Kapitel 8-1

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Justina hatte einen Stein ins Rollen gebracht. Zunächst mochte es nur ein Kiesel gewesen sein, der mit leisen Klickern den Hang hinabrollte. Doch dann hatten sich immer mehr dazu gesellt, bis die Masse sogar in der Lage war, mächtige Felsbrocken aus ihrer Verankerung zu reißen. Am gestrigen Tag hatte die Lawine ihr Ziel erreicht und alles in Schutt und Asche gelegt.
Es begann am Tag, nachdem sie Rosalia erzählt hatte, sie hätte eine Sonderzahlung von Adam erhalten. Flora war nicht zur Arbeit erschienen. Sie war eine Frau aus bürgerlichem Haus, hatte nur ein Kind, welches ihre Mutter genauso gut betreuen konnte und somit Zeit, sich einem Nebenerwerb zu widmen. Frauen wie Flora gab es hier zur Genüge, wenngleich die Voraussetzungen unterschiedlich waren. Manche hofften, langfristig mehr zu verdienen, als wenn sie zuhause stickten und nähten, andere hatten genug Zeit und viele hatten das Geld tatsächlich bitter nötig. Letztere kamen sogar krank zur Arbeit, um dem Lohnentfall entgegenzuwirken.
Flora hatte es nicht unbedingt nötig, hier zu sein. Ihr Mann war ein Hutmacher und gleichwohl der Beruf seiner Gesundheit abträglich war, so würde er seine Familie noch lange ernähren. Es war also nicht ungewöhnlich, dass sie ausfiel, wenn sie zuhause gebraucht wurde. Am nächsten Tag folgten zwei weitere ihrem Beispiel und auch Flora kehrte nicht zur Arbeit zurück.
Die Tage wurden gesprächiger. Selbstverständlich verteilte Herr Webmann nicht gleich Maulschellen, wenn zwei Frauen leise miteinander tratschten. Der gegenseitige Austausch war häufig handwerklicher Natur. Die Frauen halfen sich und steigerten damit die Produktivität. Und auch wenn Stille die Konzentration förderte, so erhöhte das völlige Ausbleiben jeden Gesprächs doch eher die Müdigkeit.
Etwas hatte sich verändert. Das Getuschel wurde intensiver, anhaltender und so manche ließen sich von der Arbeit abbringen. Herr Webmann schritt durch die Reihen der Arbeiterinnen und mahnte zur Ruhe, bei Übermaß saß ihm auch die Hand mal locker, aber seine Bemühungen erschienen sinnlos. Als ersticke er unsichtbare Flammen, so züngelte das Feuer an mehreren anderen Orten neu auf, wenn er es gerade an einer Stelle gelöscht hatte.
Zunächst hielt Justina es für die Aufregung über Adams längeren Ausfall. Der Lohn stand in Kürze an und wohl fürchtete man, Herr Webmann würde diesen nicht an seiner statt auszahlen. Doch bald schon bemerkte sie, wie sie ausgegrenzt wurde. Um sie herum verklang das Gespräch zu Raunen, sie spürte vielerlei Blicke auf sich lasten, die keinesfalls wohlwollend ausfielen. Erst ignorierte sie das Ganze und steigerte sich in ihre Arbeit hinein, doch irgendwann reichte es ihr und sie starrte die Gaffenden überdeutlich an.
Der Tag von Adams Rückkehr sollte einen Wendepunkt im Verhalten der Frauen bestimmen. Vielleicht war es auch ein Höhepunkt, das war Ansichtssache. Wie gewöhnlich kam Adam zur Tür herein, warf einen wohlwollenden Blick auf seine Arbeiterinnen, grüßte die Menge höflich und ging schließlich in sein Arbeitszimmer. Manches Mal führte er auch Einzelgespräche, wenn eine Arbeiterin ein offenes Ohr brauchte; jedenfalls sorgte sein Auftreten stets für Frohmut unter den Frauen. Adam war für sie ein Ehrenmann, der sich für seine Leute interessierte und mit ihnen an einem Strang zog. Dieses Mal kam er weniger freudestrahlend herein, sein Gesichtsausdruck war eher düster und das Lächeln in die Runde gezwungen. Als spiegelten die Frauen seine Laune überdeutlich, blieben ihre Mienen verschlossen. Er nahm davon zunächst keine Notiz, war wohl in seine eigenen Gedanken vertieft, grüßte Herrn Webmann per Handschlag und zog sich in sein Arbeitszimmer zurück.
Und auf einmal stand das erste Spinnrad still. Es fiel praktisch nicht auf, inmitten des allgemeinen geschäftigen Treibens ging es fast unter, doch natürlich bemerkte Herr Webmann, der mit Adleraugen über sie wachte, die Veränderung. Er sah zunächst nur in die Richtung der Spinnerin und wäre die Luft um sie herum nicht so spannungsgeladen gewesen und spielten ihre eigenen Gefühle nicht verrückt ob Adams Rückkehr, so hätte Justina es gar nicht gemerkt.
So sah sie aus den Augenwinkeln zum Vorarbeiter hinüber, während sie mit halber Aufmerksamkeit weiter ihr Webschiffchen gleiten ließ. Herr Webmann trippelte mit dem Fuß auf den Boden, schließlich ging er erhabenen Schritts zu der Arbeiterin.
„Was hält dich vom Weiterarbeiten ab? Ist das Werg gerissen?"
„Meine Finger schmerzen."
„Zeig mir deine Hände." Er nahm den Arm der Frau und inspizierte ihre Handfläche, worauf er abfällig meinte: „Red keinen Unsinn und arbeite weiter, sonst zieh ich es dir vom Lohn ab."
Mittlerweile hatten alle anderen auch Notiz von dem Szenario genommen und starrten gebannt darauf, an manchen Stellen setzte wieder lautes Gemurmel ein. Für Justina wirkte es, als springe ein Funke von der Arbeitsunwilligen über, der langsam das Feuer in den anderen entfachte.
„Ich brauche auch eine Pause", erschall es von der gegenüberliegenden Seite des Raums.
„Ich ebenso!" Die Dritte war sogar so dreist, sich zurückzulehnen und die Arme hinterm Kopf zu verschränken. Das ging Herrn Webmann zu weit und er gab ihr eine Ohrfeige, während er sie zur Arbeit befahl. Doch damit hatte er nur Öl ins Feuer gegossen. Bis auf vereinzelte Ausnahmen legten die Frauen ihr Werk nieder. Manche saßen einfach nur stumm da, andere verfielen in laute Gespräche und ein paar standen auf, mit Angriffslust in ihren Augen.
„Ich dulde dieses Benehmen nicht!" Doch des Vorarbeiters Ruf blieb ungehört. Aus dem allgemeinen Tumult erhob sich ein Satz, der – sofern Justina es richtig wahrnahm – zunächst aus Rosalias Kehle echote. „Gleiches Geld für gleiche Arbeit!"
Der Appell wurde von immer mehr Stimmen aufgenommen. Der Vorarbeiter warf besorgte Blicke zu Adams Zimmer und versuchte, mit Geschrei und Gewalt dem Chor Herr zu werden. Schließlich wurde auch Adam von den Rufen aus dem Arbeitszimmer geholt.
Er erfasste die Situation schnell, sein erster Blick galt Justina. Als er sie so ansah, zerbrach etwas in ihr. Es war nicht Wut oder Verärgerung. Es war Enttäuschung. Die Erkenntnis, sich in einem Menschen aufs Fatalste geirrt zu haben. Justina stand auf und versuchte mit Bitten und Betteln, so manche Frau zur Ruhe zu bringen, doch von den meisten stach ihr nur der Stachel des Hasses entgegen. Sie war nicht mehr länger eine von ihnen.
Adam schritt auf seinen Vorarbeiter zu, um ihn wohl davon abzuhalten, durch sein grobes Verhalten die Wut nur weiter aufzustacheln, aber es war schon zu spät. Mehrere Frauen ergriffen die Initiative und überwältigten Herr Webmann. Als die Welle erst losgebrochen war, gab es kein Halten mehr. Sie stürmten Adams Zimmer, sorgten für heilloses Chaos und schließlich regnete es Geld auf die Menge herab, die zumindest für einen Moment abgelenkt war. Eine Gelegenheit, die Adam und Webmann zur Flucht nutzten. Justina sah ihnen nach, während sie selbst nicht mehr dazu in der Lage schien, sich zu rühren. Die jubelnde Menge machte sich mit ihrer Beute alsbald aus dem Staub.
Justina blieb zurück. Es war still geworden in der Werkhalle. Ein paar Unentschlossene verließen schließlich auch das Schlachtfeld und nur eine Handvoll Arbeiterinnen blieben auf ihrem Platz. Justina spürte Herthas anklagenden Blick auf sich. Die junge Frau hatte Adams Einsatz für sie offensichtlich nicht vergessen und hielt ihm die Treue. Doch jener, die für all das verantwortlich war, würde sie wohl auf ewig die kalte Schulter zeigen. Um sich zu beruhigen, setzte Justina das Weben fort, bis schließlich Adam mit seinem Webermeister zurückkehrte. Sie rannten ins Arbeitszimmer und stellten lautstark das Fehlen des Geldes fest.
„Wir müssen sofort die Garde informieren und das diebische Pack einfangen lassen!"
Adam schüttelte betrübt den Kopf. „Sie haben sich nur genommen, was ihnen rechtmäßig zusteht."
„Womit plant Ihr, das Gehalt Eurer Leute auszuzahlen?"
„Wir werden wohl diesen Monat noch mit meinem privaten Vermögen auskommen."
„Und dann?"
Adam stützte sich auf einem Tisch ab und betrachtete die Platte, als könne er darauf die Lösung auf Webmanns Frage finden. „Danach können wir ihnen nur empfehlen, sich nach einer neuen Tätigkeit umzusehen."
Das Gesicht des Vorarbeiters erbleichte. „Ich habe Euch gewarnt! Ihr habt mir zugesagt, dies würde meine Zukunft absichern!"
„Ich habe wohl jeden hier enttäuscht."
Mit offenem Mund starrte Webmann seinen Herrn an, ehe er sich umwandte und hinausmarschierte. Adam sah ihm nur einen Moment nach, ehe er sich an die Verbliebenen wandte: „Meine Damen, Sie können sich den Tag freinehmen. Heute gibt es hier nichts mehr zu retten."
Justina hatte überlegt, Adam anzusprechen, sich vor ihm auf die Knie zu werfen und um Gnade zu betteln. Doch er wandte den Blick von ihr ab, kaum dass sie ihm näher kam. Sie ging nach Hause und vergrub den Kopf in ihrem Polster. Schließlich kehrte Martin zurück und sie beichtete ihm den Vorfall.
„Wie konntest du das nur tun?"
„Es ist mir keine Hilfe, wenn du auch noch mit mir schimpfst!"
„Wäre es dir dienlicher, erteilte ich dir Absolution? Dafür, dass du diesen Mann aufs Schmählichste hintergangen hast?"
„Ich war wütend und habe einen dummen Fehler begangen."
„Du kannst ihn nicht zur Liebe zwingen."
„Aber warum gibt er mir erst das Geld, erwidert meinen Kuss, um mich dann zu ignorieren?"
Adam griff sich an die Nasenwurzel. Er schien müde von der Arbeit und tat sich schwer damit, die Kraft aufzubringen, mit ihr zu sprechen. „Vielleicht aus Höflichkeit?"
„Ein Kuss aus Höflichkeit?"
„Wenn ich deine Beschreibung richtig deute, dann hast du ihn geradezu überfallen. Was erwartest du? Dass er dich sogleich zu Boden wirft und auf dich eintritt?"
„Er hätte mich höflich abweisen können."
„Auch im edelsten Mann steckt doch noch ein Kerl."
„Würdest du dasselbe tun?"
Er biss sich auf die Unterlippe und nickte vage. „Bei solch einem Übergriff, wer weiß, ob ich nicht weiter ginge als er."
„Auch wenn du keine Liebe verspürst?"
„Liebe und Verlangen sind nicht immer dasselbe."
Justina vergrub das Gesicht in den Händen. Liebte sie Adam überhaupt? Oder war es nur der Wunsch, ihn zu besitzen? Würde sie von ihm ablassen, nachdem ihr Verlangen gestillt war? Wie sollte sie diese zwei Bedürfnisse überhaupt unterscheiden? Es klopfte an der Tür und die beiden sahen sich alarmiert an. Hatte Adam möglicherweise doch beschlossen, die Garde einzuschalten. Kamen sie nun, um die Wurzel des Aufruhrs auszureißen?
„Bleib hier", sagte Martin und öffnete die Tür einen Spaltbreit. Es war nur ein Bote, der einen Brief überbrachte, was Justinas hämmerndes Herz beruhigte. Martin überflog den Schrieb mit flinken Augen und wachsender Besorgnis.
„Von wem ist er?"
„Mina", gab er knapp Antwort.
„Was schreibt sie?"
„Nichts Erfreuliches." Er ließ den Brief sinken und starrte verdrossen ins Leere.
„Was soll ich jetzt tun, Martin?"
Nur schwerfällig löste er sich aus seiner Starre und legte ihr die Hände auf die Schultern. „Ich werde dir Geld da lassen, falls du etwas brauchst, um die Zeit bis zu einer neuen Anstellung zu überbrücken."
„Ich soll einfach aufgeben?"
„Auch wenn du das Schiff zum Kentern brachtest, wünsche ich mir für dich nicht, dass du mit in den Strudel gerätst." Er packte seine Sachen zusammen und Justina verfolgte sein Tun mit wachsender Verwirrung.
„Du gehst?"
„Ich kehre zurück zu den Minnesangs."
„Du hast doch noch Garnisonsdienst."
„Ich muss Mina helfen."
„Und was ist mit mir?"
Er legte ihr die Hände auf die Schultern und küsste sie auf die Stirn. „Ich nehme mir nur Urlaub. Danach, liebste Schwester, helfe ich dir gerne, den Stiefel aus dem Morast zu ziehen."
„Dann ist es vielleicht zu spät."
Er ging vor ihr in die Hocke und sah ihr mitfühlend entgegen. „Dieser Rückschlag ist nicht das Ende. Du wärst nicht meine Schwester, wenn du nicht schon bald eine neue verrückte Idee hättest."
Sie lächelte tapfer und legte ihm die Hand an die Wange. „Du solltest dieser Mina sagen, dass du sie liebst."
Er lachte leise. „Wie kommst du darauf?"
„Ich kenne meinen dämlichen, zurückhaltenden Bruder, der eine Gelegenheit lieber verstreichen lässt, als das Wagnis einzugehen, sie beim Schopf zu packen."
„Es erspart einem, in so manche Lacke zu treten", erwiderte er schmunzelnd.
Sie gab ihm einen sanften Schubs. „Geh schon, kümmere dich um deine Liebste."
Er richtete sich auf und salutierte vor ihr. „Wie Ihr befehlt, General."
„Und schick mir eine Einladung", rief sie ihm nach, als er die Tür geöffnet hatte.
Er sah über die Schulter mit verwirrtem Blick zurück.
„Zu deiner Hochzeit."
Er lachte rau beim Hinausgehen. Justina horchte auf seine verklingenden Schritte am Gang. Als völlige Ruhe eingekehrt war, atmete sie mehrmals durch, um sich zu sammeln. Sie zählte die Münzen in ihrer Hand. Was war ihr Schicksal, nun, da sie ohne Arbeit war? Vielleicht die Anstellung in einem hohen Haus? Wieder katzbuckeln vor einem Baron, einem Grafen oder gar dem Herzog selbst? Ihre Hand umschloss die Münzen und sie richtete sich auf. Nein, so schnell würde sie nicht aufgeben.


Tanz der GefühleWo Geschichten leben. Entdecke jetzt