf, deren höchsten Punkt man gerade erahnen kann. Und in der Mitte des Saales sitzt ein Mann. Ein schmaler, unscheinbarer Mann, in einem billigen Smoking, dessen Hände sich über die Tasten des Flügels vor ihm bewegen, als ginge es um sein Leben. Seine Finger fliegen von Ton zu Ton mit der Leichtigkeit eines Vogels. Seine Musik ergießt sich in den Raum, verdrängt die von draußen hereinbrüllenden Rythmen. Man kann förmlich sehen, wie aus dem Klavier das Wasser der Musik fließt. Ein schwarzer reißender Fluss, direkt aus der Mitte des Pianos fließend, alles mit sich reißend.

Und die Menge steht und schaut.

Die Blicke der Menschen saugen alles in sich auf. Den Mann, den Raum, den Garten, sogar zum Himmel recken sie ihren Blick. Langsam beginnt der schwarze Strom auf die Ersten zuzufließen; er berührt ihre Schuhspitzen, zaghaft zuerst, dann immer heftiger, fast schon verlangend und zieht sie in seinen Bann. Die Musik fließt ihre Beine nach oben, tänzelt die Oberkörper bis hin zu den Armen entlang und erreicht schließlich ihre Köpfe; füllt sie alle mit Rhythmus und Melodie, sprengt die Müdigkeit aus allen Knochen.

Und sie tanzen.

Langsam und zaghaft beginnen die Ersten sich im Takt zu wiegen. Leise gleiten sie, lautlos den Kopf schwingend, über das Parkett. Nach und nach fällt der ganze Raum ein. Die Lichter scheinen mit der Melodie zu spielen, der Wind im Takt zu pfeifen. Das schwarze Wasser bedeckt nun den gesamten Fußboden, schwappt gegen geschlossene Türen und sich hebende Füße. Die Menge tanzt jetzt beinahe ekstatisch um den Klavierspieler herum, bildet konzentrische Kreise und stampft im Rhythmus. Wasser spritzt auf, bedeckt wallende Röcke, beschmutzt edle Sakkos. Mit dem sich heben und senken der Melodie hebt und senkt sich auch die Menge. Man fasst einander bei den Händen, stützt sich ab, hilft sich hoch. Und mit einem letzten großen Schrei des Klaviers, mit dem letzten Akkord, klatschen alle in die Hände und sinken zu Boden. Sie sinken und sinken und werden zu Wasser, schwarzes Wasser, das sich träge seinen Weg unter der Tür hindurch bahnt.

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