Kapitel 10-1

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Den nächsten Tag verbrachte Johanna damit, frisiert zu werden und ihre Maße für ein neues Kleid zu nehmen. Offensichtlich wollte der Baron seine Pläne schnellstmöglich umsetzen, was ihr Unbehagen nicht minderte. Aber welche Wahl hatte sie schon? Ohne ihre Bezahlung war die ohnehin kaum existente Hoffnung auf ein Wiedersehen mit Adam dahin. Sie konnte sich nicht einmal das Papier leisten, ihm zu schreiben.
Bocken mochte es so darstellen, dass er ein großer Wohltäter war, aber er hatte ihr bewusst keine Wahl gelassen. Schlussendlich war es besser, dieses Ekel zu heiraten, als in der Schuldknechtschaft zu landen. Denn bei Einem war sie sich sicher: Bocken akzeptierte kein Nein. Hätte sie sich verweigert, so fände er bei der nächsten Gelegenheit einen Grund, sie unehrenhaft zu entlassen. Und schon wären die Häscher der Bank hinter ihr her, um ihre Schuldigkeit, die ihre Eltern ihr hinterlassen hatten, einzutreiben. Selbst wenn sie floh und ihnen entkam – wer würde sie einstellen ohne ein gutes Dienstzeugnis? In Bockens Baronie sicher niemand und den Fußweg in ferne Gestaden würde sie ohne Geld und Verpflegung kaum überstehen. Viel eher würden sich Vagabunden ihrer annehmen.
Sie wählte nur die teuersten Stoffe, kaufte Schuhe aus feinstem Leder und ließ sich allerlei Schmuck anlegen, der ihr gefiel. Wenn Bocken sie unbedingt haben wollte, dann sollte er zumindest dafür bezahlen. Doch sie würde sich ihm so lange es ging entziehen. Ehe sie nicht offiziell verheiratet waren, würde sie ihm kein warmes Bett bereiten und weiter unter ihresgleichen hausen. Zumindest eine Spur von Stolz und freiem Willen wollte sie sich bewahren.
Als sie die Stadt durch das Westtor verließen und die alte Kirche passierten, musste sie an Adam denken. Vielleicht wohnte er noch irgendwo inmitten von Schlossgraben. Ob er hin und wieder an sie dachte? Oder hatte er sich bereits in den Armen einer neuen Liebe getröstet? Es machte nun keinen Unterschied mehr. Sie hatte ihm jahrelang immer wieder geschrieben, doch nie hatte er geantwortet. So viele Briefe konnten ihr Ziel nicht verfehlen. Und wenn sie es doch taten, dann war es wohl ihr jammervolles Schicksal.
Die Kutsche führte sie zurück und erst am späten Abend fuhren sie auf das Gut ein. Ihr Kutscher wollte ihr beim Aussteigen helfen, doch sie wies ihn mit höflichem Lächeln ab. Für ihn war es ebenso seltsam wie für sie. Von einem auf den anderen Tag war aus ihr wieder eine Dame geworden, obgleich sie gleichzeitig dem Gesinde angehörte. Bocken empfing sie herzlich in ihrem neuen Kleid.
„Du siehst hinreißend aus! Was für eine Rose doch aus einem Butterblümchen wird, wenn man sie in Seidenpapier hüllt."
Johanna lächelte gekünstelt. „Ich danke Euch, mein Herr."
„Diese Ansprache solltest du zukünftig unterlassen. Es reicht völlig, wenn du mich als deinen Mann siezt."
„Doch noch bin ich nicht Eure Ehefrau." Sie knickste vor ihm und ging an ihm vorbei ins Haus.
„Soll das heißen, du willst weiter unter dem Gesinde leben?"
„Ich kenne meinen Platz." Würde er doch auch den seinen kennen. Dieser widerwärtige Emporkömmling. Er widerte sie fast noch mehr an, als ihr Vater es getan hatte. Sie eilte hinauf in den Dachboden, um sich zum Schlafen zu begeben. Oben angekommen, packte sie eine ganze Ladung Kerzen aus, die sie ihren Freundinnen präsentierte. „Ab heute werden wir uns nie wieder streiten, wer die nächste bezahlt."
„Aber Johanna, das muss ja Unsummen gekostet haben!"
„Die nicht mehr länger aus unseren Beuteln fließen werden. Von heute an wird der Hausherr für die Belange des Personals aufkommen." Die Freude der Umstehenden war geradezu ansteckend und mit einem Mal erkannte sie die Vorzüge, die ihre neue Position ihr geben würde. Sie mochte nicht selbst glücklich werden, aber zumindest das Leben der Bediensteten verbessern. Als Dame des Hauses oblag es ihr, diese zu führen, und Bocken würde kaum Einspruch dagegen erheben.
„Was ist das für ein Kleid? Und all dieser Schmuck!", staunte Anna und auch die anderen kamen näher heran, berührten sie ehrfürchtig und begutachteten ihre neuen Sachen. Einerseits freute sie sich über die Beachtung, andererseits bereitete es ihr aber auch Unbehagen. Sie trat unter sie wie eine Königin unter die Armen. Auf die einfach gekleideten Mägde musste sie fürchterlich protzig wirken.
„Du hast dem Baron wohl schöne Augen gemacht", meinte die Köchin.
„Wohl eher die Beine gespreizt", sagte das Zimmermädchen.
„Seid still! Redet nicht so über eine von uns", sagte Anna, die beschwichtigend den Arm um Johanna legte.
„Sag uns, woher kommt all das Geschmeide? Wohl kaum von deinen Ersparnissen?", fragte die Köchin.
„Der Herr hat um meine Hand angehalten", sagte Johanna leise, worauf das Geschnatter um sie herum an Lautstärke zunahm. Schließlich musste es bis nach unten vorgedrungen sein, denn Frau Irmahnen schlug von unten gegen den Dachboden und forderte Nachtruhe ein. Daraufhin verklangen die Diskussionen zu leisem Murmeln mit jenem, der einem am nächsten lag.
Johanna hatte das Gefühl, nicht mehr dazuzugehören. Ihre Anwesenheit war ein Affront für das Gesinde. Auch die Tuscheleien verstummten und das gleichmäßige Atmen der Ruhenden kehrte ein. Doch Johanna konnte nicht einschlafen. Eine Stimme ließ sie aus ihrem nachdenklichen Dösen aufschrecken: „Johanna, bist do noch wach?"
Es war Anna. Sie drehte sich zu ihr um. Zumindest eine hatte ihr die Freundschaft nicht gekündigt. „Ich kann nicht schlafen."
„Ist es wahr, dass er dich heiraten wird?"
Sie nickte, bis sie merkte, dass Anna das kaum sehen würde. „Er hat mich dazu genötigt. Meine Eltern haben mir wohl Schulden hinterlassen, die ich selbst nicht tilgen kann."
„Ich hätte unseren Herrn nie als einen Wohltäter eingestuft."
„Womöglich hat er schon früher ein Auge auf mich geworfen und nur auf diese Gelegenheit gewartet."
„Was ist mit deinem Freund? Hast du die Hoffnung aufgegeben?"
„Ich muss der Realität ins Auge sehen – welche Wahl habe ich schon?"
Anna ließ lange mit der Antwort auf sich warten. „Kannst du ein Geheimnis wahren?"
„Selbstverständlich, wir sind doch Freunde."
„Ich war dir keine gute Freundin, wenn ich ehrlich bin."
Johanna runzelte die Stirn. Anna war ihr die beste gewesen, die sie sich vorstellen konnte. War sie traurig, hatte sie sie getröstet, gab es ein Problem, wusste sie die Lösung. Nicht zuletzt hatte sie es ihr über Jahre ermöglicht, Adam überhaupt zu schreiben. In welche Melancholie wäre sie wohl verfallen, wenn ihr dieses bisschen Hoffnung nicht geblieben wäre?
„Die Briefe haben deinen Freund niemals erreicht."
Johanna ergriff ihrer Freundin Arm. „Wie kannst du das wissen?"
„Weil ich sie nie abgeschickt habe."
„Was?!" Johanna presste sich die Hand auf den Mund, doch entweder hatte niemand ihren Aufschrei bemerkt oder keiner wollte sich die Mühe machen, darauf zu reagieren.
„Es tut mir leid. Der Herr rechnete damit, dass du ihm schreiben würdest. Offensichtlich wusste er über ihn Bescheid. Er zwang mich, ihm zu berichten, wenn du einen Brief verfasst und ihm diesen auszuhändigen."
„Du hättest mir etwas sagen können!"
„Ich hatte Angst. Du weißt doch, wie eine Magd endet, die verstoßen wird."
Johanna biss sich auf die Unterlippe. Selbstverständlich wusste sie das. Anna würde nie eine neue Anstellung finden und müsste sich wohl oder übel als Freudenmädchen verdingen. Irgendwann wäre sie dann schwanger und würde entweder mit ihrem Kind verarmen oder früher oder später an den Abbrüchen ihrer Schwangerschaften verenden. Solcherlei Geschichten machten unter dem Gesinde ständig die Runde und zwangen sie, sich umso mehr um das Wohlwollen des Dienstherren zu bemühen.
„Ich danke dir für deine Ehrlichkeit." Johanna strich ihr über die Wange.
„Was wirst du jetzt tun?"
„Ich werde Adam finden."
Anna wollte sie aufhalten, aber Johanna plante, die Gunst der Stunde nicht verstreichen lassen. Bocken vertraute darauf, dass sie sich ihrer ausweglosen Situation gebeugt hatte. Das Gesinde war von den Umständen verwirrt und so manch einer wusste nicht, wie sie mit ihr umzugehen hatten. Sie waren leicht zu täuschen.
Sie öffnete die Bodenluke und schlich sich nach unten. Niemand nahm Anstoß an ihrem Tun. Entweder sie verschliefen es oder gingen davon aus, dass sie Bockens Bett aufsuchte, jetzt, wo sie hier nicht mehr willkommen war. Das Haus lag im Dunkeln und sie verfluchte sich dafür, keine Kerze mitgenommen zu haben. Nur das fahle Mondlicht leuchtete ihr und verhinderte, dass sie allzu große Hindernisse umstieß oder darüber hinweg stolperte. Sie nahm sich Bockens Mantel vom Ständer, schlüpfte in die zu großen Stiefel und verließ das Haus. Ein kühler Wind wehte ihr unter den Rock.
Der Stallknecht erwachte, als sie die Stallungen betrat. Sie gab ihm mit erhobenem Kinn zu verstehen, dass sie einen Ausritt plane. Er wusste nicht recht, wie er damit umzugehen hatte, hatte er sie doch heute erst wohlgekleidet aus der Kutsche steigen sehen. Sie wies ihn zurecht, als er Bedenken einbrachte. Sie sei bald seine Herrin und sie sollte es sich besser gut mit ihm stellen. Ohne seine Mithilfe sattelte sie ihr Pferd. Die Armut ihrer Eltern kam ihr nun zu Gute. Sie beherrschte die meisten Handgriffe sowohl der Knechte als auch der Mägde. Sie ahnte, dass der Bursche Bocken Bericht erstatten würde, kaum dass sie den Hof verließ. Entsprechend eilig trieb sie ihr Ross an.
Sie war lange nicht geritten und das Pferd scheute sowohl vor der Dunkelheit als auch dem unbekannten Reiter. Der Mond schien hell genug, sodass sie zumindest den Weg fand, den sie heute schon mit der Kutsche zurückgelegt hatte. Auch wenn der Tag sie nicht dermaßen angestrengt hatte, wie ein Arbeitstag im Hause Bockens, so war sie doch müde und musste sich beherrschen, nicht vom Pferd zu fallen. Die Kälte ließ sie trotz des gefütterten Mantels frieren und schon bald spürte sie ihre Finger kaum noch. Einzig das heiße Fleisch zwischen ihren Beinen gab ihr genügend Wärme, um nicht zu zittern.
Mit einem Mal hörte sie Rufe hinter sich. Zwei Reiter mit Fackeln verfolgten sie. Sie wusste nicht, ob es Vagabunden waren oder doch ihr Herr, der überraschend schnell ihre Fährte aufgenommen hatte. Sie trieb ihr Pferd mit Schnalzen und Druck in die Flanke an, aber es war bereits müde von einem Tag, da es ihre Kutsche hatte ziehen müssen und es war keinen schnellen Galopp mehr gewöhnt.
Ihre Verfolger preschten näher heran und ein Gewehrschuss brachte ihr Reittier zum Scheuen. Auf einmal hob es seine Vorderläufe und ihre klammen Finger verloren den Griff um den Zügel und sie fiel hinab, schlug hart auf dem Boden auf. Der sternenklare Himmel drehte sich vor ihrem Gesichtsfeld, bis Bockens erbostes Gesicht über ihr erschien. „Was treibt meine Zukünftige in solch kalter Nacht hier draußen?"
„Ich entfliehe Eurer verlogenen Zunge!"
Er schlug sie mit der Reitgerte und hinterließ blutige Striemen auf ihrer Wange. „Mir scheint, ich muss dir noch die notwendige Gefügigkeit einbläuen, die ich von meiner Braut erwarte." Er gab dem Stallknecht einen Wink, welcher sie fesselte und auf sein Pferd lud. „Und du Bursche. Solltest du erneut einer Bediensteten die Flucht ermöglichen, so trifft dich dieselbe Strafe, die auch sie erwartet."
Schreiend und zeternd führten sie sie durch die Nacht, bis Bocken ihr sein Taschentuch in den Mund stopfte. Zurück in seinem Haus bestrafte er sie, wie es für eine entflohene Angestellte üblich war. Um eine etwaige weitere Flucht zu verhindern, sperrte er sie in den Vorratskeller. Es war fürchterlich kalt dort unten und Johanna konnte nichts tun, als zu weinen, bis der Schlaf ihr Erlösung schenkte.


Tanz der GefühleWo Geschichten leben. Entdecke jetzt