Kapitel 3-3 Jäger und Gejagte

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Frisch gebrühter Kaffee erwärmte Marys Hand, als sie im Fahrstuhl stand und nach unten fuhr. Den gesamten Tag versuchte sie sich nun schon abzulenken. Seit dem Abflug quälte sie der Gedanke, sich vernünftig vorstellen zu müssen, doch sie hatte sich bis jetzt erfolgreich ablenken können.
Gestern hatte sie sich in Lektüren und Bedienungsanleitungen geflüchtet. Das war so effektiv gewesen, dass sie sogar das Gespräch mit Kaleria vergessen hatte. Dafür verstand sie jetzt, wie sie ihr ACom zu bedienen und dessen vielfältige Funktionen zu benutzen hatte, und das auf Kosten von lediglich zwei Kopfschmerztabletten. Ein gutes Angebot, befand Mary stumm für sich.
Der heutige Tag hatte mit einem gemeinsamen Training begonnen, in dem Kaleria mal wieder zeigte, wie unglaublich fit sie eigentlich war. Der Plan, mit ihr Zeit zu verbringen, verlief im Sande, als sie eröffnete, dass sie ein paar private Dinge zu erledigen hatte.
Daraufhin suchte sich Mary weitere Ablenkung bei Takeo, der sie in moderner Technik und Steuerungsmöglichkeiten unterrichtete: das Bedienen von unsichtbaren Anzeigen und Hebeln mittels AR-Visier. Mary's Körper war noch lange nicht an diese Technologie gewöhnt, die die Wirklichkeit zu verändern vermochte. Die Dreidimensionalität schlug ihr auf den Magen, so hätte sie sich beinahe übergeben und damit Takeos Ledersessel ruiniert.
Nach einer Wärmeflasche und aufmunternden Worte von Takeo begab sie sich zum Wartungsdeck. Dort half sie Willie beim Warten der Trinkwasseraufbereitungsanlage. Die gesamte Filteranlage wurde von ihnen in kürzester Zeit in ihre Einzelteile zerlegt. Nach der Reinigung und dem darauf folgenden Zusammenbau war zumindest Willie fertig für heute. Somit blieb Mary noch die Wahl zwischen dem Treffen und unangenehmer Bürokratie, und Mary hatte sich für den Amtsschimmel entschieden. Doch selbst der gigantische Datenberg auf ihrem Arbeitscomputer war nicht groß genug, um sie die ganze Zeit über beschäftigen zu können. Nun, eigentlich schon, aber sie hatte keine Lust darauf. Bürokratie schaffte es immer, sie mit der Weile in die Arme von noch unliebsameren Arbeit zu treiben. Also nahm sie ihren Mut zusammen, brühte sich einen Kaffee auf, und stand nun im Aufzug.
Als sich die Türen öffneten, lag vor ihr der ausladende Frachtraum der Spearhead. Dunkel war er gewesen, und das einzige Licht im Raum flimmerte, kam einer Reihe von Bodenstrahlern, die den Weg zum Shuttleplatz wiesen. Während Mary dem Pfad folgte, erwachten immer mehr Lampen zum Leben, bis die Hangarhälfte angemessen beleuchtet war. Die andere Hälfte des Shuttles diente als Frachtraum und war vollgepackt mit magnetisch arretieren Kisten, die Essen, Munition und sonstige Güter hielten.
Mary ließ ihren Blick durch den Hangar streifen, erkannte einen leeren Shuttleplatz und Lichter, doch nirgends war das blaue Alien zu sehen. Mit unsicheren Schritten näherte sie sich dem Transporter. Vielleicht war es ja im Fahrzeug und schraubte an was rum? Die Schiebetür des Flugzeugs stand offen, also streckte Mary den Kopf hinein, fand dort aber bloß in Dunkelheit gehüllte Sitzreihen vor. Erleichterung breitete sich in ihr aus. Zumindest so lange, bis sie sich umdrehte und in die schwarz-violetten Augen des Aliens starrte. Die Schnauze war direkt auf Mary gerichtet und der Mund war zu einem grotesken Grinsen verzogen. Bevor das Wesen auch nur eine Chance hatte, etwas zu sagen, stieß Mary einen erstickten Schrei raus und rammte ihren Ellbogen in den Oberkörper des Aliens. Aus einem Reflex heraus sprang Mary in das Shuttle, um Deckung und Distanz zu gewinnen. Krachend fiel der Werkzeugkasten auf den Boden, den das Alien bis eben in der Hand hatte. Es stieß einen Schrei aus, oder einen Ausdruck, den der Übersetzer von Marys Körperimplantat nicht entziffern konnte. Daraufhin erkannte Mary, dass der Metallkasten auf dem Stiefel des Aliens eingeschlagen war. Gestützt von seinem linken Bein und seiner Schwanzflosse, hob er den rechten Fuß hoch und gab unidentifizierbare Geräusche von sich.
Da fiel es Mary mit einem Mal wie Schuppen von den Augen. Sie hatte von der fremden Rasse nur negative Aufnahmen im Kopf. Bilder, in denen sie ihre scharfen Zähne in das Fleisch von menschlichen Soldaten rammen, und sie Kinder exekutieren. Doch Mary wusste es besser - auch Menschen waren unterschiedlich. Sie gleichzusetzen war ein bekanntes Problem. Es gab gute, wie schlechte Wesen, weshalb sie sich dazu zwang, ihre falschen Erinnerungen beiseitezuschieben. Nun sah sie das Wesen vor ihr mit anderen Augen, gänzlich ohne Angst, ohne Vorurteile. Reue breitete sich in ihrem Bauch aus, als sie ihren Blick auf den verletzten Fuß des Aliens fallen ließ. Mary war für den Unfall verantwortlich.
„Es tut mir so leid!", rief sie und bewegte sich mit festen Schritten auf das Alien zu. „Setz wir dich erstmal hin, da drin sind genügend Sitze."
Das Wesen protestierte nicht, als Mary ihre Schulter als Stütze anbot. Das Alien stabilisierte sich auf Marys Schulter, die daraufhin ihren Arm um dessen Rücken schlang und es problemlos stützte. Denn ganz im Gegensatz zu Kaleria, besaß dieses Alien zur Abwechslung mal die gleiche Größe, wie Mary selbst.
Während die beiden langsam in das Shuttle marschierten, war Mary bemüht, ihm nicht noch mehr Schaden zuzufügen, indem sie es fallen ließ. Das gestaltete sich als schwierig, so war die Haut des Aliens so rau wie die Oberfläche eines Haies, und genauso glitschig. Bei dem Gedankengang schossen Mary plötzlich Erinnerungen in den Kopf, in denen sie Fische mit bloßen Händen gefangen hatte.
Mary blinzelte. Im Schein der Strahler schienen die weißen Flächen, am Oberkörper des Aliens, regelrecht aufleuchten.
Schließlich kamen sie im Shuttle an und das Alien ließ sich in den Pilotensessel fallen. Geschickt wand es seinen Schwanz durch das Loch in der Rückenlehne. „Ich muss mich entschuldigen. Ich wollte Sie nicht erschrecken", antwortete das Alien in einem vermeintlich reuevollen Ton. Sein Schwanz bewegte sich in fließenden Bewegungen hinter dem Sitz, die an die Gestik eines zufriedenen Katzenschweifs erinnerten.
Mary setzte sich auf den Platz des Copiloten und trocknete sich die Hände an der Trainingshose. „Es war unpassend von mir, so zu reagieren. Es sind nur ...", sie tippte ihren Kopf an, „diese Erinnerungen, die nicht mal mir selbst sind. Sie zeigen euer Volk in einem weniger positiven Licht."
Helligkeit erfüllte das Cockpit, als das Alien die Innenbeleuchtung und Armaturen des Shuttles aktivierte. Seine Hände waren schlank, mit vier Finger und Krallen, wobei die Handflächen in Weiß strahlten, während der Rest in Blau gehalten war. Mary realisierte, dass sie schlechte Karten hatte, wenn sie jemals gegen ein Alien in den Kampf ziehen musste.
„Diese Praktiken gibt es auch im kalarianischen Reich. Eine Methode, um Hass auf Aliens schon in der Frühphase des Schwimmens zu gewährleisten." Mit zwei schnellen Handgriffen zog es seinen rechten Stiefel aus und inspizierte seine langen Zehen. „Gut erwischt, das wird lila werden heute Abend."
Mary erkannte einen kleinen grünen Fleck auf den mittleren Zehen.
„Zum Glück war es nur der Elektronikkoffer. Der ist leichter." Sein Mund verzog sich wieder zu dem grotesken Grinsen, wie zuvor, sein Schwanz ruhte jedoch auf dem Boden.
Offenbar war es glücklich darüber, Mary zu sehen? Nach kurzem Zögern stand sie schließlich auf und hielt ihm die Hand hin. „Eigentlich bin ich gekommen, um mich vorzustellen. Nicht um Verletzungen auszuteilen. Ich bin ...", ihre Hand wurde ergriffen und sie unterbrochen.
„Hauptmann Maria Erika Schneider, das medizinische Wunder. Die Basis kennt Sie, die bekannte Galaxie kennt Sie. Der Erfolg der Medizin, Sie aufzutauen ist bekannt und die Pressekonferenz wurde galaxieweit ausgestrahlt."
Marys Wangen erröteten vor Scham, so hatte sie es noch nie gemocht, im Mittelpunkt zu stehen, auch wenn ihr Verhalten oft dazu führte.
„Ich bin Hauptrottenführer Liotok Tere'ekakush, männlicher Kalarianer. Bürger der Kalari-Union und Ehrenbürger des antianischen Reiches."
Nach dem Händedruck verblieb Marys Hand komplett durchnässt und offenbar hatte er diesmal bemerkte, dass sie sich die Hand an der Hose abwischte.
„Keine Angst, Kalarianer schwitzen nicht wie eure Rasse oder die Antianer." Er strich mit der Handkante über die Rillen eines muskulösen Oberkörpers. Wasser tropfte daraufhin an seiner Hand hinab. „Unsere Rasse muss die Haut befeuchten, entweder von außen oder innen. Es ist geruch- und geschmacklos."
Mary war sich unsicher, ob sie die letzte Information wirklich wissen wollte. Liotok schien ihre Mimik zu interpretieren zu können, und nervös fing sein Schwanz damit an, fließende Bewegungen zu vollführen. Während Marys Kopfweh aufs Neue einsetzte. Mit fremden Spezimen zu reden, war unglaublich anstrengend, ohne Wissen über deren Kultur oder Körpersprache zu besitzen.
Auf einmal fletschte Liotok seine spitzen Zähne und schaute sie interessiert an. „Wenn sie aus der Vergangenheit kommen, ist das hier alles neu für sie." Liotok drehte den Sessel in Richtung des Armaturenbrettes. „Haben Sie vielleicht Lust, etwas über Raumjäger und Shuttle zu lernen?" Mary war zuerst erschrocken, doch bemerkte sie schnell an dem Verhalten von Liotok, was das Flechten der Zähne wirklich zu bedeuten hatte. Sie hatte zwar wieder Kopfweh und heute auch schon genug gelernt, aber sein Angebot wollte sie trotzdem nicht ablehnen. Scheinbar schien es ihm wichtig zu sein, ihr etwas beizubringen? Mit einem Grinsen wandte sie sich den Anzeigen zu, strich sich dabei eine Strähne aus dem Gesicht. „Mit was fangen wir an?"

2091: Die CryosoldatinWo Geschichten leben. Entdecke jetzt