Die Vorstellung

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Es war ein kalter Herbsttag.

Aus dem nichts schießen kahle Bäume aus einem gefrorenem Boden, der von gefallenem Laub bedeckt ist. Der bis eben noch weiße Himmel bekommt eine leicht gräuliche Färbung, und einige Federwolken entstehen. Über den Himmel fliegen Raben, die durch starke Windböen immer wieder verweht werden.

Das Meer schlägt mit tosenden Wellen gegen die weißen Klippen, und die Möwen krakeelen im bewölkten Himmel.

Der kleine Wald der eben noch wie wild wucherte, zieht sich wieder in den Boden zurück, und auch die Blätter, die am Boden lagen verschwinden langsam. Auf einmal bricht ein Teil des Bodens weg, und verwandelt sich in eine Steilküste, an die die Wellen schlagen. Die Raben wachsen plötzlich und bekommen eine gräulich-weiße Färbung, kreischen aber immer noch wie wild. 

Die alte Frau sitzt hinter ihrem Fenster und betrachtet die Vögel in ihrer seltsam wilden Anmut. 

Aus dem nichts wächst ein Haus empor, ein kleines Backsteinhaus, das früher vielleicht einmal ein klitzekleiner Bauernhof war. Die Fenster stehen weit offen, und hinter einem sitzt eine Schemenhafte kleine Gestalt, die an eine ältliche, gebeugte Frau erinnert.

Ihre Haare waren schon vor Jahren vollkommen weiß geworden, und ihr Gesicht ist durchzogen von tiefen Furchen, die die Jahre gegraben hatten.

Der Schemen bekommt eine wallende weiße Haarpracht, die sich jedoch schon langsam lichtet, ihr Gesicht beginnt sich zu formen und nimmt langsam menschliche Formen an. Doch um die Augen und den Mund wirkt das Gesicht wie von Schatten bedeckt, fast unscharf.

Die grauen Augen folgen mit einem genervten, fast schon verbitterten Blick den Vögeln, ihre kleinen Ohren zucken immer dann, wenn eine Möwe kreischt, und ihr schmaler Mund zuckt missbilligend zu dem Geschreie der Tiere.

Die unscharfen Bereiche in ihrem Gesicht füllen sich langsam, die Augen werden grau, der Mund schmal und verbittert, und unter ihrer Haarpracht zeichnen sich kleine faltige Ohren ab. Der Kopf der Frau folgt den Vögeln die über den Himmel ziehen.

Nach einiger Zeit wendet sie sich von dem alltäglichen Fliegen der Vögel ab, und blickt in die Tiefe, die sich unter ihr auftut, da das kleine Haus direkt am Rand der Klippe steht. Sie lehnt sich noch weiter aus dem Fenster, um den Fuß des Hauses zu sehen.

Die Gestalt wendet den Kopf, während das Haus, das vorher neben ein paar kleinen Bäumen stand, von einer unsichtbaren Hand an die Klippe geschoben wird.

Wohlwollend betrachtet die alte Frau den Efeu, der sich die alten Steinmauer hochrankt, sie denkt an all die Sommer in denen sich Kinder darunter versteckt hatten. Mit Tränen in den Augen, blickt sie wieder aufs Meer hinaus.

Grüne Blätter ranken sich an der Hauswand empor, erfüllen jede Ritze zwischen den alten Steinen. Die Frau bekommt wehmütige Züge ins Gesicht gemalt, auch wenn man nicht sagen kann wodurch.

Die Frau sitzt ruhig da, als sie das Knacken, das Grollen berstenden Gesteins hört. Sie zuckt nicht, schreit nicht, ihr war es schon lange klar gewesen.

Auf einmal ist die kalte Luft vom Kreischen zerbrechenden Felsens erfüllt, die Möwen kreischen noch lauter, und die Frau sitzt so ruhig da wie eh und je.

Mit einem Lauten Platschen versinkt das Haus in den Fluten, gerade als die ersten Regentropfen die Wasseroberfläche berühren.

Auf einmal sieht man das Haus von sehr weit weg, fast wie von einem Schiff aus. Man sieht die Höhle, die das Wasser über die Jahre in die Klippen gegraben hat in sich zusammenfallen. Man sieht wie ein riesiges Stück Land einfach abbricht und im Wasser versinkt. Sieht wie ein klitzekleines Steinhaus mit der Erde mitgerissen wird. Die Frau hat die Augen geschlossen, fällt leise, ruhig.


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