Kapitel 12-1

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Justina lenkte ihr Zugpferd nach rechts und umrundete eine kleine Kuppe. Das Fuhrwerk holperte über den unebenen Weg in Richtung Tannweiler. Heute würde sie die letzte Gruppe Frauen nach Königsfels bringen.
Mittlerweile war die Manufaktur wieder gut besetzt. Das Surren der Spinnräder und das Klappern der Webstühle erfüllten die Halle, während sich die Stoffballen türmten. Herr Webmann war nicht zurückgekehrt. Glücklicherweise waren die Frauen erfahren genug, ohne größere Hilfe Tuch und Garn herzustellen. Da sich die meisten kannten, war es auch keine große Sache, sich gegenseitig unter die Arme zu greifen.
Bezüglich ihrer Bezahlung hatten sich die Frauen generös gezeigt. Sie waren froh, Kost und Logis zu erhalten und somit zuhause keine Lebensmittel zu verbrauchen. Adam hatte sich über Justinas Hilfe mehr als gefreut, sie sogar freudig umarmt, um sich sogleich höflich wieder zu distanzieren. Sobald der Jahrmarkt vorbei und das Fortbestehen der Manufaktur gesichert war, würde sie ihn an ihre Mithilfe erinnern. Sicherlich hatte sie bis dahin seine alte Liebe Johanna aus seinem Herz vertrieben.
Es vergingen Stunden, in denen sie sich damit beschäftigte, die kühle Morgenluft zu genießen und immer wieder Ausschau nach Wegelagerern zu halten. Zwar waren ihr bisher meist nur freundlich gesinnte Menschen begegnet, doch der Teufel schlief nie und womöglich erwartete sie gerade dann eine Gruppe Banditen, wenn sie am wenigsten damit rechnete. Doch niemand behelligte sie, bis sie auf den Weg nach Tannweiler einbog.
Es war überraschend still, kein Holzfäller im Wald, kein Bauer auf den Feldern. Womöglich eine Dorfversammlung, doch auch auf dem Dorfplatz konnte sie nichts ausmachen. Die letzten Tage hatten die arbeitswilligen Frauen bereits in Reisekleidung und bepackt mit dem Notwendigsten auf sie gewartet.
Sie fuhr bis vor den Hof der Landmanns, als sie ein Geräusch vernahm. Zwei Männer kamen von vorne. Einer war der Aufseher des Dorfs, der andere ein einfacherer gekleideter Geselle mit einem Knüppel bewaffnet. Sie wendete das Fuhrwerk, doch auch hinter ihr war ein Mann aufgetaucht, der das Pferd beim Geschirr hielt und zum Stehen zwang.
„Was wollt ihr von mir? Ich habe nichts mit euch zu schaffen!"
„Steigt vom Kutschbock ab, sonst holen wir Euch herunter", antwortete der Aufseher, worauf sein Gefährte die Worte mit einem Schlag des Knüppels in die offene Hand unterstrich. Sie fügte sich und einer der beiden drehte ihr die Arme auf den Rücken.
„Ihr seid angeklagt, den Frieden dieser Siedlung gestört zu haben. Der Baron wird heute über Euch richten."
„Das kann nicht Euer Ernst sein?"
Der Aufseher lachte selbstzufrieden. „Dachtet Ihr wirklich, Ihr könntet dem Baron ungestraft seine Arbeitskräfte rauben?"
Sie spuckte ihm ins Gesicht, worauf er ihr eine langte. Hiernach wurde sie in sein Haus abgeführt. Nach und nach kehrten die Bewohner aus ihren Häusern und sahen ihr betroffen nach. Einige Wenige wollten eingriffen, doch sie schüttelte energisch den Kopf. Noch hatte sie kein Gesetz gebrochen. Bocken mochte sie bedrohen, aber rechtlich fehlte ihm die nötige Handhabe. Wenn es zu Ausschreitungen gegen den Aufseher kam, dann würde er sie als Aufhetzerin anklagen.
Man behandelte sie nicht schlecht, gab ihr einen Sitzplatz, wo sie ausharren musste. Bocken ließ nicht lange auf sich warten. Dieser Übergriff war von langer Hand geplant gewesen. Mit einem süffisanten Grinsen betrat er das Haus.
„Fräulein Raubmann, wie ich sehe, vermisst Ihr Eure Heimat."
„Gäbe es Euch nicht, vielleicht etwas mehr."
Er setzte sich ihr gegenüber. „Wie kamt Ihr auf die irrsinnige Idee, meine Leute karrenweise auszuführen?"
„Ich las das Bedürfnis aus ihren ausgemergelten Gesichtern."
Er schlug die Beine übereinander und lehnte sich zurück. „Eine Volksheldin – eine Befreierin."
„Im Vergleich zu einem Tyrannen mag man mich so nennen."
Seine kühle Gelassenheit fiel von ihm ab und mit einem Mal sah er sie wütend an und schlug auf den Tisch ein. „Ihr werdet mir sagen, wo Ihr diese Weibsbilder hingebracht habt!"
„Wollt Ihr sie etwa zur Rückkehr zwingen?"
„Wenn nötig, reiße ich sie an den Haaren hierher."
„Ihr überschreitet Eure Rechte. Allein mich hier einzusperren, wird Euch teuer zu stehen kommen." Sie sagte das so überzeugt wie möglich. Die Rechte des Herzogtums waren verworren und undurchsichtig, unterlagen ständigen Änderungen und manches Mal erließen Grafen auch ganz eigene Gesetze auf ihrem Territorium. Justina war in der Rechtsprechung kaum bewandert und hoffte darauf, dass die Regeln hierzulande der Logik folgten.
„Was ich hier auf meinem Land tue und lasse, ist meine Sache."
Sie verschränkte die Arme. „Auch Ihr steht nicht über dem Gesetz des Herzogs."
Er nickte langsam mit Unheil prophezeiender Miene und sah zu seinem Aufseher herüber. „Wenn ich den zwei Knechten nun befehle, diese Frau halb zu Tode zu prügeln – sicher wärt Ihr auch der Ansicht, sie habe mich angegriffen und diese Strafe wäre angemessen?"
Der Aufseher nickte mit breitem Grinsen und Justina fühlte, wie ihr das Blut aus dem Gesicht lief. Bocken drehte sich wieder zu ihr. „Ihr seht, Teuerste, das Gesetz mag gelten, doch wo kein Zeuge, da kein Richter. Wenn Ihr mir Probleme macht, werde ich immer einen Weg finden, Euch dafür büßen zu lassen. Im notwendigsten Fall werden andere für Euch leiden. Könnt Ihr das mit Eurem Gewissen ausmachen? Würdet Ihr es Euren Freundinnen verschweigen, wenn ich ihre Männer jeden Tag auspeitschen ließe, da sie nicht zurückkehrten?"
Justina sah ihren wundervollen Plan wie Butter in der Sonne verrinnen. Bocken war ein Schuft und er würde alle erdenklichen Mittel einsetzen, um sie zu erpressen, ihm willens zu sein. Selbst wenn sie heute entkäme, wären die Arbeiter nicht sicher. „Also gut, Ihr habt gewonnen."
Er lächelte erfreut. „Wo befinden sie sich?"
„Wenn ich mit Euch kooperiere, erwarte ich, dass Ihr den Frauen kein Haar krümmt."
„Wie ich mit den Leuten verfahre, obliegt meiner Entscheidung. Sie werden mich für ihr Fehlen entschädigen. Sicher haben sie in der Stadt gutes Geld verdient, um Ihre Säumigkeit auszugleichen."
„Ihr seid widerlich."
„Freundlichkeit hat sich noch nie in bare Münze gewandelt."
„Lasst mich sie wenigstens persönlich zurückbringen."
„Ihr habt drei Tage."
„Das ist Wahnsinn!"
„Andernfalls werde ich nach eigenem Ermessen Maßnahmen ansetzen. Beweist Eure Heldenhaftigkeit. Vielleicht geht Ihr sogar so weit, selbst für die Schulden Eurer Mittäter aufzukommen." Er wies ihr die Tür und mit hängenden Schultern ging sie hinaus. Eine Menschentraube umgab sie binnen kürzester Zeit, doch gleich war Bocken hinter ihr und wies die Männer und Frauen an die Arbeit zu gehen.
Als sie in Begleitung der zwei Knechte zu ihrem Fuhrwerk zurückkehrte, hörte sie das ferne Trappeln von Hufen. Zweierlei Kutschen mitsamt einem kleinen Gefolge fuhren den Hang hinunter direkt auf die Siedlung zu. Justina sah ihnen überrascht entgegen, Bockens Gesicht erblasste. Das Herrschaftssymbol der Grafenfamilie prangte auf den Kutschen. Gerade wollte man sie zurückhalten, da preschte sie bereits vor und lief ihnen entgegen. Allein mochte Bocken ihr überlegen sein, aber in Anwesenheit eines Höhergestellten konnte er nicht schalten und walten, wie er es wünschte.
Die Delegation hielt und unter Zuhilfenahme der Bediensteten verließ ein Pärchen mitsamt einer weiteren Frau in den Kleidern einer Magd die Kutsche. Die zwei ersten mussten ihrer prachtvollen Gewänder wegen der Graf und die Gräfin sein. Justina verneigte sich tief vor ihnen. Überraschenderweise kamen die drei direkt auf sie zu.
„Ihr müsst Fräulein Raubmann sein", meinte die Gräfin mit einem Deut auf das Fuhrwerk.
Justina blinzelte verwirrt und nickte, worauf sich die zwei kurz vorstellten.
„Wir suchen eine Mitfahrgelegenheit für unsere Freundin in die Stadt."
Sie stellte das Warum gar nicht erst in Frage. Perplex bot sie der weiteren Frau einen Platz auf dem Kutschbock an. Nun hatte sie etwas gut bei ihnen. „Es wäre mir eine Ehre, Euch dienlich zu sein, Eure Exzellenz."
„Selbstverständlich würden wir Euch hierfür entlohnen." Der Graf klaubte einige Münzen aus dem Beutel, doch Justina schüttelte den Kopf.
„Ich danke Euch vielmals, doch zum Dank wünschte ich mir viel eher Euren Beistand. Seht, ich führe einige der Frauen des Dorfes in die Stadt, damit sie einer Tätigkeit nachgehen können, die sie über den Winter bringt. Doch der Baron verweigert mir das und fordert, ich möge die Leute zurückbringen oder mir und ihnen erführe ein Leid."
Graf Arling verzog unwillig den Mund, doch seine Frau sah ihn mit energischem Blick an, worauf sie ein kurzes Blickduell fochten, welches sie wohl für sich entschied. „Bocken, würdet ihr kurz zu uns kommen!", rief der Graf, worauf Bocken sich mit unsicherem Schritt näherte.
„Mit Verlaub, Eure Exzellenz, das hier ist meine Angelegenheit und ich sehe keinen Grund, warum Ihr Euch in meine Gerichtsbarkeit einmischen solltet", sagte Bocken.
„Ihr habt Recht, Bocken." Der Graf legte Johanna die Hand auf die Schulter. „Doch ich denke, Ihr seid uns noch einen Gefallen schuldig, für unsere Schweigsamkeit."
„Denselben, den Ihr mir für meine schuldet", erwiderte Bocken schneidend.
„Wollt Ihr mir wahrlich drohen? Im Angesicht all dieser Untergebenen, die Eure Herrschaft sicherlich bereits infrage stellen?" Wie als Kommentar zu seiner Aussage, rückten die Bewohner näher und hörbares Murren kam unter ihnen auf. Bocken sah mit verkniffenen Augen über die Schulter zu seinen zwei Knechten.
„Dieses Mal sind wir in der Überzahl, mein Freund", raunte der Graf ihm zu.
„Was fordert Ihr?"
„Freies Geleit für Fräulein Raubmann und jede Frau, die sie begleiten möchte. Ihr beutet diese Menschen aus, das mag Euer Recht sein, aber Ihr könnt ihnen nicht die Möglichkeit nehmen, ihr nacktes Überleben zu sichern."
Bocken machte einen unwilligen Wink. „Es sei."
Graf Arling wollte sich schon zufrieden abwenden, aber seine Frau hielt ihn am Ärmel fest. „Zudem", sagte sie, „werden wir einen Aufpasser unserer Hand hier bis zum Ende des Jahres zurücklassen. Er wird uns Bericht erstatten, ob Ihr auch Wort haltet."
„Ich werde kein weiteres Maul aus meinem Beutel stopfen!"
„Wir werden für sein Auskommen sorgen." Die Miene der Gräfin war unumstößlich und so hasserfüllt der Baron sie auch anstierte, schließlich knickte er ein. Er rief die Umstehenden ein weiteres Mal zur Arbeit, ehe er sich zurückzog. Justina danke den beiden überschwänglich, ehe sie sich mit einer Handvoll Frauen eiligst auf den Weg machte.
Auch wenn sie die Unterstützung des Grafen hatte, so wollte sie keinen weiteren Ausflug mehr dorthin unternehmen. Bocken würde vor Wut brodeln und sie hatte nicht vor, am Ende eines unglücklichen Todes durch Banditen zu erliegen, die ihr zufällig auflauerten. Als sie in sicherer Entfernung der Siedlung waren, nahm sie ihre Begleiterin genauer in Augenschein. Es war eine hübsche Frau, zwar gekleidet wie eine Bedienstete, aber mit der Haltung und Ausstrahlung einer Edlen.
„Darf ich nach Eurem Namen fragen, Fräulein?"
„Johanna", erwiderte sie höflich, worauf sich Justina die Kehle zuschnürte.
„Johanna und weiter?"
„Johanna Jeverbruch."
Sie war versucht, die Frau vom Kutschbock zu werfen und rasch Reißaus zu nehmen. Was für ein unglückseliges Schicksal, dass sie just in dem Moment, da sie sich Adam sicher war, ihm seine Liebe persönlich ablieferte.


Tanz der GefühleWo Geschichten leben. Entdecke jetzt