Kapitel 14-4

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Tina saß am Tisch und säbelte mühsam an dem Braten herum, den die Bediensteten ihr vorgesetzt hatten. Franziska hatte es gut: Ihr Essen wurde noch von ihrer Zofe geschnitten. Sie selbst bestand seit einem Jahr darauf, selbstständig zu speisen.
Bisher hatte sie sich ihrer Finger bedient, wenn es ihr mit Besteck zu mühselig wurde. Aber seit ihr Großvater gestorben war, schien es, als wäre ihr Vater zu seinem Ebenbild geworden. Sie fürchtete sich, einen Fehler zu machen, sich nicht nach dem Vorbild der Erwachsenen zu benehmen. Auch ihre Mutter hatte sich verändert. Zwar bestärkte sie sie noch immer in ihrem Tun, wenn sie allein waren, doch in Gesellschaft gab sie sich seltsam geziemt.
Zu allem Übel hatten sie heute Besuch, der weitere Tage zu bleiben gedachte. Der Herzog und seine Frau. Zwei Personen, die sich piekfein zu kleiden pflegten. Zu diesem Anlass hatten Tina und Franziska gänzlich neue Gewänder bekommen, als müssten sie den Gästen beweisen, was für vornehme Kinder sie waren.
Die Herzogin stellte ihnen immer wieder interessierte Fragen zu ihrem Leben und Tina bemühte sich, ihr ordentlich Antwort zu geben. Manchmal suchte sie dabei helfend den Blick ihrer Mutter, die ihr nur gutmütig zulächelte. Doch sie hatte das Gefühl, immer etwas antworten zu müssen, was auch ihrem Vater gefiel. Daher verschwieg sie oft Auskünfte und erzählte nur das, was dem Leben anderer Kinder entsprach, die sie auf ihrer Reise kennengelernt hatten.
„Also dürfen wir Euch bald König nennen, Eure Durchlaucht?"
Der Herzog nickte, während er einen Bissen hinunterschluckte. „Unsere Unterstützung des Kaiserreichs sichert uns sogleich die Souveränität. Meine Krönung wird in Bälde stattfinden."
„Müssen wir fürchten, in diesen Krieg hineinzugeraten?"
„Die Sarxen werden die Gelegenheit vielleicht nutzen, uns mehr als gewöhnlich zu piesacken. Aber solange das Kaiserreich standhält, dürften unsere Ländereien außerhalb der Schusslinie bleiben."
„Wollen wir nicht von Erfreulicherem sprechen als der Kriegstreiberei?", wandte die Herzogin ein, „sicher würden sich die Kinder freuen, wenn wir sie nicht mit Alltäglichkeiten langweilten. Da fällt mir ein, Florentine, wie steht es um Eure Malerei?"
„Ich habe meine Materialien großteils in unserem anderen Anwesen untergebracht."
„Wie bedauerlich. Wie kommt es, Graf Arling, dass Ihr nun Eures Vaters Anwesen bewohnt?"
Alexander klopfte sich auf die Brust, als hätte er sich verschluckt. „Ich hielt es für angemessen, Euch hier zu empfangen."
Die Herzogin seufzte auf. „Als ob wir im Schloss nicht genug des Pomps hätten. Ich war ganz versessen darauf, die Gerüchte über euer illustres Heim einer Prüfung zu unterziehen."
„Es ist in aller Munde", stimmte der Herzog bei. „Die Künstler der Stadt kommen kaum ihren Aufträgen hinterher. Viele eifern euch nach und lassen ihre Wände auf ähnliche Weise dekorieren. Aber mit der Natürlichkeit Eurer Gattin kann niemand mithalten."
Florentine neigte das Haupt. „Ich danke für das Kompliment, Eure Durchlaucht."
„Ich bin übrigens über Eure Kinder verwundert. Ich hätte nicht damit gerechnet, dass ihr sie derartig strikt zu erziehen pflegt. Haben Euch am Ende die Konventionen der feinen Gesellschaft gefangen genommen, Florentine?"
Tina sah zu ihrer Mutter auf, die gezwungen lächelte. „Sie machen ihrem Vater alle Ehre."
„Und ihrer Mutter ebenso", sagte Alexander plötzlich, wischte sich den Mund ab und erhob sich. Aller Blicke folgten ihm, als er sich über die Stuhllehnen seiner Töchter beugte. „Kinder, wollt ihr unseren Gästen nicht zeigen, was eure Mutter euch beigebracht hat?"
Tina sah fragend zu ihrer Mutter, die sie fassungslos anstarrte, ehe sich ein Lächeln auf ihre Züge schlich und sie ihr einen Wink gab. „Aber Papa, wir haben nicht die richtigen Sachen dafür an."
„Willst du etwa behaupten, du könntest nicht auch in einem normalen Kleid turnen? Der Kummer deiner Zofe, wenn sie eure Sachen flicken musste, ließ mich anderes annehmen."
Tina grinste und warf einen Seitenblick auf ihre Zofe, die mit tiefem Ein- und Ausatmen ihren Unmut beruhigte. Sie holte Anlauf und schlug ein Rad, gefolgt von einem leisen, reißenden Geräusch ihres Kleids. Franziska rannte vergnügt quiekend auf sie zu. Sie hielt ihr den Arm hin, sodass sie sich über diesen überschlagen konnte.
Vom Tisch brandete ihr Beifall zu, den sie noch steigerte, als sie sich in den Handstand aufschwang und einige Schritte ging. Ihre Röcke fielen ihr bis übers Gesicht, sodass sie blind umher tappte. Sie richtete sich auf und hob die Hände, wie eine Artistin, die das Ende einer Nummer verkündete, worauf auch ihre Eltern in den Applaus einfielen. Ihre Eltern sahen abwechselnd zu ihnen und dann zueinander. Und endlich konnte sie das alte Funkeln in ihren Augen wieder sehen.

Später am Abend, als sich ihre Gäste schon zu Bett begeben hatten, turnten sie weiter. Dieses Mal in ihren Anzügen, die ihre Mutter ihnen hierzu gekauft hatte. Die Kinder hatten sich erbettelt, heute länger aufzubleiben, und ihre Eltern hatten es gewährt.
Tina stupste Franziska immer wieder an, der die Augen zuzufallen drohten. Wenn sie Anzeichen von Müdigkeit zeigten, würde ihre Zofe sich ihrer sicher annehmen. Aber noch konnte Tina nicht ins Bett. Nach dem Essen hatten ihre Eltern lange miteinander gesprochen und das so leise, dass sie nichts mitbekommen hatten. Sie hatte sie öfters so vertraulich reden gehört. Meistens war Mama danach niedergeschlagen gewesen und hatte sich reserviert gezeigt. Mit der Zeit hatte sie immer weniger gelacht und sich vielmehr verhalten, wie es die anderen Mütter taten. Heute hatte sie sie zum ersten Mal wieder lächeln gesehen wie damals, bevor sie diese langweilige Reise angetreten hatten.
Sie waren im Wintergarten des Hauses und durch die großen Scheiben konnte sie draußen die Sterne beobachten. Ihre Mutter starrte ebenso gebannt mit der Hand auf dem kühlen Glas hinaus. Ihr Vater derweil kam mit zwei Leinwänden und Farben herein, die er aus dem Keller geholt hatte.
„Sag ich doch, dass es auch hier noch Material gibt."
„Also hat dein Vater nicht alles wegschaffen lassen?"
Alexander schüttelte den Kopf. „Er mochte kein begeisterter Anhänger gewesen sein, aber er hat es akzeptiert. Dem Gesinde zufolge war er sogar recht angetan von unserem damaligen Schlafzimmer."
Tina wusste, von welchem Raum er sprach. Es war ihr jetziges Kinderzimmer. Darin konnte sie schlafen wie zuhause, weil es sie so sehr an das ihrige erinnerte. Die Wände waren mit farbenfrohen Wiesen und wolkenschweren Himmel bemalt. Im Schein der Sonne standen ihre Eltern mitsamt Tina und Franziska, als sie kleiner waren.
„Vielleicht wäre aus ihm noch ein Künstler geworden, wenn du ihn instruiert hättest."
Alexander lachte. „Ich wage, es zu bezweifeln, aber wer weiß." Er legte die Arme um Florentine, als diese den ersten Pinselstrich tat. „Es tut mir leid, ich habe das Wichtigste aus den Augen verloren."
„Du wolltest deinen Vater zufriedenstellen."
„Viel eher mir selbst beweisen, dass er mich unterschätzte. Ich war so in dem Gedanken gefangen, dass ich so sein müsste, wie er es war. Erhaben und stattlich."
Sie drehte sich zu ihm um und legte die Arme um ihn. Ihr Pinsel tropfte auf seinen Anzug. „Für mich und deine Kinder bist du der stattlichste Mann, so wie du jetzt bist."
„Und du die wundervollste Frau, die mich immer wieder zu mir zurückführt, wenn ich von meinem Weg abweiche."
„Dieses Mal gebührt das Lob unseren Kindern."
„Und ihrer Mutter, die sie gelehrt hat, was wirklich zählt."
Florentine erwiderte nichts mehr darauf und gab mit einem Lächeln nach, worauf er sie leidenschaftlich küsste. Er nahm sie dabei fest in den Arm und Tina spürte, wie ihr vor Glück der Kopf ganz schwer wurde. Alles war wieder beim Alten und sie konnte sich dem Drängen der Müdigkeit endlich ergeben.


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