Tina vollführte einen Radschlag und auch ihre kleine Schwester Franziska machte erste Versuche, sich auf ihre Hände zu stützen. Diese endeten meist damit, dass sie haltlos durch das Spielzimmer kugelte. Auf Florentines Wunsch hin hatte ihr kleines Anwesen ein gesondertes Zimmer erhalten, in dem die Kinder sich auch in der kälteren Zeit austoben konnten, ohne sich in dicke Gewänder zu hüllen. Die beiden Mädchen hatten solch eine Begeisterung für ihr eigenes kleines Reich entwickelt, dass sie dort manches Mal mehr Zeit verbrachten als draußen. Heiterer Sonnenschein fiel durch die großen mit Buntglas verzierten Südfenster und malte regenbogenartige Gebilde auf den Holzboden.
Florentine ergriff Franziskas Füße und half ihr, auf den Händen durch den Raum zu gehen, da sie quengelte, nachdem Tina diese Übung schon spielend beherrschte. Manches Mal veranstaltete sie mit ihrer Mutter sogar kleine Wettrennen. Noch schlug Florentine ihre Tochter. Da sie aber weit weniger Übung hatte als diese, würde sie irgendwann obsiegen.
Alexander hatte den Kindern alle möglichen Holzspielsachen, Puppen, Springseile und Schlagspiele besorgt. Hin und wieder nutzten sie diese sogar, wenn sich ihr Vater persönlich mit einbrachte. Ansonsten zierten all die Habseligkeiten die Ränder des Raums, um beim Turnen nicht im Weg zu sein. Florentine hatte ihrer älteren Tochter einen eigenen Anzug fertigen lassen, der ein Mittelweg aus der unziemlichen Kleidung der Zirkusartistinnen und den Ansprüchen der hohen Gesellschaft war. Sie trug einen Kittel, dessen Rock bis zu den Knien reichte, und eine wadenlange Hose. Florentine selbst ließ es sich nicht nehmen in ihren Privaträumen hin und wieder gänzlich auf einen Rock zu verzichten.
„Mama, schau her!", rief Franziska, die sich aus dem Handstand in eine Brücke gleiten ließ. Florentine klatschte Applaus.
Alexander eilte in den Raum hinein und wedelte mit einem Brief. Sein Gesichtsausdruck verkündete Unheil. Selbst Franziska spürte den plötzlichen Stimmungswechsel und hielt in ihren Bemühungen inne, stellte sich mit eng geschlossenen Beinen auf. Ihre jüngere Schwester nahm davon keine Notiz. Sie hörte erst auf zu spielen, als die ältere sie unauffällig antippte.
„Dieser Bocken! Gerade habe ich einen Brief von ihm erhalten!"
„Konntest du das Geheimnis um die Zuwendung deines Vaters lösen?"
Er hielt ihr den Schrieb hin. „Ich denke schon."
Sie überflog die Zeilen mit wachsenden Sorgenfalten. Bocken bat um zusätzliche Geldleistungen für Johanna, die er als sein Mündel aufgenommen hatte. Angeblich studierte sie in Königsfels, was ihm erhebliche Unkosten bereitete. Doch für die Tochter eines alten Freundes wäre es das Mindeste. Wenngleich es nie dazu gekommen war, so hörte Florentine nicht gerne von dieser Frau. Immerhin hatte sie beinahe ihren Mann geheiratet und hatte mit der Verführung seines älteren Bruders die gesamte Familie in Verruf gebracht.
Alexander erwähnte sie hin und wieder, wenn sie in der Vergangenheit schwelgten. Für ihn war sie eine Art Heilige, die sich geopfert hatte, um ihnen ihr Glück zu ermöglichen. Leider hatte er nichts von ihr gehört und als er sich dazu durchgerungen hatte, den Jeverbruchs zu schreiben, musste er feststellen, dass der alte Ritter nicht mehr unter den Lebenden weilte. Er hatte angenommen, Johanna wäre eines ähnlichen Todes wie ihre Mutter gestorben, die fortan in einem Armenhaus gelebt hatte und an den Zuständen verendet war.
Florentine unterdrückte den Stachel der Eifersucht, der sich ihrer bemächtigen wollte. Die Frau hatte sich damals richtig entschieden und sie schuldete ihr Dank. Sie gab Alexander den Brief zurück. „Was hast du vor zu tun?"
„Ich werde mich davon überzeugen, dass seine Worte der Wahrheit entsprechen."
„Und wenn sie das nicht tun?"
„Werde ich für Johanna Sorge tragen."
Florentine presste die Lippen zusammen und sah zur Seite. Es war rechtens, sich ihrer anzunehmen. Aber sie würde dafür sorgen, dass sie nicht im selben Haushalt lebten. Die Frau hatte schon einmal bewiesen, dass sie fähig war, jemanden zu bezirzen. Und auch wenn sie sich der Liebe ihres Gatten sicher war, so wusste sie aus ihrem Leben im Zirkus doch, wie schwach das Fleisch der Männer war.
„Was ist das für ein seltsamer Aufzug, Franziska?", fragte Alexander.
Ihre Tochter wusste nicht recht, was sie darauf antworten sollte, und sah hilfesuchend zur Mutter. „Eine eigene Kreation für ihre Übungen."
„Man könnte meinen, du willst sie zur Artistin erziehen?"
„Wäre das so falsch?"
Alexander befeuchtete seine Lippen mit der Zunge. „Sie sollten auf jeden Fall auch die standesgemäße höfische Etikette lernen."
„Dafür haben sie eine Zofe."
„Doch ich sehe nur dich mit ihnen Umgang haben. Die arme Bedienstete muss schon unter einem voluminösen Hintern leiden, sooft wie sie die Füße hochlegt."
„Sei dir versichert. Sie bekommen ihr Kindermädchen öfters zu Gesicht, als du annimmst."
Er räusperte sich und sein Blick fuhr kritisch an ihrem Körper hinab. „Wir erwarten in nächster Zeit häufiger Gäste. Vielleicht würde es euch allen Arbeit ersparen, wenn ihr öfter etwas Angemesseneres tragen würdet."
Florentine vollführte eine Drehung. „Wäre es nicht eine lustvolle Überraschung, wenn ich ihre verstaubten Ansichten aufwirbele?"
„Für eine Frau, die ständig die Werke der Antike studiert, gehst du deiner Zeit geradezu unerhört voraus", sagte er mit einem Hauch von Schalk. Doch Florentine glaubte, eine Spur von Kritik hinter seinem aufgesetzten Lächeln zu lesen. Sie machte einen übertriebenen Knicks.
„Wir werden uns sogleich in Schale werfen, Eure Exzellenz."
„Lasst auch für eine Reise packen. Ich möchte unsere Gäste zukünftig im alten Anwesen begrüßen", sagte er mit einem Blick auf die bemalten Wände. Florentine hatte sämtliche Wände ihrer Behausung, selbst den Dienstbotentrakt, mit Malerei übersäht. Im Spielzimmer waren die Motive Kinder beim Spielen, Turnen und Toben. Hier hatten auch ihre Mädchen ihre ersten künstlerischen Erfahrungen gemacht und ihres Mutters Werke mit Händen und Füßen ergänzt. Anfangs hatte Alexander sich noch miteingebracht, aber er war rasch wieder auf seine Leinwände umgestiegen und hatte ihnen das Feld überlassen.
„Du willst wohl gleich in die Stapfen deines Vaters treten?"
„Wir wollen unsere Vasallen langsam an die veränderten Umstände gewöhnen. Zunächst, indem sie den neuen Grafen kennenlernen. Erst danach die Marotten seiner Familie."
„Sie werden sich nur schwerlich verdecken lassen, wenn du weiterhin daran festhältst, alle Baronien persönlich zu besuchen." Bei Florentines Worten klatsche Tina in die Hände. Sie war aufgeregt, neue Ortschaften kennenzulernen und mit fremden Kindern zu spielen. Ihr Haus hier war zwar wunderschön, aber abgelegen. Nur zu seltenen Anlässen hatten sie Besuch und deren Kinder waren entweder viel zu höflich, um mit ihnen zu toben oder bereits zu alt. Die meisten Edelleute pflegten es, ihre Kinder zuhause bei ihren Zofen zu lassen.
„Da du die Erziehung unserer Kleinen persönlich übernimmst, dachte ich, du würdest lieber mit ihnen hierbleiben?"
„Du wirst jede Hilfe brauchen, die du bekommen kannst, wenn du dich mit diesem Bocken auseinandersetzt. Außerdem freuen sich die Kinder schon darauf."
„Als Graf werde ich einen Baron allein zu behandeln wissen. Und eigentlich wollte ich zu Pferde reisen, um die Sache abzukürzen."
„Tina beherrscht das Reiten vorzüglich und ich kann Franziska bei mir mit aufsitzen lassen."
„Was für einen Eindruck würde das machen? Wenn ich nicht einmal den Anstand hätte, Frau und Kinder angemessen reisen zu lassen?"
„Den Eindruck, dass deine Frau selbst Entscheidungen trifft und deine Kinder ihrem Vorbild folgen."
„Wir nehmen die Kutsche. Uns läuft ja nichts davon." Alexander klatschte in die Hände. „Na dann Kinder, geht euch für die Reise fertigmachen." Als die beiden hinaus waren, atmete er tief durch. „Wir sollten ihre Zofe mitnehmen."
„Damit jemand auf ihr Benehmen achtet?", fragte Florentine mit den Händen in der Hüfte.
„Damit du unsere Vasallen mit deiner Aufmerksamkeit bezaubern kannst."
Florentine lächelte übertrieben. „Ich werde mir ein paar hübsche Kleider zu meinen Reithosen einpacken." Sie stolzierte hinaus, ohne ihn eines weiteren Blicks zu würdigen. Er mochte in Trauer über seinen Vater sein und unter dem Druck, seiner Position gerecht zu werden, aber sie würde zu verhindern wissen, dass er ihnen allen die verstaubte Würde seines Vaters eines Umhangs gleich überstülpte.
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Tanz der Gefühle
Historical FictionTeil 2 der Tanz-Trilogie Lieber schwelgen im Glück oder schwimmen im Geld? Mina wuchs im Reichtum des Hauses ihres Vaters auf und musste sich ihr Leben lang um nichts kümmern. Sie scheut zeitiges Aufstehen, harte Arbeit und jeglichen Mangel an Komfo...