Lebendig

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Die Luft ist frisch und klar, wie ein Eiskristall. Überall glitzert der Frost noch auf den zerdrückten, bräunlichen Grashalmen. Nur der schmale Pfad, der sich zwischen den knorrigen Bäumen hindurchwindet ist schon so früh aufgeweicht und schlammig. Die Schuhe der jungen Frau hinterlassen einen schmatzenden Abdruck dort, wo eben noch eine Heuschrecke saß. Sie rennt. Keuchend müht sie sich den leicht ansteigenden Weg hinauf, duckt sich unter tiefhängenden Ästen durch und spürt die Nässe an ihrer Hose kaum, die der Frost hinterlässt. Immer lauter atmend sprintet sie auf die letzte Anhöhe vor ihrem Ziel zu. Sie hört die aufgeregt zwitschernden Vögel kaum, hört nur ihre Atmung und ihr Herz. Plötzlich bleibt sie stehen, sie hat ihr Ziel erreicht. Dieser Bewegungsabbruch war zu abrupt für ihren Kreislauf und alles um sie beginnt sich zu drehen. Sie keucht und setzt sich auf einen der Holzscheite am Boden, beginnt langsam zu zittern ob der Kälte. Doch sie lebt. Selten hat sie sich so gefühlt wie jetzt. Alles dreht sich, doch alles ist seltsam klar. Sie sieht jedes Blatt, jeden glitzernden Eistropfen, hört jedes Blätterrascheln und jeden knackenden Ast. Sie spürt ihr Herz zwischen ihren Rippen hämmern und weiß, dass sie am Leben ist.

"Warte, warte, ich mach uns noch einen!" Der, eigentlich noch, Bub wankt in die Küche der kleinen Wohnung. Seine Feinmotorik ist auch nicht mehr das, was sie mal war und er verschüttet die Hälfte des Orangensaftes auf dem Weg von der Flasche in den Becher. Er grinst über sich selbst, schüttelt leicht den Kopf, was Schwindel zur Folge hat und nimmt die zwei Becher wieder auf. Beim Weg von der Küche ins Wohnzimmer rempelt er mehrere Leute an und entschuldigt sich bei allen, leicht nuschelnd. Trotzdem vollkommen unbeirrt kämpft er sich tapfer durch die zur Musik unmotiviert wogende Menge auf ein Mädchen zu. Sie sitzt an einem zierlichen Tisch im Wintergarten. Er findet, dass sie wunderschön aussieht, wie sie ihr Kartenblatt sortiert und hin und wieder abwesend an einer Zigarette zieht. Belämmert grinsend setzt er sich ihr gegenüber und reicht ihr stolz den Drink. Sie lacht, dankt ihm und nippt daran, ohne ihren Blick von seinem zu lösen. Sein Herz pocht und pocht und er glaubt es wolle gleich aus seiner Brust springen. Langsam beginnt er zu schwitzen, seine Handflächen werden feucht und er beginnt sich nervös auf die Unterlippe zu beißen. Aus irgendeinem Grund kommt sie immer näher, hat die Karten auf den Tisch gelegt und starrt auf seine Lippen. Er atmet tief ein, hat verstanden. Langsam schließt er seine Augen, beugt sich zu ihr, zählt innerlich bis fünf und presst seinen Mund auf ihren. Als ihre vollen Lippen die seinen berühren, trommelt sein Herz wie wild und sein Hirn fühlt sich so leicht an wie noch nie. Und doch, fühlt er sich so lebendig wie noch nie.

Die Menge jubelt. Mädchen kreischen und aus jeder Ecke des Saales kommt Geklatsche und Gerufe. Der Sänger atmet tief ein; auch, dass es das hunderste Mal ist, macht es nicht leichter. Eine zarte Hand streichelt ihm sanft von der Schulter auf den Nacken, als er sich umdreht lächelt ihn die Bassistin aufmunternd an. Dass alles gut werden würde, dass es wie immer sein werde und er sich keine Sorgen zu machen brauche, meint sie. Der Schlagzeuger springt hinter ihr die schmale Backstagestiege hinauf, energiegeladen, wie immer. Schmunzelnd und sich eine schwarze Haarsträhne achtlos aus dem Gesicht wischend, witzelt er, dass vermutlich heute ein Scheinwerfer auf den Sänger fallen würde und ihn endlich von seiner Qual erlösen würde. Das bringt alle drei zum Grinsen und bestärkt nehmen sie noch ein paar Schluck Bier. Der Lärm aus dem Saal wird mit jeder Sekunde ohrenbetäubender. Noch einmal um Halt bittend, sucht der Blick des Sängers die der anderen. Dann, einen weiteren tiefen Atemzug später, greift er nach seiner Gitarre, sie nach ihrem Bass und der dritte nach den Drumsticks. Ein Lächeln aufsetzend, das schon lange in ihm schlummerte, lief er auf die Bühne, riss dabei seine Arme in die Höhe und begrüßte das nun haltlose Publikum. Als er so da stand und in den Saal blickte, geblendet von dem Licht der Scheinwerfern und taub vom Geschrei der Menge, hämmerte sein Herz wie irre. In einer seltsamen Mischung aus Freude, Angst und Ruhe schien es förmlich aus seinem Brustkorb springen zu wollen. Doch trotzdem, fühlte er sich nie so gut, wie in dem Moment als die Bassistin den ersten Ton anschlug und sich alle drei Instrumente zu Musik vereinten. Denn da, fühlte er sich lebendiger als je zuvor.

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