Kapitel 1-3

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Der Leichenschmaus fand im Ballsaal des Anwesens seiner Familie statt. Je länger der Abend währte, desto mehr verwandelte sich die Trauer- in eine übliche Abendgesellschaft. Zwar wurde der alte Graf immer wieder erwähnt, doch bald hatte sich der tagesübliche Tratsch und Politik durchgesetzt. Kaum betrat Alexander auf Florentines Drängen hin den Saal, da war er auch schon von einer Vielzahl Edelmännern umgeben, die um seine Aufmerksamkeit buhlten. Sie wollten seine Unerfahrenheit nutzen, um ihm Zugeständnisse abzuringen oder sich einfach nur absichern, dass Alexander nicht plante, die Verhältnisse entscheidend zu verändern.
Alexander versicherte, das Erbe seines Vaters in gewohnter Manier fortzuführen und Details zu klären, wenn er die Verträge studiert hatte. Sie entschuldigten sich, sobald es der Anstand zuließ, und entflohen in den Wohnbereich, während das Gesinde die Versammlung nach und nach auflöste.
Im Salon angekommen, kam ihnen schon Tina, ihre älteste Tochter, entgegen. „Mama! Papa!" Sie stürzte sich auf Florentine, die sie, ihrer Müdigkeit zum Trotz, freudestrahlend emporhob.
„Ich bitte vielmals um Entschuldigung, Eure Exzellenz, aber sie verweigerte es zu schlafen, ehe ihr nach Hause kämt", sagte die Zofe der Mädchen.
„Franziska schläft bereits?", fragte Alexander, worauf die Bedienstete nickte.
„Es ist schon gut, ich bringe sie persönlich zu Bett", sagte Florentine. „Na mein Engel, bist du nicht völlig erschöpft?"
Tina schüttelte den Kopf und spannte ihre Arme an. „Ich habe noch ganz viel Kraft!"
Florentine ließ sie herunter und ihre Tochter bekräftigte ihre Worte, indem sie den Weg zum Kinderzimmer auf den Händen gehend hinter sich brachte. Der Rock ihres Unterkleids fiel an ihr herab, was sie der Blüte einer Rose ähnlich sehen ließ. Die Zofe schlug die Hände über dem Kopf zusammen, während Alexander sie mit einer Mischung aus Stolz und Beunruhigung beobachtete.
Florentine warf ihm einen Kussmund zu und er zog sich in das Arbeitszimmer seines Vaters zurück. Erschöpft ließ er sich in den Lehnsessel hinter dem Schreibtisch fallen. Die Kinder waren dankbar für all die Freiheiten, die Florentine ihnen gewährte. Jedoch, so sehr er dies unterstützte, fürchtete er, sie würden einmal Probleme bekommen, wenn sie sich völlig entgegen den Gepflogenheiten entwickelten. Doch derweil gönnte er den Mädchen die unbeschwerte Kindheit, die ihm niemals gewährt wurde. Mit zunehmendem Alter würde der gesellschaftliche Druck sie früh genug formen.
„Willst du nicht zu Bett kommen?", fragte Florentine, die in ihrem hauchdünnen Schlafgewand ins Zimmer kam.
„Du wirst unsere armen Hausdiener wieder aufs Äußerste pikieren."
Sie setzte sich auf die Sessellehne und schmiegte sich an ihn. „Sie werden es mir danken, eine Ausrede zu haben, früher zu Bett gehen zu können."
„Verlangt Tina wieder deine Anwesenheit in ihrem?"
„Sie ist in unseres geschlüpft."
„Das kam eine Weile nicht mehr vor."
„Sie mag ihren Großvater kaum gekannt haben, aber sie spürt, dass etwas nicht in Ordnung ist."
Alexander sah auf den Tisch, auf dem penibel geordnet Schreibwerkzeuge, Pergamente und Notizbücher lagen. „Ich werde mich noch den Büchern widmen."
„Hat das nicht bis morgen Zeit?"
„Es lenkt mich ab."
„Ich wünschte mir, du könntest mit mir darüber reden."
Er sah zu ihr auf und küsste sie auf die Stirn. „Zuerst muss ich die Sache mit mir selbst klären."
„Und dabei soll dir das hier helfen?" Sie fuhr durch einen Stapel Papier.
„Lass Tina besser nicht warten, sonst weckt sie noch Franziska."
„Und du solltest deine Familie nicht zu lange warten lassen. Wir erwarten dich in unserer Schlafhöhle."
Alexander schmunzelte. „Ich kann es kaum erwarten, eingeklemmt in verkrümmter Haltung die Nacht zu verbringen, während mir Tinas Zehen die Nasenhaare kitzeln."
Florentine fuhr ihm mit dem Zeigefinger über die Nasenspitze. „Vergiss nicht die wohlige Wärme." Sie erhob sich und wandte sich im Türrahmen noch einmal um. „Ich liebe dich."
Er erwiderte ihre Worte und sah ihr nach, während ihre Schritte bereits auf dem Gang verklungen waren. Bald war auch der Lärm im Schlafzimmer verstummt und abgesehen von den gedämpften Geräuschen des Gesindes, das den Ballsaal aufräumte, war es still geworden.
Er öffnete den Schrank, in dem der ehemalige Graf Verträge, Briefe und wichtige Notizen geordnet hatte. Sein Vater hatte es gepflegt, alles doppelt aufzubewahren. Eine mehr oder minder genaue Kopie der Unterlagen würde er auch auf dem ehemaligen Landsitz vorfinden. Er ging einige Ledermappen durch, sichtete deren Inhalt, bis er die Lehnsverträge fand. Mit kritischem Blick arbeitete er den Stapel durch, überflog die Zeilen, die sich nur geringfügig voneinander unterschieden. Die ältesten Vereinbarungen bestanden zwischen den Arlings und alten Rittergeschlechtern wie den Hemmwehrs und den Hahnensteins. Sie übertrugen den Edelmännern die Hoheitsrechte vor Ort und verlangten die Bereitstellung einer bestimmten Anzahl von Männern im Kriegsfall. Der Graf hatte sich nur im nötigsten Fall persönlich um die Rekrutierung von Soldaten gekümmert. Seine Vasallen hatten die Kämpfer aus den Dörfern ihres Hoheitsgebiets eingezogen und gesammelt unter das Banner des Herzogs gestellt. Nachdem sie dem Herzog nun nicht mehr zur Heerfolge verpflichtet waren, musste ihm ein gewichtiger Teil seiner Armee entgangen sein. Dafür würde Alexander im Zweifelsfall persönlich für die Verteidigung seines Hab und Guts einstehen müssen.
Er studierte die jüngeren Verträge mit den Minnesangs, den Lanzbruchs, den Bockens. Bei dem letzten Namen runzelte er verärgert die Stirn. Er ging den Schrieb näher durch. Für das entliehene Land schuldeten die Barone ihm regelmäßige Geldzahlungen. Gleichzeitig warem sie dem Herzog persönlich zur Heeresfolge verpflichtet. Eine äußerst vorteilhafte Übereinkunft zu Friedenszeiten. In Kriegszeiten würde es an Alexander sein, den Schutz seiner Vasallen zu gewährleisten, während diese dem Herzog ihre Truppen schuldeten. Doch derweil ergaben die Bücher, dass das Geschäft äußerst gewinnträchtig war. Er würde sich die Sache vor Ort ansehen, um zu sehen, wie die Barone ihr Land bewirtschafteten. Insbesondere bei Bocken galt es Vorsicht walten zu lassen. Dem Mann war nicht zu trauen und Alexander wäre nicht überrascht, wenn Bocken bereits seine nächsten Schachzüge plante, um seine Macht zu mehren.
Seine Mutter trat in das Arbeitszimmer. Sie wirkte müde und geknickt. „Du bist noch wach?"
„Ich möchte mich auf meine Aufgabe vorbereiten, ehe mir die Barone die Tür einrennen und ich ihnen unvorbereitet entgegentreten muss."
„Dein Vater hätte dich hierin einweisen sollen."
„Er war der Überzeugung, ein Mann wächst an seinen Herausforderungen."
Sie lächelte tapfer und ließ sich auf einem der Stühle vor dem Schreibtisch nieder. Mit dem Finger griff sie sich an die Nasenwurzel, als litte sie unter Kopfschmerzen. „Was hast du mit dem alten Landsitz vor?"
Alexander wusste, worauf die Frage hinauslief. Es war in manchen Kreisen üblich, dass der Erbe die Hinterbliebenen angemessen unterbrachte, damit sie nicht Hunger leiden mussten. Aber selbst wenn er Derartiges vorgehabt hätte, so wäre es nicht vonnöten gewesen. Schon zu Lebzeiten seines Vaters hatte er auf Florentines Wunsch hin ein eigenes, viel kleineres Anwesen für sich und seine Familie errichtet. „Ich werde Vaters Arbeitsunterlagen in unser Haus bringen lassen."
„Du willst nicht im Familiensitz wohnen?"
Er sah zur Tür hinüber. „Wir mögen unser beschauliches Heim. Aber wir werden dich gerne besuchen kommen."
Sie legte die Hand auf den Schreibtisch und er ergriff sie. „Du bist ein guter Sohn."
„Urteile nicht vorschnell. Ich hoffe, du nimmst mir dafür einige meiner Audienzen mit den Baronen ab."
„Sie werden enttäuscht sein, wenn sie statt des Grafen eine alte Frau zu Gesicht bekommen, die ihnen nicht mehr als ein Zimmer und ein freundliches Lächeln bieten kann."
„Aus den Tagen mit Vater werden sie Kummer gewohnt sein. Ich erinnere mich nicht, dass er ihnen große Zugeständnisse gemacht hätte." Alexander rang sich ein Grinsen ab.
„Dein Vater hat versucht, dir die Last so leicht wie möglich zu machen."
Mit einem Nicken blätterte Alexander durch das letzte Geschäftsbuch, das die Ein- und Ausnahmen der Grafschaft dokumentierte. „Der Großteil des Landbesitzes wird von Baronen in Eigenständigkeit verwaltet, die uns regelmäßig Tribut zahlen. Unsere eigenen Ländereien werden von Verwaltern besorgt."
„Er mochte deine Lebensart nicht gerne leiden, aber er hat sie schlussendlich akzeptiert."
Der Gedanke erleichterte Alexander. Obwohl sie nie ein gutes Verhältnis hatten, war es eine Last für ihn gewesen, zu glauben, in ständiger Ungnade seines Vaters zu leben. Gewissermaßen erfuhr er jetzt, dass der ehemalige Graf ihm nur das Beste wollte. Vielleicht hatte er auch gefürchtet, ohne seine Vorkehrungen wäre sein Besitz zerfallen. Doch solange ihm kein Gegenbeweis erbracht wurde, vertraute Alexander darauf, dass das Werk seines Vaters der Liebe zu ihm entsprungen war.
„Ich wundere mich nur", sagte er, während er einen immer wiederkehrenden Posten überflog, „warum wir regelmäßige Zahlungen an Baron Bocken tätigen, die seinen Tribut übersteigen."
„Leider hat dein Vater mich in diese Dinge nie eingeweiht. Aber womöglich ein Eingeständnis, nachdem Elsa ihm die Hand verweigerte."
War er dahintergekommen, dass Elsa nicht mehr im Kloster verweilte? Alexander hatte mit einer gehörigen Summe das Schweigen der Nonnen erkauft, aber es wäre nicht schwer für Bocken gewesen, die Wahrheit herauszufinden, sollte er danach gesucht haben. Was für ein schrecklicher Gedanke, dass dieser Mann sie schon wieder in der Hand hatte. Doch Elsa war vor langer Zeit der edlen Gesellschaft entflohen. Alte Ansprüche an sie galten heute nichts mehr. Sollte Bocken Forderungen dieser Art an ihn stellen, würde er diesen mit Freuden begegnen.
Er verabschiedete sich von seiner Mutter, die wohl selbst froh war, zu Bett gehen zu können. Ein längst vergessenes Feuer war in ihm entfacht. Er hatte es Bocken nie verziehen, seine Geliebte öffentlich gedemütigt zu haben. Womöglich war nun der Tag der Abrechnung gekommen.


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