Florentine und Adam reisten mit vergleichsweise großem Gefolge. Die Familie fuhr in einer stattlichen Kutsche voran, gefolgt von einer weiteren, die ihr Gepäck transportierte. Zuvorderst kundschaftete ein bewaffneter Späher den Weg aus und auch ihre Nachhut bildeten, neben Packpferden mit Proviant, zwei bewaffnete Männer. Daneben hatten sie zwei Kutscher dabei, die Zofe der Mädchen und einen Knecht, der sich um das Übrige kümmerte. Während die Kinder begeistert aus dem Fenster blickten, herrschte zwischen Alexander und ihr Schweigsamkeit.
Er war nicht erfreut über ihr Beisammensein, da es die Reise viel zeitaufwendiger machte. Außerdem schien er sich daran zu stören, dass seine Kinder auffielen wie Papageien. Anfangs hatte er sich darauf verlegt, dafür deren Zofe zu rügen, doch Florentine hatte ihm klargemacht, dass sie sich für ihr Verhalten verantwortlich fühlte und es bis zu einem gewissen Grad auch unterstütze. Alexander hatte nie ein Problem damit gehabt, dass sie sich nicht darum scherten, wer zuerst am Tisch saß oder wann man aufzustehen hatte. Dass sie ungeachtet ihrer Kleidung Räder schlugen, statt still zu sticken, war für ihn immer ein Anlass zum Applaudieren gewesen, doch nun schien es ihm peinlich. Zu guter Letzt sangen sie zwar mit Begeisterung, aber im Vergleich zu den einstudierten Arien anderer Mädchen, klangen ihre Volksweisen wie das Krakeelen einer Marktschreierin.
Sie übte sich in Verständnis. Er war in eine neue Rolle hineingestoßen geworden und wollte sich ihrer als würdig erweisen. Nicht nur, dass ihm diese selbst nicht recht war und er sich unsicher fühlte; seine Familie entsprach ganz anderen Maßstäben, als es von ihrem Rang erwartet wurde. Doch Florentine wollte ihren Kindern lieber eine freudvolle Kindheit schenken, als sie wie zu klein geratene Erwachsene zu behandeln und Dinge von ihnen einzufordern, die sie nur einengten. Ihre Vasallen reagierten auf unterschiedlichste Art und Weisen darauf. Manche waren belustigt, andere sahen es als innovativ an und einige verbargen ihre Schockierung hinter emsigem Schweigen. Alexander war der Überzeugung, dass niemand es wirklich billigte. Einzig ihr höherer Stand zwang den niederen Adel zu höflichem Lächeln.
„Wollen wir darüber reden?"
Er sah mit verschränkten Armen zu ihr auf. „Worüber?"
„Darüber, dass du dich für deine Familie schämst."
„Nicht vor den Kindern."
„Unsere Kinder haben das Recht mitzusprechen, nachdem du dich auch ihnen gegenüber abweisend verhältst."
Tina unterbrach das Schauen in die Ferne und setzte sich aufrecht hin, doch sie wagte es nicht, selbst das Wort zu erheben. Franziska blieb von alldem unbeeindruckt. Sie zeigte weiter mal hierhin mal dorthin und gab lautstark kund, was sie alles in der Natur entdeckte.
„Sie sind keine Erwachsenen und müssen somit auch nicht an erwachsenen Gesprächen teilhaben."
„Aber wie Erwachsene benehmen sollten sie sich schon?"
„Dein Scharfsinn trügt nicht darüber hinweg, dass wir uns vor unseren Vasallen lächerlich machen."
„Vor einigen Jahren hast du noch die Ehe infrage gestellt. Und heute stellst du die Gepflogenheiten über deine Familie?"
„Es kann nicht zu viel erwartet sein, dass unsere Kinder sich zumindest zu gewissen Anlässen zusammenreißen!"
Tina sah schuldbewusst zu Boden und Florentine legte ihr die Hand auf den Schoß.
„Du prangerst die Falschen an."
„Es hätte keinen Sinn, dich zu beschuldigen."
„Weil ich mich deiner erwehren kann?"
„Weil du es dir so zurechtlegen wirst, dass du ohnehin wieder im Recht bist."
„Daher strafst du mich, indem du abends früh schlafen gehst, dich tagsüber in Schweigen hüllst und wir nicht einmal mehr gemeinsam malen?"
„Ich bin zu beschäftigt, um mich mit derlei Dingen zu beschäftigen, und die Verhandlungen mit den Edelleuten ermüden mich."
Florentine beruhigte sich damit, dass ihm der Tod seines Vaters noch immer nachging, und atmete tief ein und aus, um sich selbst im Zaum zu halten. Sie konnte mit seiner Laune umgehen, aber es war inakzeptabel, dass ihre Kinder darunter litten.
„Es sei dir gestattet, mit mir im Zwist zu sein. Doch ich erwarte, dass du deinen Kinder die verdiente Liebe schenkst und sie nicht weiter dafür verurteilst, dass sie Kinder sind."
„Verstehst du nicht, dass ich das aus Liebe tue? Jetzt mag unsere schützende Hand noch auf ihnen liegen. Aber was ist, wenn wir nicht mehr sind? Wie sollen sie sich im Haus eines anderen zurechtfinden, ohne den Halt der nötigen Etikette?"
„Ich habe mich auch zu behaupten gewusst!"
„Und wurdest öffentlich zum Gespött gemacht!"
Florentine presste die Lippen zusammen. Auch sie hatte den Moment im Theater nicht vergessen, da Baron Bocken sie öffentlich demaskiert hatte. Aufgezeigt hatte, dass die angebliche Edelfrau nur eine Zirkusartistin war. Instinktiv griff sie nach Tinas Hand und drückte sie. Niemals würde sie wollen, dass ihre Kinder dasselbe Schicksal erlitten.
„Noch heute höre ich die Leute tuscheln. Du magst zwar vom Herzog geadelt sein, aber viele sehen für immer die Niedere in dir."
„Auch du?", fragte sie mit brechender Stimme.
Reue zeigte sich in seinem Gesicht, doch ehe er etwas sagen konnte, kam der Späher zur Kutsche und erstattete Bericht: „Herr, ich habe ein Mädchen im Wald entdeckt!"
Die Kutsche hielt mit einem Ruck und Alexander öffnete den Wagenschlag, gab ihnen zu verstehen, drinnen zu warten. Kaum war ihr Vater hinaus, presste Tina ihr Gesicht an Florentines Brust. „Mama, was habe ich getan, dass Papa so böse ist?"
Sie streichelte ihr über den Kopf. „Nichts, mein Schatz. Er ist im Moment durcheinander."
„Soll ich so sein wie die anderen Mädchen?"
Florentine musste an sich halten, um nicht in Tränen auszubrechen. Die Mädchen hatten jedwedes Kind der Barone, die sie bereits besucht hatten, zum Spielen aufgefordert. Viele von ihnen waren jedoch schon dermaßen streng erzogen, dass sie sie abgewiegelt hatten, ihnen fragende Blicke zuwarfen oder vorgaben, sich ihre Kleider nicht schmutzig machen zu wollen. Wie leblose Puppen studierten sie Bücher, sangen Lieder aus Operetten oder fummelten mit ihren viel zu kleinen Fingern fadenbesetzte Nadeln durch Leinwände.
Zunächst hatten sich die beiden darüber verwundert und miteinander gespielt. Doch je öfter sie damit konfrontiert wurden, desto häufiger kamen Fragen auf, warum sich die anderen Kinder so seltsam benahmen. Florentine wünschte sich in solchen Momenten, sie hätten auch den Dörfern einen Besuch abgestattet. Dort, wo die Kinder im Matsch spielten, durch Wälder tobten und Bälle schossen. Es war das erste Mal, dass Tina sich selbst infrage stellte.
Sie musste ihrer Tochter die Antwort schuldig bleiben, denn Alexander führte eine verlottert wirkende junge Frau in ihre Kutsche. Florentine nahm ihre Kinder auf den Schoß, damit sie Platz nehmen konnte. Sie trug die Tracht einer Dienstmagd, möglicherweise eine Flüchtige aus einem hohen Haus. Ein Bediensteter brachte ihr etwas zu essen und zu trinken, ehe sie weiterfuhren.
„Das ist Mademoiselle Mina Minnesang", stellte Alexander sie vor.
„Ihr seid eine Edelfrau?"
Mina senkte den Blick bei Florentines Frage. „Ich hielt es für klüger, in einfachen Gewändern zu reisen, um Banditen zu täuschen."
„Aber wo ist Eure Begleitung?"
„Ich reiste alleine."
„Seid Ihr von zuhause weggelaufen?"
Mina schüttelte den Kopf.
„Wir werden sie nach Hause bringen", wandte Alexander ein, „es bedeutet nur einen geringen Umweg und die Minnesangs standen ohnehin auf unserer Liste."
„Habt vielen Dank", sagte Mina.
Den Rest der Fahrt verbrachten sie mit Fragen zu Minas Befinden, die diese eher ausweichend behandelte. Sie erzählte, einen Ausritt unternommen und sich in der Zeit verschätzt zu haben. Schließlich hatte sie die Dunkelheit überrascht und sie war vom Weg abgekommen. Florentine beließ es dabei.
Mina war ihr sympathisch. Sie wirkte zwar wie eine typische Edelfrau, hatte aber eine Wildheit an sich, die sie an sie selbst erinnerte. Es fiel ihr leicht, mit den Mädchen ins Gespräch zu kommen, und schon bald löcherten diese sie mit Fragen zu ihrer Heimat. Eine wunderbare Abwechslung zu ihren bisherigen Bekanntschaften. Mina sang zwar mit Begeisterung, wie es von ihr erwartet wurde, aber sie pflegte es auch dem Federballspiel nachzugehen und hatte kürzlich sogar das Schießen geübt. Sie ritt vorzugsweise wie ein Mann, so wie Florentine es handhabte. Die zwei Mädchen konnten es kaum erwarten, ihr Zuhause zu erreichen. Florentine hatte sie nie für Federball begeistern können, da ihnen allein das Aufschlagen nicht recht gelingen wollte. Aber als Mina sich als leidenschaftliche Spielerin vorstellte, waren sie sofort Feuer und Flamme und planten, sich mit ihr darin zu messen. Genauso interessiert war Mina über ihre turnerischen Fähigkeiten. Alexander verfolgte das Gespräch mit einer Mischung aus angenehmer Überraschung und Missmut. Die Situation lieferte ihm wieder die Möglichkeit, sich in höfliches Schweigen zu hüllen.
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Tanz der Gefühle
Ficción históricaTeil 2 der Tanz-Trilogie Lieber schwelgen im Glück oder schwimmen im Geld? Mina wuchs im Reichtum des Hauses ihres Vaters auf und musste sich ihr Leben lang um nichts kümmern. Sie scheut zeitiges Aufstehen, harte Arbeit und jeglichen Mangel an Komfo...