Mary fühlte sich erschöpft. Die letzten Tage waren für sie wie ein Kampf gegen eine endlose Armee. Jedes Mal, wenn sie dachte, dass sie etwas verstanden hatte, kam schon das nächste Thema. Ihr Kopf pochte, als hätte sie einen Puls von 200 – und das war ihre eigene Schuld, weil sie keine Kopfschmerztabletten mehr genommen hatte. Andererseits konnte es auch nicht gesund sein, sich Tag und Nacht mit diesen Dingern vollzustopfen.
Mary lag ausgestreckt in ihrem Bett, gefühlt schon seit mehr als einer Stunde. Sie trug immer noch ihre verschwitzte Trainingskleidung, aber das war ihr egal. Sie brauchte Ruhe. Ein Mensch kann sich nur bis zu einem gewissen Punkt überfordern. Irgendwann sagt das eigene Gehirn, dass nun Schluss ist – egal, ob Kaleria ihr wieder etwas beibringen will, Takeo etwas erklären möchte oder Liotok etwas zeigen.
„Kaleria, Mary, kommt bitte mal her. Wir haben Empfang", dröhnte Takeos Stimme aus den Lautsprechern.
Verdammt nochmal, sie wollte gerade nur zwei Stunden Ruhe haben. Das wären die einzigen zwei Stunden Ruhe gewesen, die sie seit dem Aufwachen gehabt hätte. Mary war sich unsicher, ob sie kurz davor stand zu weinen oder einen Wutanfall zu bekommen. Die Träne, die über ihre Wange lief, beantwortete ihr die Frage. Sie atmete daraufhin mehrmals tief ein und aus – eine Methode, die sie in den letzten Tagen oft angewendet hatte. Danach war ihr Geist wieder auf die Aufgabe fokussiert, die vor ihr lag. Mary ließ sich nicht hängen. Man konnte sich hängen lassen, wenn niemand anderes davon betroffen war, aber in ihrem Fall war jemand betroffen. Und zwar ein Agent, den sie geschworen hatte, zu retten. Mit neuer Energie, wenn es auch eher aus den Notreserven kam, rollte sie aus dem Bett, wischte sich über das Gesicht und machte sich auf den Weg. Die Trainingskleidung behielt sie allerdings an – darauf hatte sie wirklich keine Lust.
Kurz darauf betrat Mary das Cockpit, nachdem sie sich zuvor kaltes Wasser ins Gesicht gespritzt hatte. Takeo saß wie immer im Pilotensessel, während Kaleria den Kopilotensessel besetzte. Beide trugen diese AR-Visiere, die auch als Headset fungierten. Bevor Mary überhaupt jemanden begrüßen konnte, hielt Takeo ihr bereits eines dieser Geräte entgegen.
„Kaleria führt gerade Tests durch, bevor wir die Verbindung herstellen. Setz dich ruhig", sagte Takeo, während er ordentlich in seinem Sessel saß und seine Hände vor sich in der Luft bewegte. Kaleria tat dasselbe, allerdings weniger hektisch. Dabei murmelte sie vor sich hin, und Mary konnte Wörter wie "Signalfrequenzverstärkung" und "Sicherheitsparameterkontrolle" heraushören. Sie versuchte, die Wörter so schnell wie möglich wieder aus ihrem Kopf zu verdrängen.
„Takeo, könntest du bitte grob erklären, was ihr da macht?", fragte sie. „Nur in groben Zügen."
Takeo grinste und führte eine wischende Bewegung mit beiden Händen in Richtung Kaleria aus, bevor er sein Visier absetzte. Kaleria schien auf einmal hektisch zu werden und intensiver zu arbeiten.
„Ganz einfach, wir senden ein Signal wie ein Funksender. Das Signal ist auf spezielle Weise verschlüsselt, genau so, wie es im Auftrag steht", erklärte Takeo und begleitete seine Worte mit passenden Handbewegungen. „Nachdem wir den Empfänger gefunden haben, was wir bereits erledigt haben, kommt der schwierige Teil. Diese Art der Kommunikation ist eine der sichersten und gleichzeitig unsichersten. Solange wir den Empfänger suchen, kann jeder das Signal empfangen. Dann müssen wir die Empfänger aussortieren, falls sich mehrere angemeldet haben. Schließlich beginnen wir, das Signal gezielt an den gewünschten Empfänger zu senden. Das erfordert die Berechnung und Einstellung vieler Parameter. Das nennt sich Präzisionskommunikation. Verstanden?"
Mary war überrascht, dass sie dem Gespräch so gut folgen konnte, und nickte ihm zu. Diese Methode hatte viel Ähnlichkeit mit der alten Funktechnik, die sie kannte. Takeo schien sichtlich erfreut darüber zu sein, nachdem die letzten Lektionen mit ihm eher schwierig waren.
Plötzlich brannte Kalerias Blick auf ihr, und sie klapperte leicht mit den Kiefern. „Seid ihr jetzt fertig? Würde mich nicht wundern, schließlich habe ich meine Arbeit beendet."
Mary erwiderte ihren Blick nur mit einem entschuldigenden Lächeln, woraufhin Kaleria sich wieder abwandte. Zumindest hörte sie auf, mit den Kiefern zu klappern.
„Test. Ich wiederhole: Test", drang Kalerias Stimme erneut durch.
Mary dachte wieder an das AR-Visier und zog es auf, während Takeo mit einem Augenzwinkern einen Mülleimer zwischen ihre Beine platzierte. Sie schloss die Augen und öffnete sie langsam nach dem Aufsetzen des Visiers. Das Cockpit erstrahlte wie eine neue Welt vor ihr, mit Anzeigen, Steuerungselementen und anderen Anzeigetafeln, die in verschiedenen Farben leuchteten. Kaleria bediente dabei zwei kreisförmige Scheiben, während sie immer wieder das Wort "Test" wiederholte. Eine Hand berührte Marys Bein, und sie sah, dass es Takeo war.
„Ist es diesmal in Ordnung?", fragte er.
Mary verspürte immer noch kein Übelkeits- oder Schwindelgefühl, und ihr Kopfschmerz war in den Hintergrund gerückt. Dank der Kopfhörer hatte sie zum ersten Mal seit einiger Zeit nicht das ständige Brummen und Rauschen der Motoren in den Ohren. „Wunderbar, du weißt gar nicht, wie gut das tut."
Takeo schaute sie kurz verwirrt an, schien aber vor allem erleichtert darüber zu sein, eine positive Antwort von Mary zu bekommen.
„Test erfolgreich. Frequenz und Parameter stimmen. Hat ja lang genug gedauert." Mary hörte eine Stimme, die zu keiner der Personen an Bord passte. Sie klang weder dunkel noch hell.
Kaleria tippte auf den Anzeigen herum, bis die beiden Scheiben und andere Felder rot aufleuchteten. „Verstanden. Hier spricht Kommunikationsoffizierin Kaleria Atika."
Stille war die einzige Antwort, die kam. Mary genoss die ruhigen Sekunden, während Kaleria die Anzeigen entblockierte und wieder beginnen wollte, zu kalibrieren.
„Kaleria Zerkius! Du behinderte Weichplatte, was machst du hier! Kann dein Vater mich so wenig leiden, dass er mir dich schickt!?"
Takeo drehte sich mit großen Augen zu Mary um und formte das Wort „Zerkius" mit den Lippen. Marys Kopfschmerz hämmerte erneut in ihrem Schädel, als sie sich die flache Hand ins Gesicht schlug.
„Taktus! Ich hätte wissen sollen, dass nur so ein drittklassiger Agent wie du Rettung benötigt."
„Wenigstens darf ich kämpfen und muss nicht den Arsch von anderen Leuten lecken, damit ich mal einen Auftrag bekomme."
Mary war in diesem Moment unsicher, ob sie wirklich gerade hier saß. War sie vielleicht gerade auf dem Bett eingeschlafen? Das konnte doch keine Realität sein. Hatte sie nicht Kalerias Vater versichert, das Geheimnis zu bewahren? Aber stattdessen durfte sie miterleben, wie das Geheimnis nach dem zweiten Satz mit dem Agenten herauskam. Nur um danach in einen billigen Beleidigungswettbewerb zu münden.
Mary schnellte nach vorne, vorbei an Takeo, zu dessen Kontrollen. Reflexartig und zum Erstaunen von Takeo selbst, tippte sie auf den Anzeigen herum. Kaleria war nun mitten in ihrer Beleidigung stummgeschaltet worden und der Kanal in das Headset von Mary geschaltet worden.
„Sie wissen gar nicht, was Sie angerichtet haben. Wir sind hier, um...", wurde Mary von spöttischem Pfeifen unterbrochen.
„Wer hat denn jetzt das Sanitätspersonal ans Mikro gelassen? Darf ich jetzt mit jeder Frau an Bord reden, bevor ich mal zu jemandem mit Weisungsbefugnis durchgestellt werde."
Takeo schaute Mary erschrocken an, wobei er sein reflexartiges Lachen geschickt unterdrückte. Kaleria, die noch wütend wegen der Stummschaltung war, schaute Mary mit regelrecht brennend roten Augen an. Marys Wangen wurden warm, ihr Bauch wurde warm, ihre Haut wurde warm. Es war, als hätte sie all ihre Probleme und Kopfschmerzen in Wut verwandelt. Sie sprang auf, ergriff die Kopfstütze von Takeo und drückte ihre Finger hinein.
„Hört mir mal zu, du dreckiger kleiner Wurm. Hier spricht Frau Hauptmann Maria Erika Schneider von der U.E.N. Spearhead." Unbewusst stellte sich Mary vor, die Kopfstütze sei der Kopf des Antianers, den sie würgte. Ihre Stimme war wahrscheinlich im gesamten Schiff zu hören. „Wenn du noch einmal ein Wort gegen mich oder meine Crew sagst, werde ich dort unten landen, dich finden und dir eine Pistole in den Arsch schieben. Ich habe weder Lust noch Zeit, mich mit solchen Scheißkerlen wie dir herumzuschlagen. Also rück entweder mit dem Plan heraus oder halt die Fresse!"
Marys schwarze Strähnen hingen nun in ihrem Gesicht herum. Sie ließ den Griff der armen Kopfstütze los und ließ sich in den Sessel zurücksinken. Ihr ging es besser, egal wie beängstigend Takeo und Kaleria sie auf einmal ansahen. Mary war unsicher, ob es Angst in Kalerias Augen war oder Dankbarkeit.
„Es tut mir leid, ich werde Ihnen die Daten sofort schicken und für weitere Fragen offen stehen." Danach wurde die Verbindung unterbrochen und der Computer gab bekannt, dass der Upload der Daten begonnen hatte. Mary hätte schwören können, ein Art hohes Knurren im Hintergrund gehört zu haben. Es vergingen noch mehrere Minuten, bis die Wärme in ihrem Körper nachließ – Minuten, in denen sie die Stille genoss. Nachdem sie sich beruhigt hatte, ging es ihr gut, nein, sogar großartig. Kein Kopfschmerz, keine Übelkeit, stattdessen Energie. Auch wenn sie immer noch gerne eine Zigarette gehabt hätte. Mary nahm das Visier ab und warf es Takeo auf den Schoß.
„So kümmert man sich um solche Typen." Ein Lächeln blitzte auf, was vor allem Takeo beruhigte, der zuvor noch besorgt auf die Kopfstütze gestarrt hatte.
„Starke Leistung!" Takeo klang beeindruckt. „Aber ... warum Zerkius?" Takeo schaute abwechselnd zwischen Kaleria und Mary hin und her.
"Mary, ich kann es erklären..."
Mary legte erneut eine Hand auf Kalerias Schulter. „Erst holen wir diesen Kotzbrocken ab." Sie schaute Takeo mit ernstem Blick an. „Dann werden wir ein klärendes Gespräch führen. Und bis dahin wird das Thema nicht angesprochen. Verstanden?"
Takeo nickte, und Kaleria presste ihre Kiefer einmal zusammen.
„Gut, ruf Liotok nach oben. Schauen wir uns den Plan an, mehr Augen, mehr Meinungen."
Takeo salutierte lässig mit zwei Fingern und wandte sich wieder den Anzeigen zu. Mary und Kaleria erhoben sich und begaben sich zum großen Holoprojektor im Kommandokontrollzentrum. Als sie das Cockpit verlassen hatten, hörte Mary ein leises „Danke" in ihren Ohren.
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2091: Die Cryosoldatin
Science FictionMaria 'Mary' Schneider, eine hochdekorierte Soldatin, aus der Vergangenheit, muss sich nicht nur neuen Herausforderungen stellen, sondern auch einem neuen Leben. Das Jahr 1979, Kommandosoldaten einer geheimen Eingreiftruppe der UN werden von weitrei...