Kapitel 1-1

181 17 37
                                    

Martin erklomm die mit Teppich belegten Stufen zum Obergeschoss. Hoffentlich war sie bereits wach. Einen schlafenden Löwen zu wecken, erschien ihm unklug. Aber welche Wahl hatte er, wenn der Hausherr es ihm befahl? Für gewöhnlich verlangte der Baron derlei nicht von ihm. Die Bedienung Minas oblag den Kammerzofen. Doch Adelheid bediente gerade die Herrin Minnesang, Theresia wurde früh zum Einkaufen geschickt und Maria lag mit Fieber im Bett – die Glückliche.
Er klopfte vorsichtig an die Tür zu ihrem Schlafsaal und legte das Ohr an das polierte Holz. Nichts rührte sich im Inneren. Unter dem Türspalt drang kein Licht hervor, obwohl es helllichter Tag war. Martin strich sich das Hemd glatt und schnürte seine Bundhose nach. Mit den Fingern richtete er sich die Haare. Mit einem Seufzer öffnete er die Tür einen Spaltbreit.
Das Zimmer war von stickiger Wärme erfüllt, der Boden von Minas Abendgarderobe bedeckt und der strenge Geruch des Nachttopfs waberte in der Luft. Durch den Schleier des Himmelbetts machte Martin die Tochter seines Herrn aus. Mina schlief seitlich vom Fenster abgewandt, eines ihrer vielen Polster einen Geliebten gleich umarmend. Ein Bein streckte sie unter der Decke hervor, eine Unterarmlänge nackte Haut offenbarte sich durch den hochgeschobenen Unterrock.
„Mina?", fragte er leise, um sie nicht zu erschrecken.
Keine Regung. Er trat näher an das Bett heran und legte den Deckel auf den Nachttopf. Er brauchte frische Luft, doch einen kühlen Hauch hineinzulassen, könnte ein Gewitter provozieren. Er tippte sie mit dem Zeigefinger an, als wäre sie ein Tier, welches er auf Lebenszeichen kontrollierte. Minas Körper ruckte vor seiner Berührung zurück, doch sie behielt ihr gleichmäßiges Atmen bei. Martin stellte sich Herrn Minnesang vor, wie er ihn maßregelte, dass er es nicht zustande brachte, dessen Tochter aus dem Bett zu holen. Dabei verlangte er ihm eine Aufgabe ab, die er sich mit Sicherheit nicht einmal selbst zutrauen würde. Wer wollte schon freiwillig einen Stier am Schwanz ziehen?
Er rüttelte sie sanft, worauf sie ihren Körper zusammenkugelte. „Lass mich in Ruhe, Maria."
Martin hob die Schultern und schüttelte erneut. „Du sollst mich in Ruhe lassen!" Sie drehte sich halb zu ihm und öffnete die Augen einen Spaltbreit. „Martin, was suchst du in meinem Zimmer?" Doch die Überraschung reichte nicht aus, sie aus ihrem Schlaf zu holen.
„Dein Vater verlangt, dass du aufstehst."
„Er kann mir gestohlen bleiben."
„Dein Widerwille wird auf mich zurückfallen."
Ein unwilliges Stöhnen folgte. „Du solltest mich mehr fürchten, als meinen Vater."
Da hatte sie grundsätzlich Recht. Ihrer Art nach war sie furchterregender, aber Herr Minnesang konnte ihn vom Hof jagen. Von Mina war das nicht zu erwarten. Er straffte sich und krempelte die Ärmel hoch. Er stellte sich seinen Vater vor, wie er mutig im Verband der Kürassiere vorpreschte. Die Läufe der Feinde waren auf ihn gerichtet, doch ungeachtet des nahenden Kugelhagels trieb er sein Pferd zu größerer Geschwindigkeit an. Sein Säbel hob sich, um in die Reihen seiner Gegner zu schlagen.
Martin musterte ihren heutigen Feind, gegen den es galt, unerschrocken ins Feld zu ziehen. Sie hatte ihre kupferroten Haare geflochten. Schon jetzt freute er sich auf die Lockenpracht, die sich über ihren Rücken ergoss, sobald sie die Bänder löste. Ihre zarte Stupsnase und die langen Wimpern übertünchten ihre befehlshaberische Wirkung, die sie in wachem Zustand an den Tag legte. Martin ergriff die Decke und zog sie mit festem Ruck zu sich heran. Mina drehte sich mit dem Bündel und indem er Stiefel auf die Bettkante stellte, verhinderte er, dass sie aus dem Bett herausrollte.
„Gib mir sofort meine Decke wieder, du Idiot!"
„Ich muss dir diesen Wunsch leider abschlagen, Mademoiselle."
Sie stemmte sich in die Höhe und stieß den Stiefel von ihrem Unterkleid. Entsetzt betrachtete sie den braunen Fleck, den er darauf hinterlassen hatte. „Bist du von Sinnen? Mich mit deinen dreckigen Latschen zu berühren?"
Martin biss sich auf die Unterlippe. „Das nächste Mal lasse ich dich aus dem Bett fallen."
„Das nächste Mal bleibst du aus meinem Zimmer! Was erlaubst du dir, die Räumlichkeiten einer Dame zu betreten?!"
„Was der Herr befiehlt, das erledige ich auch."
„Deine Herrin befiehlt dir, verschwinde sofort!"
„Sobald meine Herrin dem Befehl ihres Vaters nachgekommen ist und aufsteht." Er legte die Decke über der Lehne eines gepolsterten Sessels ab und verschränkte die Arme. Mina stöhnte genervt und richtete sich auf. Martin wandte den Blick von ihr ab. Ihr Kleid war verrutscht und entblößte beinahe ihre Brust. Zwar waren sie Freunde – irgendwie – und standen über derlei Dingen, aber er wollte ihr keinen neuerlichen Grund geben, sich aufzuregen.
„Zufrieden?" Sie streckte ihm die Hände entgegen.
Er verneigte sich wie vor seinem General und ging zur Tür.
„Warum stinkt es hier so?"
„Du hast deinen Pisspott nicht geschlossen."
Sie rümpfte die Nase. „Du hast ihn noch nicht geleert!"
Martin ließ die Schultern hängen. Es war erniedrigend genug, den Nachttopf seines Herrn zu leeren. Aber Minas vor ihren Augen emporzuheben, war zu viel des Guten. Er war der Sohn eines einst stolzen Rittergeschlechts. Sein Vater hatte ihn als Knappen hierhergeschickt. Doch sein hauptsächliches Tagwerk umfasste die Aufgaben eines Knechts.
„Also?"
„Das zahle ich dir heim." Flinken Schritts schnappte er sich den Porzellankrug und war zur Tür hinaus.
„Bring mir heißes Wasser mit!", rief sie ihm nach.
Den Rest des Morgens verbrachte er mit ähnlichen Tätigkeiten. Mina war erbarmungslos. Kaum hatte er ihr Wasser gebracht, musste er ihr in ihre Kleider helfen, die Haare frisieren und ihr zu Essen bringen. Bei Tisch zu speisen, war unter ihrer Würde. Martin sah bereits ein Donnerwetter über ihm aufkommen. Denn obwohl Baron Minnesang den Aufwand kannte, seine Tochter zu bedienen – die Baronin forderte eine ähnliche Aufmerksamkeit – würde er Martin tadeln, dass er seine sonstigen Pflichten vernachlässigte. Holz gehörte geschlagen, die Waffe des Herrn geschärft, der Stall ausgemistet – und neben all diesen Tätigkeiten musste er sich selbst im Waffengang üben, die Jungpferde zureiten und die Arbeit der Tagelöhner kontrollieren.
„Was will mein Vater überhaupt von mir?"
Martin hatte er natürlich keine genaue Auskunft gegeben. Dem Gerede des Gesindes nach erwarteten sie in Kürze hohen Besuch. Wahrscheinlich wollte der Baron seine Tochter darüber instruieren, wie sie sich zu verhalten hatte.
„Baron Lanzbruch wird in zwei Tagen hier eintreffen. Ich nehme an, dein Vater erwartet, dass du dich entsprechend vorbereitest."
„Lanzbruch? Wird sein Sohn mitkommen?", fragte sie aufgeregt.
Martin verdrehte die Augen. Er musste zusehen, dass er der Verpflichtung entging, ihr die Nägel zu kürzen, die Haare zu schneiden und sie am Ende noch zu baden. Letzteres mochte ein äußerst reizvoller Gedanke sein, würde gleichwohl aber seinem Rauswurf Vorschub leisten. Als ob Mina sich ihm gegenüber nackt zeigen würde. Derlei Tage ihrer Kindheit waren längst vorbei.
„Martin, geht es dir gut? Du bist rot wie eine Tomate."
Martin schüttelte den Kopf. „Wenn das alles wäre?"
Er sah flehentlich zur Tür und schließlich erbarmte sie sich seiner mit einem Deut zum dreckigen Geschirr. „Nimm das mit nach unten auf dem Weg." Sie schenkte ihm ein entschuldigendes Lächeln und er erwiderte es. Manches Mal fiel ihr doch noch ein, dass sie den Jungen mochte, der über all die Jahre zu ihrem Untergebenen herangewachsen war.
Er eilte die Treppe hinunter. Vielleicht schaffte er es noch, seine Übungen mit Julis zu absolvieren. Baron Minnesangs Stimme rief nach ihm aus dem Salon: „Martin! Ist meine Tochter fertig?"
„Ja, Herr, sie ist gekleidet und hat bereits gespeist."
„Gut gemacht, Junge."
Martin hörte die schrille Stimme der Baronin, die ihrem Mann etwas zuflüsterte. „Ach und sage dem Kutscher, er möge die Pferde anschirren. Mina muss zum Bader, der sie für den Besuch unseres Nachbarn entsprechend vorbereitet."
„Sehr wohl, mein Herr."
„Ach und Martin."
Martin stieß einen leisen Seufzer aus. „Ja, Herr?"
„Wir brauchen eine Menge Feuerholz. Die Lanzenbruchs sollen es warm haben. Kümmere dich sofort darum."
„Dürfte ich zuvor meine Übungen mit Junker Julis machen?"
„Mein Sohn soll seine Zeit mit so etwas nicht verschwenden! Erledige deine Pflichten. Wenn du rechtzeitig fertig wirst, so magst du die Abendstunden nutzen, um dich deiner Ausbildung zu widmen."
Martin ballte die Hand hinter dem Rücken zur Faust und verneigte sich vor dem Baron. „Ich eile, mein Herr."
Er lief hinaus und informierte den Kutscher wie befohlen, der sich seines tristen Schicksals beklagte. Martin sparte es sich mit einzustimmen. War er erst mit dem Holz fertig, so würden ihm die Hände schmerzen und er könnte kaum einen Degen halten, geschweige denn einen guten Schuss abfeuern. Julis würde ihm Vorhaltungen machen, dass er sich nicht an ihre Verabredung hielt. Und selbst wenn er seine Aufgabe zeitgerecht erfüllte, so hätte der Herr sicher eine ellenlange Liste an weiteren Diensten, die er ihm noch vor dem Zubettgehen überstülpen würde. Der Tag hatte schlecht begonnen und eine Besserung war nicht in Aussicht.
Er schulterte die Axt und machte sich auf in den Forst, wo er aus der Ferne das Hacken der Tagelöhner hörte. Er rief sich Minas Lächeln ins Gedächtnis und die Zuversicht wuchs, dass er mit emsigen Willen all das zu stemmen vermochte.


Tanz der GefühleWo Geschichten leben. Entdecke jetzt