Kapitel 3-1

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Liebe Mina,
wir sind gestern in Königsfels angekommen. Zu meinem Glück ist die Kaserne dermaßen gut gefüllt, dass ich mich ausquartieren konnte. Ich wohne jetzt bei meiner Schwester, die hier in der Stadt in einer Manufaktur Arbeit gefunden hat. Sie erhält etwas Geld für die Unterbringung, ich mehr Sold, um mich selbst zu verpflegen. Doch bei Justinas Kochkünsten wünsche ich mir fast den Kasernenfraß zurück.
Wir verbringen unsere Tage mit Schießübungen, Patrouillen und bei manch feierlichem Anlass dürfen wir den Eingang bewachen. Ich erwarte, keinen aufregenden Sommer zu haben. Vielleicht kommst du uns einmal besuchen. Wir wohnen in einer Mietskaserne in Ostenfurth, Butterbergstraße 3. Meine Schwester würde sich freuen, dich kennenzulernen – ich habe ihr nur von deinen guten Seiten erzählt!
Wie geht es dir, sind die Lanzbruchs schon eingetroffen?
Martin


Mina überflog den Brief zweimal, ehe sie zu einer Gegenantwort ansetzte. Doch kaum hatte sie die ersten zwei Zeilen geschrieben, da schreckte sie Lärm von draußen auf. Sie öffnete das Fenster, um besser zu hören. Eine ihrer Mägde eilte dem Eingang entgegen und verkündete die Ankunft der Lanzbruchs. Mina spähte in die Ferne und tatsächlich: Dort kam ein kleiner Tross angeritten. Sofort war sie vor ihrem Frisiertisch, zupfte an ihren Haaren, trug frischen Puder auf und parfümierte ihre Brust. Eiligen Schritts war sie auch schon im Erdgeschoss, wo sie beinahe mit ihrem Vater zusammenstieß.
„Amalia, ruf das Gesinde zusammen. Sie sollen sich vor der Tür aufstellen", wies er seine Frau an, ehe er Mina kritisch musterte. „Ich erwarte von dir ausgesuchte Höflichkeit. Geh unseren Gästen nicht mit Geschwätz auf den Geist, halte angemessene Distanz und zeig dich dennoch interessiert."
„Das brauchst du mir nicht zweimal zu sagen, Vater."
„Ich erwarte auch, dass du mich siezt, solange unsere Gäste unter uns weilen."
Mina schürzte die Lippen. Damit konnte sie leben. In ihrer eigenen Familie würde sie es niemals akzeptieren, dass ihr Mann höfliche Umgangsformen von ihr erwartete, während er selbst sie duzte. Aber ihrem Vater gegenüber tat sie den Gefallen, wenn es der Familie zuträglich war.
Baron Lanzbruch erschien mit seinem Sohn Stephan Lanzbruch, einer Kammerzofe und zwei Jagdknechten. Den Schluss bildeten die Packpferde, welche Waffen, Kleidung und Proviant trugen. Die Bediensteten stellten sich im Spalier mitsamt der Familie an der Spitze auf, um ihre Gäste zu begrüßen.
„Baron Lanzbruch, was für eine Freude, Euch in meinem Haus begrüßen zu dürfen", sagte ihr Vater untertänigst.
„Die Freude liegt ganz bei mir", erwiderte dieser von oben herab. „Wo finde ich Euren Stallknecht?"
Minas Vater biss sich auf die Unterlippe. Für solcherlei Aufgaben, wie auch für viele weitere war Martin zuständig. Während seiner Abwesenheit mussten notgedrungen die Mägde und der Kutscher die Arbeit unter sich aufteilen. Lanzbruch unterbrach den Moment peinlichen Schweigens, indem er abstieg und einem der Knechte einen Wink gab. „Du, kümmere dich um die Pferde."
Nachdem sich alle einander vorgestellt hatten, führten die Mägde die Gäste in ihre Zimmer. Die Edelleute kamen im Gästezimmer und Julis Räumlichkeiten unter, die Knechte schliefen beim häuslichen Gesinde. Als sie sich eingerichtet hatten, bat Baron Minnesang zu Tisch. Er hatte für diesen Anlass extra ein Schwein schlachten lassen. Die Köchin hatte schon früh am Morgen in der Küche gestanden, um alles für die Gäste vorzubereiten. Baron Lanzbruch schnüffelte in den Speisesaal und meinte: „Nachdem wir erst durch Eure hübschen Wälder gereist sind, hatte ich eher erwartet, ein Stück Wildbret auf dem Tisch vorzufinden."
„Wir pflegen es, das Wild zu schonen, während es seine Jungtiere gebiert."
Lanzbruch lachte verhalten. „Das ist doch gerade die beste Zeit. Die Mütter sind entweder zu fett zu fliehen oder verteidigen ihre Brut. Wir werden nicht einmal die Hunde brauchen, um unsere Beute zu jagen."
„Aber guter Herr, ihr hattet doch eine beschwerliche Reise hinter Euch. Wollt Ihr Euch nicht lieber ausruhen?", wandte Minas Mutter ein.
„Sohn, hol meine Jagdbüchse." Stephan eilte auf das Zimmer hinauf, um dem Befehl seines Vaters Folge zu leisten. Zu Madame Minnesang gewandt antwortete er: „Aus diesem Grund bin ich ohne Frauenzimmer unterwegs. Ein Mann fühlt sich vom Reisen in keiner Weise ermattet."
Schließlich ließ sich Baron Minnesang zu einer Jagd breitschlagen. Mina hatte sich nie für solcherlei Exzesse interessiert, aber im Sinne der Gastfreundlichkeit begleitete sie die kleine Gesellschaft.
Die Lanzbruchs führten die Jagd ihrer weitreichenden Erfahrung wegen an, wenngleich es eigentlich den Minnesangs gebührte, die Veranstaltung auf ihrem eigenen Grund und Boden zu leiten. Baron Lanzbruch lobte die starken Bäume und die angenehme Luft. Als sie das erste Wild erblickten, verlor er sich gänzlich in seinem Element. Unter den Tieren richteten sie ohne mit der Wimper zu zucken ein Massaker an. Es interessierte sie weniger, einen saftigen Braten zu erjagen, als vielmehr dem Töten aus Lust nachzugehen. Es war egal, ob ein Tier trächtig war, noch zu jung sich zu wehren oder seine Brut verteidigte. Seien es Wildschweine, Hirsche oder Rehe, nichts war vor dem Lauf ihrer Gewehre sicher. Als sie ihren Blutdurst gestillt hatten und einen stattlichen Hirsch auf die Packtiere aufgeladen hatten, kehrten sie nach Hause zurück. Der Abend graute bereits und die Bediensteten würden bis in die Nacht hineinarbeiten, um das gewünschte Essen noch am heutigen Tage zu servieren. Minas Vater biederte sich an die Lanzbruchs an, als wäre der Herzog selbst zu Gast in ihrem Haus und Mina mühte sich, Interesse für Stephans Jagdkünste zu heucheln.
„In unserer Küche beschäftigen wir gleich drei Köche. Wir bringen regelmäßig Jagdgut nach Hause, sodass sogar die Bediensteten in den Genuss guten Fleischs kommen", sagte Baron Lanzbruch, während sie im Salon bei erlesenem Wein saßen.
„Eure Baronie muss äußerst ertragreich sein, wenn Ihr Euch so viel Personal leisten könnt", meinte ihr Vater erstaunt.
„Tatsächlich habe ich vor einer Weile Eisenerzvorkommen auf meinem Land entdeckt. Der Verkauf des Roheisens ist ein lukratives Geschäft."
„Ihr werdet sicher viel Holz benötigen, um die Öfen zu befeuern."
„So ist es. Bald werde ich keinen Ort mehr haben, wo ich meinem liebsten Vergnügen nachgehen kann."
„Auf meinem Land gibt es reiche Forstbestände."
Das Gespräch wandte sich rasch wirtschaftlichen Überlegungen zu, die darauf hinausliefen, dass die Minnesangs den Lanzbruchs Holz lieferten, welche sie dafür an den Einkünften des Eisenverkaufs beteiligten. Gemeinsame Straßennetze würden den Transport beschleunigen und wenn sie weitere Baronien in Richtung Königsfels für sich gewannen, würden sie womöglich zum wichtigsten Handelspartner des Herzogtums aufsteigen.
Minas Mutter schlug zwischenzeitlich vor, ob Mina Stephan nicht die Umgebung zeigen wollte; ein Wink, den sie gerne annahm. Stephan schien zwar an den Gesprächen der Männer interessiert, aber sein Vater befürwortete den Vorschlag. Sie wanderten um das Haus herum, wobei Stephan sein Gewehr weiter mit sich führte, als plane er schon seine nächste Jagd. Allgemein war er geradezu militärisch angezogen. Sein Waffenrock erinnerte an die Uniform eines Generals, nur das dieser weitaus eleganter und teurer wirkte. Seine Schritte griffen weit aus, sodass Mina in ihrem Kleid Mühe hatte, mit ihm mitzuhalten. Er war gut gebaut für einen Edelmann, trug eine modische Perücke und hatte eine aufrechte Haltung. Sein Gebaren zeugte davon, dass er sich seines Aussehens bewusst war. Allein deswegen erschien er Mina als begehrenswerter Fang.
„Seid Ihr beim Militär, Stephan?"
Er schüttelte mit überheblichem Lachen den Kopf. „Warum sollte ich meinen Kopf auf einem dreckigen Schlachtfeld riskieren?"
„Da pflichte ich Euch bei. Ich befasse mich auch lieber mit vergnüglicheren Dingen."
„Sicher fertigt Ihr wunderschöne Stickereien", sagte er mit schwacher Überzeugung.
„Ich interessiere mich eher für das Reisen."
„Eine ebenso beschwerliche wie nichtige Angelegenheit. Ich bevorzuge es, meine Macht vor Ort zu stärken, statt von fernen Gestaden zu träumen."
„Sicher ändert Ihr Eure Einstellung, wenn ihr einmal vor Ort gewesen seid."
Er blieb stehen und musterte sie argwöhnisch. „Wo ward ihr denn schon, dass Ihr Euch eine Meinung davon bilden könnt?"
Mina sah zur Seite. „Ich habe einiges über verschiedene Orte gelesen."
„Ihr seid also belesen", sagte er mit erhobenen Augenbrauen und seichtem Grinsen.
„Lest Ihr nicht gerne?"
„Ich bevorzuge es den Worten wichtigerer Menschen zu folgen. Habt ihr hier Tauben?"
„Tauben?"
„Zum Zielschießen."
Mina runzelte die Stirn und deutete zur Seite, wo fernab des Hauses zwei Zielscheiben standen, an denen Martin und ihr Bruder ihre Übungen machten. Sie befanden sich weit weg vom Stall, sodass sie die Tiere nicht damit aufscheuchten.
„Ihr ehrt die Traditionen des Bürgertums, wie ich sehe."
„Wir haben genug zu essen, um uns den Verzehr von Tauben zu sparen."
Stephan nahm sein Gewehr ab und lachte auf. „Als ob wir das Federvieh danach verspeisen würden."
Er stapfte auf die Zielscheiben zu. Vor diesen fanden sich Steinmarkierungen, die in jeweils 25 Schritt Abständen von den Scheiben standen.
„Euer Bruder ist Offizier im Dienste des Herzogs, nicht wahr?"
„Er befindet sich gerade im Garnisonsdienst."
„Von wo pflegt er zu schießen?"
Mina deutete auf die zweite Markierung, die 50 Schritt von der Scheibe entfernt lag. Die weiter entfernte Markierung hatte Martin angebracht. Er pflegte es, auf die im Gefecht übliche Distanz zu schießen, von der Julis höchstens einen Zufallstreffer schaffte. Doch Martin war dermaßen verbissen, dass er sogar auf diese Entfernung häufig in die Mitte der Zielscheibe traf, wovon viele Einschusslöcher zeugten.
Stephan positionierte sich ein Stück hinter der ihm gewiesenen Markierung, als wolle er beweisen, dass er Minas Bruder übertrumpfte. Er füllte die Muskete mit Pulver und Patrone und legte auf das Ziel an. Mina hielt sich die Hände auf die Ohren, als der Schuss erfolgte und knapp an der Scheibe vorbeiging.
„Vielleicht solltet Ihr Euch näher platzieren", schlug Mina vor.
„Das war nur ein Probeschuss."
Sein nächster Versuch traf am äußeren Rand der Scheibe. Er feuerte noch viele mal mit wachsender Ungeduld ab, schaffte aber doch kaum einen Treffer, den Martin als akzeptabel werten würde. Mina sah den Ärger in seinen Augen. Schließlich lehnte er sich auf sein Gewehr in einer Haltung, als hätte er eines Meisterschützen gleich getroffen.
„Nicht übel, was?"
„Beim nächsten Mal schafft ihr es sicher auch, die Mitte zu treffen."
„Niemand feuert auf die Mitte. Es ist nicht notwendig, das Herz zu erwischen, wo doch ein Treffer in jedwede Stelle der Brust einen Feind zu fällen weiß."
Da mochte er Recht haben. Martin hatte ihr in einem seiner langweiligen Vorträge über die Kriegskunst erzählt, dass die Wirkung einer Feuerwaffe eher der Masse des Beschusses zuzuschreiben war als der Zielgenauigkeit des Einzelnen. Dabei beschwerte er sich regelmäßig, dass eine intensivere Ausbildung und eine entsprechend höhere Trefferquote für eine Schlacht entscheidend sein könnte. Doch im Kriegsfall brachten es die meisten Soldaten nicht einmal auf die geforderten zwei Jahre der Grundausbildung. Viele kamen direkt vom Acker aufs Schlachtfeld und feuerten, als würden sie ihre Heugabel dem Feind entgegenschleudern.
„Ein guter Freund schafft es regelmäßig, die Mitte zu treffen."
„Wahrscheinlich schießt er von der vorderen Markierung."
Mina schüttelte den Kopf. „Er pflegt es von dort aus zu schießen." Sie deutete auf die hinterste Markierung und anhand Stephans Gesichtsausdruck bemerkte sie, dass es keine gute Idee war, von Martin zu sprechen.
„Dieses Adlerauge müsst Ihr mir unbedingt vorstellen, damit ich Euch Glauben schenke."
Sie presste die Lippen zusammen und ein unangenehmes Schweigen entstand zwischen ihnen. „Vielleicht sollten wir nach dem Essen sehen", schlug Mina schließlich vor.
„Ein wunderbarer Gedanke. Ich hoffe, Eure Köchin weiß ein gutes Wildbret zuzubereiten."
Das Essen verlief in angenehmer Redseligkeit – zumindest für die männlichen Beteiligten. Nachdem Baron Lanzbruch sich ausgiebig über die Unfähigkeit der Köchin beschwert hatte, wandte sich das Gespräch wieder den Vorteilen einer Übereinkunft der zwei Herrschaften zu. Madame Minnesang bemühte sich, sich mit Vergleichen von Mina und Stephan einzubringen. Dabei stellte sich heraus, dass sie beide praktisch keine Gemeinsamkeiten hatten. Stephan begeisterte das Schießen, Wettkämpfe und Politik. Mina das Federballspiel, Singen und Reisen. Madame Minnesang sah in ihren Unterschieden Möglichkeiten, sich neue Interessensgebiete zu erschließen. Die Männerrunde erachtete es eher so, dass zukünftige Ehepartner ohnehin außerhalb des Betts keine Zeit miteinander verbrachten. Mina fragte sich, wie sie Stephan für sich gewinnen sollte, ohne sich völlig zu verbiegen.
Den Abschluss des Abends bildete eine gemütliche Runde im Salon. Minas Mutter spielte am Piano und Mina sang inbrünstig dazu. Die Männer beurkundeten höflichen Applaus, während sie sich in erster Linie miteinander beschäftigten, statt ihrer Kunst zu lauschen. Schließlich schlug Madame Minnesang vor, Stephan könnte ein Duett mit Mina wagen, doch diesen Vorschlag lehnte er höflich ab; er hielte nichts von menschlichem Gequäke.
Vor dem Schlafengehen verfasste Mina einen Brief an Martin, in dem sie ihm ihr Leid klagte. Stephan war äußerlich perfekt, doch er interessierte sich überhaupt nicht für sie. Dabei schien alles darauf hinauszulaufen, dass ihre Väter intensive geschäftliche Beziehungen knüpfen würden.


Tanz der GefühleWo Geschichten leben. Entdecke jetzt