Kapitel 10-2

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Justina hatte ihre Entscheidung gefällt. Sie würde ihre Schuld wiedergutmachen. Sie veräußerte ihr neues Kleid zum halben Preis und kratzte alles zusammen, was ihr an Ersparnissen geblieben war. Mit gutem Zureden kaufte sie einem Händler ein alterndes Pferd ab, das zwar keine wilde Verfolgungsjagd gewinnen würde, aber lange kraftraubende Märsche gewohnt war. Mit Justina auf dem Rücken kam es um einiges schneller voran als mit einem Karren voller Handelsgüter.
Sie verließ die Stadt durch das Eichenthaler Südtor und bog nach Westen in ihre alte Heimat ab. Kaum hatte sie das Tor passiert, fühlte es sich an, als gäbe es kein Zurück mehr. Und das gab es auch nicht. Ihre nächste Monatsmiete steckte in ihrem Reittier, ihr letztes bisschen Essen in den Satteltaschen und mehr als den Ring ihrer Mutter am Finger hatte sie nicht an wertvollem Besitz.
Ihr Plan war gewagt, aber konnte Erfolg haben, wenn sie die nötige Überzeugungskraft aufbrachte. Sie kehrte in ihr Heimatdorf zurück, welches ursprünglich zum Lehen der Raubmanns gehörte. Nachdem ihr Vater unehrenhaft seinen Rang verloren hatte, waren seine Besitztümer an einen neuen Baron, Herrn Bocken, gewandert. Ein unsympathischer Kerl, der keinen Hehl daraus machte, dass er die ursprünglichen Besitzer von seinem Land haben wollte.
Martin war schon vor dem Fall der Familie als Knappe an die Minnesangs vergeben worden. An einer Heirat mit Justina war kein Edelmann mehr interessiert. Eine Weile hatte sie sich im Dorf als Bedienstete durchgeschlagen. Doch es war ein seltsames Gefühl, ihren ursprünglichen Pächtern untertan zu sein. Sie wurde immer nur mit den leichtesten Aufgaben betraut, speiste mit der Familie an einem Tisch und zog sich somit zusehends den Zorn des restlichen Gesindes zu. Schlussendlich entschied sie sich, in die Stadt zu ziehen und einen Neuanfang zu wagen. Doch nun hoffte sie, dass ihr Wort noch immer Geltung in der Siedlung hatte.
Nach einem halbtägigen Ritt erreichte sie des kreisförmig angelegte Tannweiler. Der Duft unzähliger Nadelbäume schlug ihr entgegen, welche das gesamte Gebiet umgaben. Das emsige Geräusch von Holzfällerarbeiten durchbrach das Zirpen der Vögel und das Rascheln des Forsts. Von einer Kuppe aus konnte sie sehen, dass umfangreiche Abholzungsarbeiten dort unten im Gang waren.
Es betrübte sie, dass der stolze Besitz ihrer Familie ausgeschlachtet wurde. Ihr Vater hatte immer darauf geachtet, dass dem Wald nur das Nötigste entnommen wurde. Brauchte ein Bauer neues Land für seine Söhne, so konnte er sich eine angemessene Kerbe aus dem Forst herausschlagen. Alte Bäume und Totholz dienten als Brennmaterial. Doch in den rauen Mengen, in denen Bäume gefällt, zerteilt und abtransportiert wurden, konnte kein nennenswerter Sinn stecken. So viel Land konnte kein Mann in kurzer Zeit urbar machen. Abgesehen davon machte sich niemand die Mühe, die Baumstämme herauszureißen.
Sie ritt auf eine Gruppe von Holzfällern zu. Selbst die Frauen waren in die Arbeit inbegriffen, stellenweise sah sie sogar ältere Kinder, die sich unter der Last des Gewichts ihrer Tragriemen beugten. Sie erkannte zwei der Personen auf den ersten Blick. Es waren die Landmanns, eine Bauersfamilie, die seit Generationen die Felder in Tannweiler bewirtschaftete. Es verwunderte Justina, dass sie die Zeit aufbrachten, beiderlei bei der Abholzung zu sein.
„Meine Grüße, Herr und Frau Landmann." Sie stieg vom Pferd ab und führte es am Zaumzeug hinter sich her. Die beiden erkannten sie nicht gleich, aber schließlich weiteten sich ihre Augen und sie verbeugten sich.
„Fräulein Raubmann, was für eine Freude."
Sie machte eine beschwichtigende Handgeste. „Ich bin als Gleiche unter Gleichen hier. Sagt, wie kommt es dazu, dass ihr nicht auf euren Feldern seid?"
Herr Landmann trat vor, während seine Frau ihr Bündel zu den Karren schleppte. „Der Baron hat uns außergewöhnlich viele Frondienste zugewiesen."
„Was bringt es ihm, neues Agrarland zu schaffen, während das alte brach liegt?"
Er hob die Schultern. „Unsere Kinder tun ihr Möglichstes, unsere Arbeitskraft zu ersetzen. Aber Ihr habt Recht mit der Vermutung. Wir werden nicht das volle Land bestellen können."
„Das wird ihm im eigenen Beutel schmerzen, wo es doch seinen Zehnten erheblich schmälern wird."
„Das scheint ihn wenig zu kümmern. Er lässt das Holz nach Norden verladen. Womöglich bringt ihm der Erlös mehr ein, als die Bewirtschaftung unserer Felder."
Justina verzog die Lippen. „Wie geht es Euch damit?"
Sein Gesicht verdüsterte sich. „Es wird schwierig, über den Winter zu kommen, wenn der Baron nicht bald ein Einsehen hat und uns auf die Felder zurücklässt."
„Konnte der Aufseher etwas erreichen?"
„Der alte Kritzbart ist fort. Baron Bocken hat uns einen neuen geschickt, der sich um unsere Belange nicht kümmert. Ich erwäge, selbst bei ihm vorzusprechen, aber ich wage mir kaum vorzustellen, wie ich dann überhaupt noch mit der Arbeit zurande komme."
„Ihr solltet überlegen, Euch in der Stadt zu verdingen."
„Ich kann dieses Land nicht hinter mir lassen. Es ist der Hof meiner Ahnen und eines Tages will auch ich in dieser Erde begraben werden. Außerdem fehlen uns die Mittel."
„Wie wäre es, wenn nur die Frauen dorthin gingen? Die Schlepperei plagt sie doch umso mehr und mit flinken Fingern könnten sie wahrlich genug verdienen, um Euch über den Winter zu bringen."
„Der Weg in die Stadt ist ein Pfad der Ungewissheit. Wer weiß schon, ob sie eine Anstellung fände? Außerdem ein Quartier, in dem sie nächtigen kann."
„Ich hätte Arbeit für die Frauen des gesamten Dorfs", sagte Justina mit einem breiten Lächeln.
Schon kurze Zeit später hatte sich die Bevölkerung, mehrere hunderte Seelen in der Zahl, auf dem Dorfplatz versammelt. Justina platzierte sich auf einem Stapel Kisten und verkündete das Angebot Baron Kloppenburgs. Er würde jeder Arbeiterin ein gutes Auskommen und Beherbergung anbieten. Nach dem Jahrmarkt würde er das Gehalt sogar verdoppeln, sodass sie ihre Familie mühelos durch den Winter bringen könnten.
Justina kannte viele Frauen aus dem Dorf. Im Gegensatz zu Bürgerlichen, die feinere Kleidung beim Schneider im Auftrag gaben, waren sie alle darin bewandert, auch Festtagsgewänder mit Spitze und hübschen Stickereien ganz allein herzustellen. Im Vergleich zu den klapprigen Webstühlen, von denen es vielleicht ein oder zwei im ganzen Dorf gab, würden sie in der Manufaktur aufblühen, wenn jede ihren eigenen zu bedienen hatte.
Die meisten Frauen waren begeistert von dem Vorschlag und meldeten sich freiwillig und ihre Töchter gleich mit dazu. Die Leute organisierten ein Fuhrwerk und Justina karrte schon am nächsten Tag gleich fünf Frauen und drei Töchter nach Königsfels. Ihre Laune hob sich sichtlich bei diesem Erfolg. Einzig die Sache, dass Adam ihnen Unterschlupf gewähren musste, würde einen kleinen Haken darstellen. Aber ein paar konnte Justina unterbringen, einige würden bei ihm einen Platz finden und die Frauen, die härtere Umstände gewohnt waren, würden auch nicht zu zimperlich sein, in der Manufaktur selbst zu schlafen. Bei ihrer Abreise eilte ihnen der Aufseher, ein mittelalter Mann mit geradezu weibisch zeternder Stimme hinterher und befahl ihnen, abzusteigen. Doch die Frauen lachten ihn nur aus und als er eine herunterziehen wollte, beförderte sie ihn mit einem Fußtritt in den Dreck.


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