Verzerrt

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Du sitzt in der Sonne, lässt sie dir aufs Gesicht scheinen, magst die Wärme. Ein sanfte Brise zaust dir das ohnehin schon wirre Haar; mit geschlossenen Augen lauschst du zufrieden dem Rascheln der Blätter. Es ist ein schöner Tag und der angewärmte Schotter drückt sanft auf deine gekreuzten Beine.   Plötzlich hörst du jemanden deinen Namen rufen und schlägst wiederwillig die Augen auf. Du lächelst über den Anblick des Mädchens, das strahlend auf dich zugelaufen kommt. Sie ist nicht sonderlich hübsch, weit auseinanderstehende Zähne, dünne Blonde Haare, und im Gegensatz zu dem riesigen Herrenhaus hinter ihr wirkt sie geradezu lächerlich klein und dürr. Strahlend läuft sie die wenigen Steintreppen, die aus dem Haus in den riesigen Garten führen hinunter, und auf dich zu. Der Schotter knirscht unter ihren kleinen Füßen, als sie sich gekonnt zwischen den filigranen Metalltischen und Stühlen hindurchschlängelt, die überall auf dem weiten Schotterplatz vor dem Haus stehen, nur unterbrochen von hünenhaften Kastanien, die vermutlich schon gute Hundert Jahre auf dem Buckel haben. Schwer atmend bleibt sie neben dir stehen, und fragt dich ob du endlich kommst, die anderen warten schon. Sie spricht das s immer einzeln aus, sodass schon wie s-hon klingt. Du nickst und strahlst, und sagst, dass du natürlich mitkommst. Schnell stehst du auf, klopfst dir den Schotter von den Beinen und die Rinde vom Rücken, und rennst hinter ihr nach in die Büsche, die direkt gegenüber des Eingangs der Villa liegen. Du und das Mädchen setzt euch hinter den großen Holundersträuchen auf die niedrige Steinmauer, und lehnt euch mit dem Rücken an den verflochtenen Metallzaun, der aus dem Mäuerchen erwächst. Mit viel Gestik erklärt sie dir wo die anderen sind. Gemeinsam schleicht ihr euch durch das Zweiggeflecht, wobei ihr beide nicht wirklich wisst, warum ihr eigentlich schleicht. Ihr bewegt euch in einem Halbkreis um den Schotterplatz herum, durch das Gebüsch raschelnd. Plötzlich öffnen sich die Büsche und spucken euch auf eine kleine Lichtung. Direkt vor euch fällt die Erde ab, verwandelt sich in Stein und stürtzt dann ohne Vorwarnung drei, vier Meter in die Tiefe. Ihr tretet heran an die Klippe, blickt hinab und hinaus. Etwa zehn Meter vor und drei unter euch liegt ein Schiff. Ein großes, echtes, blau, weißes Schiff; einsam gestrandet zwischen Büschen unter Trauerweiden. Einige Meter neben dem Boot ist ein kleiner Teich, hellblau glitzernd liegt er da, von Steinen und Schilf umgeben. Das Schiff ist in die Richtung des Teichs gekippt, als würde es sich nach dem wenigen Wasser verzehren, als wollte es wieder schwimmen. Ihr steht hoch über dem klitzekleinen Wunderland, mit dem Rücken zur kunterbunten Villa. Und gemeinsam rattern eure Gehirne, wie ihr denn dort hinunter kommen könntet. Da eröffnet sich wie durch Zauberhand ein kleiner Pfad, der auf der rechten Seite der Klippe einen Weg hinab bietet. So schnell die kleinen Kinderfüße euch tragen rennt ihr die in den hellen Stein geschlagenen Stufen hinunter, achtet nicht auf die huschenden Eidechsen, die umgebogenen Blumen, das zertrampelte Gras. Unten ist es still. Keine Vögel, die zwitschern, keine Erwachsenen, die schnattern. Ihr kamt direkt neben dem kleinen Teich unten an, verliert kurz den Faden und verliert euch im Schimmern des Wassers und im schweren Duft der Seerosen. Du hebst deinen Kopf zum Himmel, und siehst ihn nicht. Der neue Himmel besteht aus den zarten Armen der Trauerweiden, die sich in der sanften Brise wiegen, sich zu euch biegen und die Köpfe kitzeln. Ihr seht euch an, begeistert von der hier herrschenden Magie. Lachend umrundet ihr den Teich, habt schon fast vergessen, dass es ja eigentlich eine geheime Mission ist, dass ihr ja eigentlich jemanden sucht. Es fällt euch wieder ein, als ihr vor etwas steht, das hier fremd ist, und doch seltsam gut hierher passt. Ein Schachbrett versperrt euch den Weg zum Schiff, ganz ohne etwas zu tun. Ihr werdet still und ernst, betrachtet misstrauisch den mittigen König und die umgefallene Dame. Vorsichtig betretet ihr das Schachbrett, schiebt Läufer und Bauern aus dem Weg, werft den Turm um, und jubelt als es vorüber ist. Ohne einen Blick zurück lauft ihr auf das Schiff zu, das sich zu euch neigt, als würde es jede Sekunde umfallen. Nun erinnert ihr euch doch wieder an eure Mission, und ihr spitzt die Ohren. Leise Stimmen sind zu hören, auch Kinder, vom Schiff, lachend, und doch sich deckend. Ihr seht euch in die Augen, holt euch die Zustimmung des anderen und klettert los. Ihr benützt alles was sich findet, Steine, Erdwälle, sich gelöste Holzplanken, und doch scheint das Schiff eine uneinnehmbare Festung zu sein. Doch endlich findst du eine kleine Leiter auf der Seite, nimmst sie und hilfst der anderen hinauf. Erst da seht ihr die beiden Jungen und ein Mädchen, die sich im Fahrerhäuschen verstecken, und euch erst jetzt sehen. Alle erschrecken und ein brünetter Bub läutet die kleine Schiffsglocke eindringlich. Doch nach wem? Das wusste scheinbar niemand und alle lachten und fielen sich in die Arme und dachten, dass es niemals anders werden würde. Dann wurde alles weiß. 

Jahre vergingen. Jahre des Schmerzes, des Alterns, des Fühlens. Und jeder wurde etwas anderes. Jahre der ersten Liebe, der ersten Trauer, des ersten Höhenflugs und Absturzes. Kurz: Jahre des Lebens. 

Du stehst erneut bei der bunten Villa und fragst dich ob sie schon immer ein Café gewesen war. Auf jeden Fall würde das die Tische, den Schotterplatz und die vielen Menschen erklären. Langsam kehrt die Erinnerung zurück, als du so dort stehst, wo du vor Jahren das letzte Mal standest. Du drehst dich um, rennst zu den Holunderbüschen, unter den Kastanien durch. Fast passt du nicht mehr in die schmale Lücke zwischen Zaun und Büschen. Äste zerkratzen dir das Gesicht, Blätter bleiben dir im Haar stecken, doch du schlägst dich weiter durch den Wald der Erinnerung. Du landest auf der kleinen Lichtung, die eigentlich keine ist. Denn vor dir liegt zwar immer noch der Abgrund, doch hinter dir ist nur der Schotterplatz; nichts sonst. Und der zehn Meter Abgrund erweist sich als kleine Senkung von drei Metern, in der ein Trauerspiel von Schiff und ein schmutziger Tümpel liegen. Vorsichtig tastest du dich den Abhang hinab, versuchst auf keine Eidechsen draufzutreten, keine Blumen umzuknicken und kein Gras zu zertrampeln. Unten angekommen, starrst du traurig in den kleinen Tümpel, der du dachtest, mal ein Teich gewesen war. Doch in Wahrheit, ist es nur eine 2 Quadratmeter Lacke, die von verwelkten Seerosenblättern bedeckt ist, nicht einmal 20 Centimeter tief reicht und so schmutzig ist, dass sich nicht einmal die trauernden Weiden darin spiegeln. Du fühlst dich wie abrupt aufgeweckt; zu schnell; das passt so nicht; so war es doch nicht! Oder doch? Langsam schlurfst du weiter, blickst um dich. Damals war es ein Jungel gewesen, nun ist es ein kleiner verwilderter Garten, an einer lauten Straße, mit einem verrosteten Zaun. Das Schachbrett bemerkst du fast nicht in deiner Lethargie. Es ist nur eine vermooste Erinnerung mit zerstreuten Bauren, einem gefallenen Turm und einer verdreckten Dame. Wütend und enttäuscht trittst du den König aus dem Weg und läufst die letzten Meter auf das Schiff zu. Die uneinnehmbare Festung ist geschrumpft und du kannst ohne Probleme hinauf. Oben sitzt ein Mädchen. Der hängende Kopf und die blonden Dreads schützen ihr Gesicht vor ungewollten Blicken. Obwohl die Hitze allgegenwärtig ist, trägt sie einen schwarzen Pullover, eine schwarze Hose schmiegt sich eng um ihre Beine und schwarz lackierten Fingernägel spielen nervös mit Schuhbändern. Sogar vom Rand des Schiffes kannst du die laute Musik hören, die aus ihren Kopfhörern plärrt. Du hievst dich vollends hinauf, setzt dich neben sie. Mit zitternden Händen zündest du dir eine Zigarette an, und gibst sie ihr wortlos, mit von Gedankenabgekautenfingernägelhänden. Sie blickt nicht auf, nimmt aber ihre Kopfhörer ab, und dir die Zigarette aus der Hand. Sie zieht gierig, gibt sie zurück. Dann  mustert sie dich, auch ihr Erinnerungswald scheint mich ausgespuckt zu haben. Ihre Augen lächeln verständnisvoll, als ihr Blick über meine knochigen Knie und das kunterbunte Armband fliegt. Wir reden nicht, und warten doch einträchtig auf den nächsten von uns, den die Zeit ruiniert hat

1000 LivesWo Geschichten leben. Entdecke jetzt